Loe raamatut: «Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern (E-Book)», lehekülg 2

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2.3 Professionsorientierte Perspektive

Im Folgenden wird eine qualitative Studie aus dem Bereich der Lehrerinnen- und Lehrerbildung vorgestellt, die verdeutlichen soll, dass der persönliche Zugang von Studierenden zu gesellschaftsrelevanten Inhalten kritisch-reflexiv im Hochschulstudium Berücksichtigung finden sollte.

Die Studie wurde mit zwölf Probandinnen im Kontext schulisch-fachdidaktischer Professionsforschung durchgeführt (Albers, 2014). Es wurde das professionelle Wissen von Sachunterrichtslehrerinnen zum Inhalt «Erwerbslosigkeit» erhoben. In diesem Kontext ging es um ihr fachliches Wissen, ihr Wissen über Schülerinnen- und Schülervoraussetzungen und Umsetzungsmöglichkeiten des Inhalts auf der Primarstufe sowie um die Bedeutung, die die Probandinnen dem Inhalt im gesellschaftlichen Kontext – insbesondere in der Schule – beimaßen.

Erwerbslosigkeit stand zum Zeitpunkt der Erhebung unter dem Begriff «Arbeitslosigkeit» in den curricularen Vorgaben von knapp der Hälfte der Bundesländer in Deutschland für den Sachunterricht[3] – auch in dem Bundesland, in dem die Erhebung stattfand. Die Studienergebnisse sollten nun Hinweise für die Entwicklung von Bausteinen zur Aufbereitung des Inhalts «Erwerbslosigkeit» in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung ermöglichen.

Der im Folgenden skizzierte kleine Ausschnitt aus der Studie wurde in Hinblick auf seine Bedeutsamkeit für die Begründung personenbezogener Arbeit ausgewählt.

Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt «Erwerbslosigkeit» ging bei fünf Probandinnen in den leitfadengestützten Einzelinterviews mit dem Äußern von sprachlichen Diskriminierungen einher (Albers, 2014, S. 110 ff.). Sie verwiesen auf eine soziale Kategorie – Erwerbslose und ihre Familien – und bewerteten diese negativ. So wurde zum Beispiel erwerbslosen Eltern vorgeworfen, sie würden ihre durch die Erwerbslosigkeit gewonnene Zeit nicht für die Kinderbetreuung nutzen (a. a. O., S. 112).

Diese negativen Zuschreibungen könnten bei den Probandinnen einer der Gründe für das insgesamt erhobene wenig differenzierte und häufig oberflächliche fachwissenschaftliche und fachdidaktische Wissen zum Inhalt «Erwerbslosigkeit» sein. Im Hochschulstudium wäre eine kritische Reflexion von entsprechenden Diskriminierungen sowie des eigenen (auch perspektivisch-beruflich gesehenen) sozioökonomischen Hintergrunds sinnvoll (a. a. O., S. 124 ff.). Personenbezogene Arbeit könnte damit bei Studierenden einen reflexiven Zugang zu gesellschaftlichen Inhalten wie Erwerbslosigkeit fördern. Der entsprechende Inhalt könnte so für die Studierenden Bedeutung erlangen – eine notwendige Voraussetzung für eine intensive persönliche Auseinandersetzung mit berufsspezifischen Inhalten im Hochschulstudium.

Der Schwerpunkt würde, aus dieser professionsorientierten Perspektive heraus argumentierend, auf einer Themen- und Berufsreflexion liegen (Neuß, 2006, S. 148 ff.). Es wäre sinnvoll, daran anschließend eine selbstreflexive psychoanalytisch orientierte Perspektive auf die bisherige personenbezogene Arbeit zum Inhalt «Erwerbslosigkeit» einzunehmen, damit zum Beispiel Diskriminierungen auch in ihrer Bedeutung als Abwehrmechanismen bearbeitbar werden könnten.

3 Schlussfolgerungen

Das in diesem Artikel dargelegte Verständnis von personenbezogener Arbeit ist untrennbar mit Reflexivität verbunden. Entsprechend basieren auch alle drei vorgestellten Begründungsperspektiven für personenbezogene Arbeit – bildungstheoretisch, psychoanalytisch und professionsorientiert – auf einem metakognitiven, kritisch-reflexiven Zugang zu sich selbst. Personenbezogene Arbeit ist in erster Linie auf den sich für die Person ergebenden subjektiven Wert der eigenen Bildung ausgelegt. Bildung steht an Hochschulen allerdings im Kontext der von den Studierenden intendierten Entwicklung berufsspezifischer Expertise.

«Damit wird eine Unterscheidung von Berufsausbildung und Persönlichkeitsbildung unmöglich. Die Persönlichkeit und ihre Bildung werden mindestens teilweise Bestandteil der pädagogischen Professionalität.» (Nieke, 2017, S. 138)

Eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit Arbeitsumfeld und Arbeitsaufgaben sowie mit konkreten Situationen und Fällen im beruflichen Kontext stellt eine entscheidende Aufgabe in «sozialen Berufen» dar (Dauber, 2006; Dewe, 2013 u. a.). Hochschulen stellen einen geeigneten Ort zur Förderung von Reflexivität dar: «[D]er Einstieg in die Habitualisierung von Reflexivität lernt sich unter den Bedingungen der Hochschule leichter als unter dem Handlungsdruck des Alltags» (Tenorth, 2006, S. 591).

Personenbezogene Arbeit wird als eine notwendige Bedingung für eine vielschichtig-umfassende und langfristig für die Person tragende und vertiefende theoretische und praxisorientierte Auseinandersetzung mit berufsspezifischen Inhalten an Hochschulen gehalten. Die durch die Bologna-Reform angestoßenen hochschulpolitischen Entwicklungen in den letzten Jahren sind vermutlich ein gewichtiger Grund, warum personenbezogene Arbeit an Hochschulen dennoch weiterhin wenig populär zu sein scheint. Die Reform ging häufig mit einer Orientierung an Kompetenzformulierungen im Sinne von Standardisierungen und Outputorientierungen einher, die wiederum ein Korsett bilden, dem sich ein kritisch-reflexiver, ergebnisoffener Prozess entzieht. Personenbezogene Arbeit und Kompetenzorientierung scheinen häufig als «zwei verschiedene Erzählweisen» (Fischer, 2016, S. 15) ausgelegt zu werden:

«Die eine handelt davon, wie Entwicklung einmündet in einen bereitgestellten objektiven Bestand an Werkzeugen, die zur kulturellen Teilhabe befähigen. Die andere bleibt nahe am Individuum, um die Entfaltung der in ihm angelegten Möglichkeiten und ihr Zusammenspiel in einer eigenen beseelten Form zu beleuchten.» (A. a. O., S. 15)

Im Sinne eines divergent-selbstorganisativ ausgelegten Kompetenzverständnisses – wenn Kompetenzerwerb also als kreativer Prozess mit unterschiedlichen Problemlösungsstrategien aufgefasst wird (Erpenbeck & von Rosenstiel, 2007, S. XIX; XXXVI) – ginge es darum, personenbezogene Arbeit und Kompetenzorientierung gemeinsam zu denken.

Um personenbezogene Arbeit an Hochschulen zu etablieren, bedürfte es häufig eines «Sich-in-Bewegung-Setzens» im Sinne von Entwicklungsprozessen, und zwar in mindestens zweifacher Hinsicht:

– Zum einen organisatorisch durch eine Hinwendung zur Person als Bezugssystem im Hochschulstudium. Personenbezogene Arbeit stellt eine Querschnittsaufgabe im Hochschulstudium dar, die auf einer Makroebene in jedem Studiengang, auf einer Mesoebene in jedem Modul und Seminar und auf einer Mikroebene in jeder Seminarsitzung mitgedacht werden und Berücksichtigung finden sollte.

«Die zur Verfügung stehende Zeit nimmt dabei einen ebenso entscheidenden Faktor ein wie die Organisation der (intersubjektiven) Interaktion: Erleichtert wird der Einbezug reflexiver Positionierungen, wenn sich möglichst heterogene Gruppen verständigen.» (Müller, 2018b, S. 119)

– Zum anderen intrapersonell durch das Sich-Einlassen auf «innere» (kognitiv-emotionale) Prozesse aufseiten der Studierenden und der Lehrenden. Doch

«Reflexion lässt sich nicht verordnen. Die Eigenständigkeit der je Einzelnen sowie aller, die sich auch in dem Vermittlungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft findet, steht dem entgegen.» (Müller, 2018c, S. 181)

Reflexivität bedarf als spezifischer Zugang zu sich selbst nicht nur der Übung, sondern geht auch mit Unsicherheit einher, fordert sie doch von den Beteiligten, sich als Personen einzubringen, damit auch unangenehme Gefühle und Bedürfnisse zu offenbaren und anderen gegenüber verletzlich zu erscheinen. Deshalb geht es bei der Anbahnung personenbezogener Arbeit gegebenenfalls zunächst darum, eine etwaige wahrnehmbare Ablehnung des Sich-drauf-Einlassens als widerständiges Moment mit den Studierenden zu thematisieren. Für personenbezogene Arbeit bedarf es einer vertrauensvollen Rahmung mit empathisch und sensibel handelnden Lehrenden, die die Anliegen der Studierenden ernst nehmen und einen ebensolchen Umgang zur Bedingung für die gemeinsame Interaktion machen. Für die Studierenden kommt dem Lehrenden in seiner Zugewandtheit als «Container» (Bion, 1992 [1962], S. 146) Bedeutung zu. Das heißt, dass sie einen Teil ihres Selbst – unangenehme Gefühle – auf die lehrende Person projizieren. Als «contained» (ebd.) Objekt kommt ihr die Aufgabe zu, diese Projektionen zu «tragen», damit verantwortungsvoll umzugehen und sie «verdaubar» für die Studierenden zu machen. Sie können später von den Studierenden wieder – ertragbar – reintrojiziert werden.

In diesem Beitrag wird personenbezogene Arbeit im Sinne der Erweiterung des Denk-, Urteils- und Handlungsraumes der Studierenden gesehen. Die intendierte Autonomie für die jeweilige Person geht allerdings mit der Annahme von Defiziten beim bisherigen Reflexionsvermögen der Studierenden einher sowie mit dem aufoktroyierten «Zwang», sich im Hochschulstudium personenbezogener Arbeit zu unterziehen. Es wird der «Doppelcharakter von Subjektivität» (Müller, 2018a) deutlich. Personenbezogene Arbeit bewegt sich im unauflöslichen Spannungsfeld von Förderung und instrumentellen Einbezügen. Diese Dialektik gilt es auszuhalten (siehe dazu auch Abschnitt 2.1), das heißt:

«Es geht nicht um den alleinigen Bezug auf die eine oder die andere Seite, sondern um eine entscheidende Differenzierung, die Chancen und Probleme für die Erweiterung und die Einschränkung von Subjektivität[4] auf beiden Seiten verortet.» (A. a. O., S. 103)

Personenbezogene Arbeit ist eine anspruchsvolle und dabei ebenso wichtige wie gewichtige Aufgabe im Hochschulstudium.

Literatur

Albers, Stine: Das Thema «Erwerbslosigkeit» in der Lehrer-/innenbildung für den Sachunterricht an der Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2014.

Albers, Stine: «Alter Wein in neuen Schläuchen»: Wie viel Bildung steckt im Sachunterricht? In: Pädagogische Rundschau. 71(1), 2017, S. 61–78.

Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. 8. Aufl. München: Piper, 2013 [Erstauflage 1965].

Bayer, Manfred; Carle, Ursula; Wildt, Johannes: Editorial. In: Bayer, Manfred; Carle, Ursula; Wildt, Johannes (Hrsg.): Brennpunkt Lehrerbildung. Strukturwandel und Innovationen im europäischen Kontext (Schriften der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft). Opladen: Leske + Budrich, 1997, S. 7–15.

Bion, Wilfried R.: Lernen durch Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992 [Originalausgabe: «Learning from Experience». 1962].

Dauber, Heinrich: Selbstreflexion im Zentrum pädagogischer Praxis. In: Dauber, Heinrich; Zwiebel, Ralf (Hrsg.): Professionelle Selbstreflexion aus pädagogischer und psychoanalytischer Sicht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2006, S. 11–39.

Dewe, Bernd: Reflexive Sozialarbeit im Spannungsfeld von evidenzbasierter Praxis und demokratischer Rationalität – Plädoyer für die handlungslogische Entfaltung reflexiver Professionalität. In: Becker-Lenz, Roland; Busse, Stefan; Ehlert, Gudrun; Müller-Hermann, Silke (Hrsg.): Professionalität in der Sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven. 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS, 2013, S. 95–116.

Erpenbeck, John; Rosenstiel, Lutz von: Vorbemerkung zur 2. Auflage. In: dies. (Hrsg.): Handbuch Kompetenzmessung. Erkennen, verstehen und bewerten von Kompetenzen in der betrieblichen, pädagogischen und psychologischen Praxis. 2. Aufl. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 2007, S. XI–XLVI.

Fend, Helmut: Die sozialen und individuellen Funktionen von Bildungssystemen: Enkulturation, Qualifikation, Allokation und Integration. In: Mertens, Gerhard; Frost, Ursula; Böhm, Winfried; Ladenthin, Volker (Hrsg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft, Bd. II. Paderborn: Schöningh, 2009, S. 43–55.

Fischer, Hans-Joachim: Die Persönlichkeit und ihre Kompetenzentwicklung im Spiegel unterschiedlicher Erzählweisen. In: Giest, Hartmut; Goll, Thomas; Hartinger, Andreas (Hrsg.): Sachunterricht – zwischen Kompetenzorientierung, Persönlichkeitsentwicklung, Lebenswelt und Fachbezug (Probleme und Perspektiven des Sachunterrichts, Bd. 26). Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2016, S. 13–20.

Helsper, Werner: Lehrerprofessionalität – der strukturtheoretische Professionsansatz zum Lehrberuf. In: Terhart, Ewald; Bennewitz, Hedda; Rothland, Martin (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster: Waxmann, 2011, S. 149–170.

Jacobson, Edith: Das Selbst und die Welt der Objekte. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998 [Originalausgabe: «The Self and the Object World». New York: International Universities Press, 1964].

Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 6. Aufl. Weinheim: Beltz, 2007.

Kunze, Axel B.: Freiheit im Denken und Handeln. Eine pädagogisch-ethische und sozialethische Grundlegung des Rechts auf Bildung (Forum Bildungsethik, 10). Bielefeld: Bertelsmann, 2012.

Leuzinger-Bohleber, Marianne: Lernen am Einzelfall. Eine Chance zur Professionalisierung und Identitätsentwicklung. In: Garlichs, Ariane (Hrsg.): Schüler verstehen lernen. Das Kasseler Schülerhilfeprojekt im Rahmen einer reformorientierten Lehrerausbildung. Donauwörth: Auer, 2000, S. 159–181.

Ludwig-Körner, Christiane: Selbst, Selbstgefühl. In: Mertens, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe. 4. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer, 2014, S. 853–859.

Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.

Müller, Stefan: Der Doppelcharakter von Subjektivität. Fachdidaktische Prinzipien zwischen Förderung und Untergrabung von Subjektivität im sozialwissenschaftlichen Unterricht. In: zdg – Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. 9(2), 2018a, S. 87–107.

Müller, Stefan: Rechthaberei und Reflexion. Sozialwissenschaftliche Modelle und Möglichkeiten von Kritik. In: zdg – Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. 9(1), 2018b, S. 113–131.

Müller, Stefan: Reflexivität als Bezugsproblem der Lehrerbildung. In: Böhme, Jeanette; Cramer, Colin; Bressler, Christoph (Hrsg.): Erziehungswissenschaft und Lehrerbildung im Widerstreit!? Verhältnisbestimmungen, Herausforderungen und Perspektiven. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2018c, S. 173–185.

Neuß, Norbert: Biographische Lernerfahrungen von Lehramtsstudierenden: Bestandteil des professionellen Lehrerwissens. In: Fröhlich, Volker; Göppel, Rolf (Hrsg.): Bildung als Reflexion über die Lebenszeit. Gießen: Psychosozial, 2006, S. 135–154.

Nieke, Wolfgang: Lehrersein als Handwerk, Beruf oder Profession – Die Relevanz der reflexiven Persönlichkeitsbildung. In: Hübner, Edwin; Weiss, Leonhard (Hrsg.): Personalität in Schule und Lehrerbildung. Perspektiven in Zeiten der Ökonomisierung und Digitalisierung. Opladen: Barbara Budrich, 2017, S. 119–141.

Pervin, Lawrence A.; Cervone, Daniel; John, Oliver P.: Persönlichkeitstheorien. 5. Aufl. München: Reinhardt, 2005.

Schlömerkemper, Jörg: Pädagogische Prozesse in antinomischer Deutung. Begriffliche Klärungen und Entwürfe für Lernen und Lehren. Weinheim: Beltz Juventa, 2017.

Spiegel, Leo A.: Selbst, Selbst-Gefühl und Wahrnehmung. In: Psyche. 15(3), 1961, S. 211–236.

Tenorth, Heinz-Elmar: Professionalität im Lehrerberuf. Ratlosigkeit der Theorie, gelingende Praxis. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 9(4), 2006, S. 580–597.

Winkel, Rainer: Am Anfang war die Hure. Theorie und Praxis der Bildung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2005.

Judith Studer

Didaktische Prinzipien zur Gestaltung einer Lernumgebung mit dem Ziel der Förderung berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen
Abstract

Der folgende Beitrag zeigt, wie es auf Hochschulebene gelingen kann, Studierende für die professionelle Bewältigung sozialer und selbstbezogener Herausforderungen des Berufsalltags fit zu machen und gleichzeitig ihre je eigene Persönlichkeit zu berücksichtigen. Im Zentrum der Ausführungen stehen didaktische Prinzipien, welche die lehrmethodische Ausgestaltung einer Lernumgebung anleiten können, mit dem Ziel, die Entwicklung berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen zu fördern. Basis bildet ein umfassendes Forschungsprojekt der Autorin am Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule.

Die Forschungstätigkeit rund um das Thema Kompetenzen hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Adressiert werden dabei vorwiegend Fragen zur Feststellung und Messung von Kompetenzen. Weit weniger bearbeitet wurde die Frage, wie auf Hochschulebene Handlungskompetenzen – im Besonderen Selbst- und Sozialkompetenzen – didaktisch gefördert werden können. Es fehlt weitgehend an erprobten Konzepten, an denen sich Curriculumsentwicklerinnen und -entwickler und Hochschullehrpersonen orientieren können. Der nachfolgende Beitrag versucht, Hilfestellung zu bieten, und benennt theoretisch und empirisch gestützte didaktische Prinzipien, die die lehrmethodische Ausgestaltung einer Lernumgebung zur Förderung der Entwicklung berufsrelevanter Selbst- und Sozialkompetenzen anleiten können. Sie sind das Resultat umfassender Evaluationstätigkeit der Autorin im Rahmen ihrer Dissertation (Studer, 2019).

Bevor die Gestaltungsprinzipien dargestellt werden, soll zum einen zunächst geklärt werden, was in diesem Artikel unter berufsrelevanten Selbst- und Sozialkompetenzen verstanden wird; zum anderen erfolgt ein kurzer Einblick in theoretische Ansätze zur Kompetenzförderung, die den Ausgangspunkt der im Anschluss beschriebenen didaktischen Gestaltungsprinzipien bildeten.

1 Begriffliche Fassung von Selbst- und Sozialkompetenzen

Selbst- und Sozialkompetenzen bilden Bestandteile beruflicher Handlungskompetenzen, die im deutschsprachigen pädagogischen Bereich mit «innere[n] Potenziale[n] beziehungsweise Dispositionen für ein stabiles, regelmäßiges Handeln in bestimmten Situationstypen» (Euler & Hahn, 2014, S. 83) gleichgesetzt werden.[1] Als innere Dispositionen sind Kompetenzen nicht Handlungsergebnis, sondern Handlungsvoraussetzung. Innere Dispositionen und damit Kompetenzen sind entweder bereits gegeben, oder sie lassen sich über Lernprozesse entwickeln (a. a. O., S. 82).

Als mehrdimensionale Konstrukte sind Selbst- und Sozialkompetenzen in den Dimensionen «Erkennen» (Wissen), «Werten» (Einstellungen) und «Können» (Fertigkeiten) differenzier- und präzisierbar:

«In der Dimension des Erkennens stehen kognitive Handlungsschwerpunkte im Vordergrund. Es existiert Wissen über […] die Beziehung zu anderen Menschen oder die eigene Person. Das Wissen wiederum kann unterschiedliche Ausprägungen haben, wie Verstehen oder Analysieren.

In der Dimension des Wertens wird eine bestimmte Einstellung beziehungsweise affektiv-bewertende Haltung […] in der Beziehung zu anderen Menschen oder gegenüber Facetten der eigenen Person eingenommen. Diese Gegenstände des Wertens werden beispielsweise unter moralischen, ästhetischen oder Nützlichkeitskriterien als eher wertvoll oder wertlos beurteilt. Die Einstellungen können ebenfalls unterschiedliche Ausprägungen besitzen [wie sich interessieren, zuwenden, tolerieren, zulassen usw.; Anm. der Autorin] […].

In der Dimension des Könnens ist in erster Linie das handhabend-gestaltende Wirken angesprochen. Der Handelnde will […] die Beziehung zu anderen Menschen oder Facetten der eigenen Person neu konstruieren, verändern oder auf eine andere Weise bearbeiten. [Es geht beispielsweise darum, mit Hilfe spezifischer Techniken und/oder Prinzipien eine Beziehung zu einem anderen Menschen zu gestalten, Arbeitsprozesse effizient umzusetzen, Gespräche konstruktiv zu führen oder Aspekte der eigenen Person zu verändern; Anm. der Autorin.]

Die Unterscheidung zwischen Erkennen/Wissen und Können/Fertigkeiten ist in Grenzfällen schwer zu ziehen. […] Pointiert formuliert lässt sich Können auch als Fertigkeit zur Anwendung von Wissen bezeichnen.» (A. a. O., S. 142 f.)

Die Palette an Ansätzen, die sich in der Literatur zur inhaltlichen Festlegung von Selbst- und Sozialkompetenzen finden lassen, ist groß. In diesem Beitrag wird auf das Begriffsverständnis der Gruppe um Dieter Euler zurückgegriffen. Diese Autorinnen und Autoren verstehen

Selbstkompetenz als die Fähigkeit, die eigenen bisher erworbenen Kompetenzen, die eigenen physischen und psychischen Dispositionen und Zustände sowie das eigene Selbstkonzept weiterzuentwickeln (a. a. O., S. 284 f.);

Sozialkompetenz «als Disposition zur zielgerichteten Kommunikation mit anderen Menschen über sachliche, soziale oder persönliche Themen in spezifischen Typen von Situationen» (a. a. O., S. 237).

Zur Festlegung der berufsrelevanten Selbst- und Sozialkompetenzen, die in einem Ausbildungsgang adressiert und erworben werden sollen, gilt es, diese eher abstrakten Definitionen für das Berufsfeld inhaltlich zu präzisieren. Referenzpunkt sind hierbei die Anforderungen und Herausforderungen, die aktuell im beruflichen Handlungsfeld zu meistern sind. Zu berücksichtigen sind bei der inhaltlichen Präzisierung aber auch gesellschaftliche Trends, die möglicherweise Folgen für die Ausgestaltung des Berufsfelds haben könnten. Schließlich beeinflussen normensetzende Dokumente von Fachverbänden, wie beispielsweise für die Ausbildungsinstitutionen vorgegebene Kompetenzprofile, sowie das institutionseigene Bildungsverständnis den Entscheid, welche Kompetenzen als Abgangskompetenzen eines Ausbildungsgangs konkret festgelegt und damit von den Studierenden im Verlaufe ihres Studiums entwickelt werden sollen (Studer, 2019, S. 28).

Eine Übersicht über auf diese Weise abgeleitete berufsrelevante Selbst- und Sozialkompetenzen für das Handlungsfeld «Soziale Arbeit» findet sich bei Studer (a. a. O., S. 29 ff.).