Loe raamatut: «MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág», lehekülg 6

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LUKAS HASELBÖCK

»… le tout petit macabre«

Ligeti-Spuren in der Musik György Kurtágs

Einleitung1

György Kurtág und György Ligeti: Ist von Neuer Musik die Rede, werden diese beiden Namen häufig in einem Atemzug genannt. Dies kommt nicht von ungefähr: Bereits 1945, als die beiden die Aufnahmeprüfung an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest ablegten, entstand eine – auch durch ähnliche kulturelle Vorerfahrungen2 bedingte – enge Freundschaft, die bis zu Ligetis Tod (2006) andauerte. Auch über diesen Einschnitt hinaus wirkt Kurtágs Auseinandersetzung mit Ligetis Œuvre bis heute weiter. Dies gibt Anlass, die Beziehung in persönlich-biografischer, aber vor allem auch in künstlerischer Hinsicht zu reflektieren: Ist der spezifische Werdegang Kurtágs und Ligetis zum Teil durch Anregungen geprägt, die sie vom jeweils anderen empfingen?

Zunächst scheint es, als ob die Beziehung in künstlerischer Hinsicht einseitig gewesen sei. Auf den um drei Jahre jüngeren Kurtág übte Ligetis Persönlichkeit von Beginn an eine tiefe Faszination aus. Kurtág konzedierte, er habe sogar sein Privatleben nach dem Vorbild Ligetis gestaltet, und sprach von einem »Imitatio Christi-Syndrom«3. Umgekehrt gibt es meines Wissens nach keine Aussagen Ligetis zu einem Einfluss Kurtágs auf sein Œuvre, und auch in Ligetis Werken sind mir keinerlei Kurtág-Zitate, -Hommagen oder auch nur versteckte Anspielungen aufgefallen. Der Fokus der vorliegenden Analysen ist daher ausschließlich auf Ligeti-Spuren in Kurtágs Musik gerichtet.

Aus all dem sollten aber keine vorschnellen Schlüsse gezogen werden, war doch die Beziehung Ligeti/Kurtág nicht einseitig, sondern von wechselseitigem Respekt geprägt. Dies legen die folgenden Beobachtungen nahe: Zum einen erwies Ligeti Kurtág seine Referenz, indem er dessen Schaffen zeit seines Lebens in Analysen, Texten und Interviews kommentierte. Zum anderen sollte man Kurtágs Rede von der »Imitatio Christi« nicht bloß als Zeichen der Unterwürfigkeit verstehen: Hinter dieser Aussage verbirgt sich eine gehörige Portion Humor.4 Zugleich ist sie ernst gemeint, und zwar in einem spezifischen Sinne: Denn jenes Prinzip der Nachahmung, das Kurtágs Musik durchdringt, ist nicht nur auf Ligeti, sondern auf Tradition im Allgemeinen gerichtet. Die Hommage- und Message-Komposition ist ein untrennbarer Bestandteil seiner Ästhetik. Ligeti greift zwar ebenfalls auf historische Referenzen zurück, treibt dabei aber Verwirrspiele – er neigt dazu, Bezüge zu verschleiern und Spuren zu verwischen.5 Im Gegensatz dazu legt Kurtág seine Modelle häufig in Stück- und Satztiteln bzw. Partiturhinweisen offen.6 Dabei bezieht er sich auf Komponisten der europäischen Musiktradition vom Mittelalter bis heute: Er schreibt Hommagen an Ligeti, Machaut, Obrecht, Bach, Schumann, Debussy, Janáček, Boulez, Stockhausen, Holliger, Eötvös und viele andere. Diese intensive Verflechtung mit Geschichtlichem trägt zu jenem eigenständigen kompositorischen Profil bei, das er im Lauf der Jahre entwickelte.

Unter all den modellhaften Prägungen, die Kurtágs Entwicklung beeinflussten, war Ligetis Musik also nur eine von vielen. Zugleich kam ihr aber doch eine spezifische Ausnahmestellung zu, die sich wesentlich auch durch Ereignisse im Jahr 1958 erklären lässt. Zur Vorgeschichte: Nach der Zerschlagung des Aufstands gegen das Sowjetregime im Oktober/November 1956 war Ligeti nach Wien geflüchtet und nach Köln weitergezogen, wo er von Gottfried Michael Koenig und Karlheinz Stockhausen Anregungen empfing. Kurtág musste zunächst in Budapest bleiben, erhielt danach aber ein Visum für einen Frankreich-Aufenthalt (1957–58) und studierte dort bei Milhaud und Messiaen. Diese Lebensphase beschrieb er als Jahre der Krise und Selbstfindung. 1958 folgte ein Schlüsselerlebnis: Ligeti, der Kurtág 1957 in Paris besucht hatte, lud diesen ein, nach Köln zu kommen. Dort studierten sie die Partitur von Stockhausens Gruppen für drei Orchester (1955–57) und hörten die Bandaufnahme dieses Werks.7 Neben der gestischen Qualität dieser Musik war es auch ihre raumorientierte Konzeption, die Kurtág interessierte.8 Am folgenreichsten war aber wohl die Begegnung mit Ligetis neuer elektronischer Komposition Artikulation (1958) – eine Faszination, die lange weiterwirken sollte. Von der »Dichte der Ereignisse«, der »Direktheit der Aussage« und dem »raffinierten Gleichgewicht zwischen Humor und Tragödie«, die er in diesem Werk fand, war Kurtág begeistert.9 Laut eigener Aussage folgte er ab diesem Zeitpunkt dem Ideal, etwas diesem Erlebnis Vergleichbares zu schaffen.10 Zu den Modellwerken Ligetis, an denen er sich dabei orientierte, zählte er in der Folge auch Atmosphères11 (1961) für großes Orchester sowie das Mimodram Aventures (1962) für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, zu welchem Artikulation als Vorstudie gedient hatte. Ausgehend vom Schlüsselerlebnis 1958, lassen sich in Kurtágs Musik zwei Entwicklungslinien verfolgen, anhand derer sich einerseits der Einfluss Ligetis, andererseits aber vor allem dessen Transformation zu etwas Individuellem, von Ligeti Losgelöstem nachvollziehen lässt. Sie können wie folgt näher definiert werden:

1) Raum / Klang: Diese Auseinandersetzung setzt erst relativ spät ein (in den 1980er Jahren).

2) Sprache: Dieser Begriff zielt nicht nur auf die Text-Musik-Beziehung, sondern auch auf die inhärente Musiksprachlichkeit, also die musikalische Syntax ab. Dieser Entwicklungsstrang ist bereits ab 1959 aktuell.

Um die beiden Entwicklungslinien analytisch zu fassen, werden im Folgenden Ausschnitte aus Werken Kurtágs analysiert, in denen er sich explizit auf Ligeti bezieht. Gemeint sind nicht Ligeti-Zitate im engeren Sinn12, sondern Ligeti-Hommagen, die in Werk- oder Satztiteln, Partitur- oder Skizzenanmerkungen offen als solche deklariert sind.13 Zuvor seien – als erste Orientierungshilfe – jene konkreten Spuren, die die Beziehung Kurtág/Ligeti in Kompositionen, Texten und Festreden beider Komponisten hinterlassen hat, in einer provisorischen Liste14 zusammengefasst.


Werk / Text / FestredeJahrBezug
Kurtág, 24 Antiphonae op. 10 (Orch., unvollendet, nicht ediert)1970–71Widmung an Ligeti
Kurtág, A kis czáva op. 15b, 3. Satz (Scherzo)(Picc, Pos, Git)1978Ligeti, Aventures (1962)Vermerk in den Skizzen
Ligeti, Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapestvgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 2); urspr. in: Friedrich Spangemacher (Hrsg.), György Kurtág, Bonn 1986, S. 14–171985
Kurtág, … quasi una fantasia … op. 27/1,1. Satz: Introduzione (Kl, Instr)1988–89Ligeti, Klavierkonzert (1985–88),2. Satz (Lento e deserto)
Kurtág, Festredevgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 90–102;vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 155–661993Verleihung des Siemens-Preises an Ligeti im Cuvilliés-Theater München
Ligeti, Analyse Introduzionevgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 15);ungar. Original in: Muzsika 39/2 (1996), S. 9–111995Kurtág, … quasi una fantasia …op. 27/1 (1988–89), Introduzione
Kurtág, Hälfte des Lebens für drei Baritone(aus: Hölderlin-Gesänge op. 35a, Buch II) bisher unveröffentlicht; work in progress1995Widmung an Ligeti; möglicher Bezug: Ligeti, Drei Phantasien nach Hölderlin für Chor a cappella (1982)
Kurtág, »… le tout petit macabre – Ligetinek«, aus: pas à pas – nulle part op. 36 (Bar, Str, Perc)1993–97Ligeti-Bezug im Titel; Anspielung auf Ligetis Le grand macabre (1974–77, rev. 1996–97)
Kurtág, Ligatura to Ligeti (Kl), aus: Játékok 71997Ligeti-Bezug im Titel; Bezug auf die Klangflächen in Atmosphères (1961)
Kurtág, Hälfte des Lebens für Bariton soloVersion 1: noch einmal für György LigetiVersion 2: und wieder einmal für György Ligeti (aus: Hölderlin-Gesänge op. 35a, Buch II) bisher unveröffentlicht; work in progress1999Widmung an Ligeti; möglicher Bezug: Ligeti, Drei Phantasien nach Hölderlin für Chor a cappella (1982)
Ligeti, Laudatio György Kurtág vgl. Gesammelte Schriften, Bd. 1 (Anm. 32)2000Aufnahme György Kurtágs in den Orden Pour le mérite
Kurtág, Hipartita op. 43 (Vl solo), 1. Satz2000–04Vermerk »Hommage à Ligeti« in der Partitur; Bezug auf: Ligeti, Horntrio (1982), 4. Satz
Kurtág, Kylwyria – Kálvária (Gedächtnisrede)vgl. Varga, György Kurtág (Anm. 3), S. 103–106vgl. Kurtág, Entretiens (Anm. 12), S. 167–782007Veranstaltung zu Ehren verstorbener Träger des Ordre pour la mérite

I Raum / Klang

… quasi una fantasia … für Klavier und Instrumentengruppen op. 27/1 (1988–89)

Der 1. Satz (Introduzione) dieses Werks ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Das Material, mit dem Kurtág arbeitet, ist auf äußerste Einfachheit reduziert. Im Klavier erklingen Skalenfragmente, die ab Ende von T. 3 in einen changierenden Klangteppich von piatti sospesi, Schellen und Gongs eingebettet werden. In T. 9 (dem letzten Takt) setzen zusätzlich der tiefe Gong und das Tamtam ein. Während diese Klänge verhallen, entstehen ppppp-Klangverschiebungen im hohen Register, die von Mundharmonikas15 gespielt werden. Resultat ist ein Klangprozess, der durch eine kontinuierliche Tendenz zur Aufhellung16 gekennzeichnet ist. Dies wird auch in der Zentroidwertanalyse ersichtlich (Notenbeispiel 1).

Im Blick auf Ligetis Klavierkonzert, das kurz davor entstanden ist (1985–88), wird deutlich, dass sich das Ende des 2. Satzes (Lento e deserto, T. 21–24) modellhaft auf T. 9 der Introduzione beziehen lässt. Auch diese Passage ist durch verhallende Klänge im tiefen Register bestimmt, in die sich höhere Mundharmonika-Klänge mischen. Das Ergebnis ist auch hier eine kontinuierliche Erhöhung der Klanghelligkeit (Notenbeispiel 2).


Notenbeispiel 1: György Kurtag, … quasi una fantasia … op. 27/1 (1988–89) für Klavier und Instrumentengruppen, 1. Satz (Introduzione), T. 9, vereinfacht dargestellter Partiturausschnitt inkl. Zentroidwertanalyse. Aufnahme: Asko-Ensemble, Reinbert de Leeuw (Dirigent), Tamara Stefanovich (Klavier), 2017

Die enge Analogie der beiden Passagen ist offensichtlich: Sie umfasst den Einsatz des Mundharmonika-Klangs an formal analoger Stelle (Schluss eines langsamen Satzes) und den Prozess der Klangaufhellung (hohe und zarte Klänge verschmelzen mit nachhallenden tiefen Klängen). Zudem werden die Bewegungsrichtung der Mundharmonika-Akkordfolge (Ligeti: absteigend) sowie die Reihenfolge der Grundtöne der letzten beiden Akkorde (Ligeti: Des → C) umgekehrt (Kurtág: aufsteigend; C → Des). Die Beziehung ›C-Dur‹ / ›Des-Dur‹17 ist zwar verschleiert (bei Kurtág durch den verminderten Dreiklang c – es – ges und bei Ligeti durch die Klarinetten-, Horn- und Posaunenstimmen), aber dennoch deutlich hörbar (Notenbeispiel 3 zeigt die Übereinstimmungen im Vergleich).


Notenbeispiel 2: György Ligeti, Konzert für Klavier und Orchester (1985–88), 2. Satz (Lento e deserto), T. 21–24, vereinfacht dargestellter Partiturausschnitt inkl. Zentroidwertanalyse. Aufnahme: Ensemble Inter Contemporain, Pierre Boulez (Dirigent), Pierre-Laurent Aimard (Klavier), 1994


Notenbeispiel 3: Vergleichende Gegenüberstellung (Tonhöhen): György Kurtág, … quasi una fantasia …, 1. Satz, T. 9 (oben)/György Ligeti, Klavierkonzert, 2. Satz, T. 21–24 (unten)

Auch Ligeti hat sich ausführlich zu der Klangtransformation in T. 9 geäußert:

»Zu Beginn des letzten Takts verdunkelt sich der Klang durch die Gongs und das Tamtam. Diese Verdunkelung bedeutet zugleich auch eine Erweiterung, eine Ausbuchtung des Resonanzraums. [Coda: die vier (sic!) Mundharmonikas]: Gleichzeitig mit dem letzten Klavierton (dis) erklingt auch der nähere tiefe Gong, und in diesem Moment setzen die Mundharmonikas ein, mit Phasenverschiebung, als ob sie ihren Klang wechselseitig verwischen wollten.«18

Vor dem erörterten Hintergrund kann man diese Zeilen durchaus als eine Art (Re-)Hommage an Kurtág lesen. (Obwohl Ligeti sein Klavierkonzert hier mit keinem Wort erwähnt, kann ihm die Analogie zu Kurtágs Introduzione nicht entgangen sein.)

Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Beide Komponisten teilen ein gemeinsames Interesse für die Relation Klang/Raum, und die erörterte Analogie ließe zunächst darauf schließen, dass ihre Konzeptionen diesbezüglich übereinstimmen. Dies ist jedoch nicht der Fall: Bei Ligeti setzt die Auseinandersetzung mit klanglichen Transformationsprozessen und dem »innermusikalische[n], durch die Musik evozierte[n] imaginäre[n] Raum«19 bereits früh ein: einerseits in Werken wie Atmosphères (1961) und im Klavierkonzert20 (1985–88), andererseits in Vorträgen und analytischen Texten.21 Auch in der Analyse von quasi una fantasia hat dies Spuren hinterlassen: Die im Raum verteilten Schlagwerkklänge deutet Ligeti dort als virtuellen Resonanzraum des Klaviers. Dabei beschreibt er Abdunkelungs- und Aufhellungsprozesse. Er analysiert die Introduzione somit ›durch die Brille des eigenen Schaffens‹.

Das Raum- und Klangdenken Kurtágs umfasst jedoch einige Facetten, die Ligeti in seiner Analyse nicht oder nur am Rande anspricht. Zwar zeigte Kurtág ebenfalls Interesse für die Idee der Klangkontinuität. In einem kurzen Text über die Játékok stellte er fest, dass er diesbezüglich an Ligeti anknüpfe.22 Als Beispiel ließe sich die Ligatura to Ligeti (1997) für Klavier aus Bd. 7 der Játékok anführen. Das Stück setzt mit Quartkonstellationen ein, die – auch aufgrund chromatischer Stimmführungsbewegungen – zunächst an Schönbergs Orchesterstück op. 16/3 erinnern, sich aber dann kontinuierlich zu Clustern und Klangflächen verdichten.

In Bezug auf das Verhältnis Klang/Raum in größer angelegten Werken wie … quasi una fantasia … ist aber ein weiterer Hinweis entscheidend: Durch die Einbeziehung des Raumes habe er »zu einem ganz anderen Denken und Empfinden für die entsprechenden, ein neues Maß gebenden Dimensionen der musikalischen Form«23 gefunden. Im Gegensatz zu Ligeti, der bereits seit mehreren Jahrzehnten Großformen konzipiert hatte, in denen Klang und (imaginärer) Raum auf spezifische Weise koordiniert wurden, galt Kurtág in den 1970er Jahren immer noch als Meister der knappen, verdichteten Form. Auch größere Formgebilde sind als Gruppierung von Einzelminiaturen angelegt. Darin erkannte Kurtág ein Defizit, das er durch neue (Raum-)Perspektiven zu lösen versuchte. Das Problem liegt in der Syntax begründet: Wie können musikalische Gesten, Bruchstücke und Elemente zu Großformen zusammenwachsen, die eine innere Konsistenz und Schlüssigkeit aufweisen? Diese Frage beantwortete Kurtág in … quasi una fantasia … sowie in Grabstein für Stephan op. 15c (1978–79, revidierte Fassung 1989) für Gitarre und im Raum verteilte Instrumentengruppen. Hier eröffnen imaginäre und – im Unterschied zu Ligeti – reale Raumwirkungen »die Möglichkeit, Wiederholungen dadurch zu motivieren, dass die Antwort von ›woanders‹ herkommt«.24 Diese Neugestaltung der Syntax mündet in eine andere Entwicklungslinie: die Auseinandersetzung mit musikalischer Sprache.

II Sprache

1961 hielt Theodor W. Adorno einen Vortrag mit dem Titel »Vers une musique informelle«25, in dem er über den Verlust der Sprachähnlichkeit in der Neuen Musik reflektierte. Bereits in der Dodekafonie sei die »Tuchfühlung des Benachbarten« durchschnitten und das zusammenhangbildende Prinzip einer strukturellen Instanz überantwortet worden. Einer solchen Musik, die der »Allgemeinheit heteronomer musikalischer Gesetze« folge, setzte Adorno das Idealbild einer ›musique informelle‹ entgegen: »Für Musik wäre das organische Ideal nichts anderes als das antimechanische; der konkrete Prozeß einer werdenden Einheit von Ganzem und Teil, nicht ihre bloße Subsumtion unter den abstrakten Oberbegriff und danach die Juxtaposition der Teile.«26 Kurz gesagt geht es darum, das Ganze der Form aus seinen Bestandteilen heraus neu zu denken. Durch das Erschließen neuer Wege abseits überkommener Rhetorik und blutleerer Abstraktion soll Musik wieder zur Sprache gebracht werden. Etwa zur gleichen Zeit schrieb Ligeti Werke, die diesem Ideal nahekamen: Atmosphères (1961), ein viel beachtetes Orchesterwerk, welches das nachhaltige Interesse Adornos und Kurtágs weckte, und die Aventures (1962) für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, in denen phonetische Elemente in eine neue syntaktische Ordnung gebracht werden.

Für Kurtág war die Aufgabe, der Sprachähnlichkeit27 von Musik aufs Neue nachzuspüren, ebenfalls eine zentrale Herausforderung. In mancher Hinsicht knüpfte er dabei an die Aventures an, fand aber letztlich seinen persönlichen Weg. Dies soll anhand zweier Ligeti-Hommagen analytisch nachvollzogen werden: anhand des 3. Satzes (Scherzo, Vivacissimo) aus A kis csáva (Die kleine Klemme) op. 15b (1978) für Piccoloflöte, Posaune und Gitarre sowie der Vokalminiatur »… le tout petit macabre – Ligetinek« aus dem groß angelegten Beckett-Zyklus … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk.

II.1 Geste / Vielbezüglichkeit

A kis csáva, Scherzo

Am Anfang des Ringens um Sprachähnlichkeit steht bei Kurtág häufig das Bemühen, gestische Grundelemente zu definieren. Eben dies erörtert Michael Kunkel in seiner Analyse des Scherzos aus A kis csáva: Kurtág entwirft affektive Einheiten »im konkreten Sinne: Aus den Skizzen geht hervor, daß Kurtág in seinen Notaten bestimmte Klangvorstellungen festhält.«28 Sind diese plastischen Einzelgesten geschaffen, werden sie im Ablauf des Stücks durch Zäsuren voneinander getrennt: Der Komponist lässt sie gleichsam einfrieren bzw. »erstarren«29 – eine quasi-theatralische Intensität, die eine szenische Bildfolge imaginieren lässt.30 Die Herausforderung besteht nun darin, die Einzelgesten zu einem im weitesten Sinne sprachähnlichen Ganzen zu formen. Dabei bezieht sich Kurtág auf Ligeti: Ähnlich wie in den NouvellesAventures (1962–65) entsteht ein »parataktisch disponiertes Gebilde, eine gleichsam zerbrochene Form« dadurch, dass parallele Abläufe schichtenartig überlagert und »zunehmend ineinander verschlungen«31 werden. Im Lauf der Zeit wurden diese Verfahren von Kurtág beständig weiterentwickelt.

Im Kleinen – also in Bezug auf Miniaturen und Einzelsätze – gelingt es Kurtág auf diese Weise, aus »zerklüfteten Bruchstücken (…) Formgebilde zu bauen«.32 Es bleibt jedoch das Problem der Großform. Ligetis Hinweis auf »Monumentalformen, in denen die scheinbar zerbröckelten Bestandteile emotional und musiksprachlich eng verknüpft sind«33, sollte nicht zur Annahme verleiten, Kurtágs Formdenken sei im Großen durch übergreifende, stringente Geschlossenheit bestimmt. Trotz ihrer enormen Vielbezüglichkeit und Dichte sind Kurtágs zyklische Kompositionen auch durch »Heterogenität und Offenheit«34 sowie eine spezifische Zentripetalkraft35 gekennzeichnet. Er denkt nicht von der Form, sondern vom Einzelnen aus.36 Ligetis und Kurtágs großformale Strategien weisen somit Divergenzen auf, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Wie im Folgenden deutlich wird, lohnt es sich aber auch, der Geschlossenheit im Kleinen nachzugehen, die aus der Vielbezüglichkeit sprachähnlicher Gesten resultiert.

»… le tout petit macabre – Ligetinek«

In … pas à pas – nulle part … op. 36 setzt sich Kurtág mit Texten Becketts auseinander, die ihn bereits seit 1957 fasziniert hatten.37 Unter den vielen kurzen Einzelsätzen findet sich u. a. auch eine Ligeti-Hommage, deren Titel vielsagend ist: »… le tout petit macabre – Ligetinek« (der Untertitel lautet: »… imagine …«). Die Analyse dieser Miniatur fördert eine immense Beziehungsfülle zutage. Hier wird einsichtig, dass es Kurtág durch extreme Verdichtung38 und Vielbezüglichkeit gelingt, dem Zerfall in Einzelgesten entgegenzuwirken. Die komplexen Beziehungen, die dieses zweiteilige Stück bis ins kleinste Detail prägen, werden im Folgenden anhand unterschiedlicher Aspekte erläutert: Rhythmus/Artikulation, Stimmklang, Instrumentalklang, Intervallik/Gestus, Chromatische Linienzüge, Reihenanalyse und Tonhöhenvarianten. Auf konkrete Bezüge und Gemeinsamkeiten zu Ligeti wird dann in II.2 (»Humor«) eingegangen.


Notenbeispiel 4/ 1: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 1, Analyse)

Zu Abschnitt 1 (Notenbeispiel 4/1): Von Beginn an fällt auf, dass Kurtág – dies ist für seine Vokalmusik charakteristisch39 – die Einheit von Sprachklang und Sprachbedeutung bewahrt. So wird z. B. der staccato-Gestus »si ceci« (Phrase I/2) in Phrase I/4 (»ceci«) aufgegriffen (Notenbeispiel 4/1, »Rhythmus/Artikulation«). Zur weiteren Verdeutlichung dienen der sotto-voce-Klang der Stimme (vgl. »Stimmklang«) und das pp-Spiel des Schlagwerks (vgl. »Instr.-Klang«). Ein weiterer sprachlicher Bezug findet sich zwischen den Phrasen I/3 und I/5 (»un jour«; »un beau jour«). Im Gegensatz zu I/2 und I/4 geht es Kurtág jedoch hier darum, die Phrase I/5 vom Vorherigen abzusetzen. Dies wird anhand der folgenden Aspekte einsichtig: Erstens fällt die Phrase I/5 aus dem Metrum – im Gegensatz zu den anderen Phrasen, die rhythmisch ausnotiert sind (vgl. »Rhythmus/Artikulation«). Zweitens kontrastiert die Vortragsanweisung dolce, esagerato (vgl. »Stimmklang«) deutlich zum bisherigen Verlauf. Drittens wird I/5 erstmals von einem arco-Streichinstrument gefärbt (vgl. »Instr.-Klang«: Vla arco, ord., dolce). Viertens wird der anfängliche Abwärtsgestus in I/5 umgekehrt (vgl. »Intervallik/Gestus«; dies könnte man allerdings nicht nur als Kontrast, sondern auch als unmittelbaren Bezug verstehen). Und fünftens bricht in I/5 der schlüssige chromatische Linienzug ab (vgl. »Chromatische Linienzüge«): Das dis (Ton 11) kann nur in den Linienzug integriert werden, wenn es eine Oktave höher gelegt wird, und der letzte Ton (gis) fällt aus dem Rahmen. Dies macht insofern Sinn, als (sechstens, vgl. »Reihenanalyse«) das gis als überschüssiger (13.) Reihenton aus der Reihe fällt. Dieser Ton eröffnet deshalb nicht eine neue Reihe, weil gleich darauf der zweite Abschnitt mit einer deutlich erkennbaren Variante des Beginns einsetzt.

In Abschnitt 2 (Notenbeispiel 4/2) werden die Bezüge noch weiter verdichtet. Analog zu Abschnitt 1 beziehen sich die Phrasen II/2 und II/3 (»un jour«; »un beau jour«) textlich aufeinander. »Un beau jour« (II/3) ist allerdings wiederum vom Vorigen abgesetzt, und zwar durch ähnliche Mittel wie in Abschnitt 1: erstens durch die Fermaten (»Rhythmus/Artikulation«), zweitens durch die ironische Vortragsanweisung troppo dolce (»Stimmklang«), drittens durch die Violoncello-Färbung (»Instr.-Klang«: arco, ord., dolce) sowie viertens durch den Abbruch des Linienzugs (»Chromatische Linienzüge«: beim gis) und Reihenverlaufs (vgl. »Reihenanalyse«: beim 9. Ton).

Die Phrasen I/5 und II/3 haben also einige Gemeinsamkeiten: Neben dem Text »un beau jour« ist es auch eine gewisse Zäsur- und Kontrastfunktion, die sie miteinander verbindet. Dieser gestische und strukturelle Schnitt ermöglicht das Sammeln neuer Kräfte. Im Folgenden wird deutlich, dass die damit freiwerdenden Energien auf die letzte Phrase (II/6) hin gebündelt werden. Im dichten Beziehungsgeflecht kommt dieser Geste in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Erstens bezieht sie sich in Rhythmus und Sprache auf I/1 und II/1. Zweitens greift sie den in der Luft hängengebliebenen Spitzenton von II/3 (gis′) wieder auf (vgl. »Chromatische Linienzüge«). Drittens gibt es enge Tonhöhenbezüge zu II/2 und II/3 (und dadurch zu I/2,3 und I/5; »Tonhöhen-Varianten«). Und viertens werden mit dieser letzten Geste der Satztitel (»… imagine …«) und alle damit verbundenen Assoziationen in Erinnerung gerufen.


Notenbeispiel 4/ 2: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 2, Analyse)

Aus anderer Perspektive wird II/6 aber zu einem überraschenden Neuansatz: In der Stimme ist erstmals die Dynamik f, cresc. vorgeschrieben. Der Zickzack-Gestus von II/1 wird in sein Gegenteil verkehrt. Ferner folgt ein abrupter Ausbruch des Schlagwerks, das bis dahin unauffällig den Vokalpart gefärbt hatte. Die letzte Geste II/6 ist also einerseits in die Stimmigkeit des Beziehungsgeflechts eingebunden, sprengt aber andererseits zugleich die strukturell und klanglich definierten Maßstäbe. Dies zeigt, wie es Kurtág gelingt, singuläre profilierte Gesten herauszuarbeiten und diese durch extreme strukturelle Verdichtung über sich selbst und schlussendlich auch über die Grenzen der Miniaturformen hinausweisen zu lassen.

II.2 Humor40

In Ligetis Artikulation hatte Kurtág Qualitäten gefunden, die er als wesentlich für seine weitere Entwicklung erkannte: die Dichte der Ereignisse, die Direktheit der Aussage und das raffinierte Gleichgewicht zwischen Humor und Tragödie.41 Kurtágs Hang zum Beckett’schen Galgenhumor lässt sich also zum Teil auch von Ligeti herleiten. Einige verborgene, aber doch aufschlussreiche Hinweise dazu finden sich auch in »… le tout petit macabre – Ligetinek«. Der Titel dieser Miniatur bezieht sich auf Le grand macabre, ein vielfältig schillerndes Werk, in dem Ligeti zu einer unverwechselbaren Verschmelzung von Humor und Tragödie gefunden hat:

»At last I had found a play about the end of the world, a bizarre, demoniacal, cruel, and also very comic piece, to which I wanted to give an additional dimension, that of ambiguity … one never knows whether he (Nekrotzar) really represents death or whether he is simply a charlatan. So Le grand macabre is an opera about death conceived as a farce.«42

In »… le tout petit macabre« sind einige versteckte Anspielungen auf Le grand macabre und die Aventures enthalten. Zum einen könnte das Hinzufügen des 13. Reihentons am Ende des ersten Abschnitts als subtilen Verweis auf die dritte Szene von Le grand macabre verstanden werden. Konkret geht es um jenen bedeutenden Handlungsmoment, als Nekrotzar, die eben erwähnte vielschichtige Figur, beim Palast eintrifft. Der Zusammenhang ließe einen unheilvollen Ausbruch in Art eines ›Dies Irae‹ erwarten. Diese Erwartungshaltung wird jedoch auf ironische Weise unterminiert: Es folgt ein Zitat aus Beethovens Eroica, aber ausgerechnet eines, das den heroischen Gestus des Werks überhaupt nicht wiederzugeben vermag: das Passacaglia-Thema (folgerichtig setzt auch bei Ligeti eine Passacaglia ein). Der Rhythmus ist deutlich erkennbar, verbindet sich allerdings mit einer Zwölftonreihe. Da das Passacaglia-Thema aber aus 13 Tönen besteht, entsteht eine Phasenverschiebung, die den weiteren Verlauf bestimmt.43 In »… le tout petit macabre« nimmt Kurtág also nicht nur auf Ligetis spezifischen Humor, sondern auch auf ein strukturelles Detail Bezug, das in Le grand macabre im Zusammenhang mit der Farce des Todes steht. Eine gewisse gestische Ähnlichkeit der Reihenverläufe bei Kurtág und Ligeti ist ebenfalls nicht zu übersehen (Notenbeispiel 5: dem Ton B kommt dabei auch insofern Bedeutung zu, als er in der Zwölftonreihe keinen Platz findet – er verdoppelt den kurz zuvor erklungenen Ton ais. Das ist möglicherweise der Grund für die Sprechgesang-Notation des B: ähnlich wie das gis, der 13. Reihenton, fällt auch dieser Ton ›aus der Reihe‹). Die Verknüpfung struktureller und semantischer Bezüge macht deutlich, dass auch Kurtágs Strategien des Humors im Zusammenhang mit der erörterten Sprachähnlichkeit stehen.44


Notenbeispiel 5: Vergleich der Zwölftonreihe aus György Ligeti, Le Grand Macabre, 3. Szene mit der Eröffnungsphrase aus György Kurtág, … le tout petit macabre – Ligetinek

In »… le tout petit macabre« kommt auch dem Wechsel der Stimmfärbung ein zentraler Stellenwert zu (mezza voce, sotto voce, dolce, etc). Diese Wechsel sind derart häufig, abrupt und kurzatmig, dass sie unweigerlich komisch wirken. Insgesamt entsteht die Färbung des Vokalparts aber auch durch colla parte mitgeführte Instrumente. Mit solchen Verfremdungstechniken45 spielt Kurtág auf Ligetis Aventures an, in denen dieser eine ähnliche Strategie verfolgte:

»Ich wollte die Instrumente einsetzen, ein bißchen in dem Sinn, daß die phonetische Komposition, die in den Sängern stattfindet, durch die klangfarblichen Möglichkeiten der Instrumente moduliert, etwas verändert, auch bereichert wird. Es gibt keinen selbständigen Instrumentalpart. Die Instrumente sind hier wirklich den Sängern untergeordnet.«46

Diese Unterordnung findet sich auch in »… le tout petit macabre« – besonders radikal im Violinpart, der sich ausschließlich auf kurze Geräuschimpulse beschränkt. Dies ist ebenso witzig wie die Eruption des Schlagwerks, welche die anfängliche Zurückhaltung mit einem plötzlichen Gewaltausbruch beendet.

Rhetorische Figuren47

Eine weitere Eigenschaft von Kurtágs Humor, die an Ligeti erinnert, ist die Tendenz zur Übertreibung und Überzeichnung rhetorischer Figuren. Kurtág setzt dabei insbesondere die folgenden Figuren ein.

a) aposiopesis

Versucht man, die Zäsuren und Pausen in Kurtágs Musik vor dem Hintergrund der Tradition der Musikalischen Rhetorik zu deuten, lässt sich die rhetorische Figur der aposiopesis ins Spiel bringen: In manchen Bach-Kantaten symbolisiert ein plötzliches und unvermutetes Schweigen das Vergängliche: den Tod. Die Zersplitterung in Einzelgesten, die sich in »… le tout petit macabre« findet, könnte man zunächst ähnlich verstehen: als Unfähigkeit zur Artikulation, die immer wieder vom Schweigen bedroht ist. Durch die Omnipräsenz dieses Gestus und die starre Mechanik des Ablaufs wird der existenzielle Ernst aber humorvoll verfremdet. Eben diese clowneske Doppelbödigkeit fand Kurtág bei Beckett48: Es handelt sich um jenen Galgenhumor, der aus der Stille kommt.

b) saltus duriusculus

Eine weitere rhetorische Figur, auf die sich Kurtág indirekt bezieht, ist diejenige des expressiven Sprungs – in der Tradition der musikalischen Rhetorik bezeichnete man sie als saltus duriusculus. Schon im Barock und in der Klassik standen weite Intervallsprünge für einen spezifischen Ausdrucksgehalt. Man denke etwa an die Arie der Pamina aus Mozarts Zauberflöte: Hier bedeutet ein immenser Sprung in die Tiefe die Unausweichlichkeit von Tod und Verzweiflung (»so wird Ruh im Tode sein«). Bei Webern werden solche Gesten mit zusätzlicher Expressivität aufgeladen. Bei Kurtág schließlich gehen manche Intervallsprünge über den ›normalen‹ Stimmambitus so weit hinaus, dass sie nicht mehr expressiv, sondern übertrieben grotesk wirken. Auf diese Weise wird übersteigerte Expressivität offen als komisch entblößt. Dies wird immer wieder auch durch Vortragsanweisungen wie »troppo dolce« (»… le tout petit macabre«, Phrase II/3) verdeutlicht.