Loe raamatut: «Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern (E-Book)», lehekülg 5

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Auch die Biotechnologien bringen heute tief greifende Umwälzungen und bohrende Fragen mit sich. Die Gentechnik hat mit der CRISPR/Cas-Methode ein mächtiges, präzises und zugleich billiges Werkzeug bekommen, um Gene von Pflanzen, Tieren und Menschen zielgerichtet zu verändern. Den mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten stehen sehr grundlegende ethische Fragen gegenüber, die heute in breiten öffentlichen Debatten diskutiert werden (Cathomen & Puchta, 2018). Gefordert sind ethische und juristisch bindende Antworten auf nationaler, transnationaler und globaler Ebene. Aber zunehmend wird klar, dass ethische Verantwortung gerade auch von jedem Einzelnen wahrgenommen werden muss, der Umgang mit einer derartigen Technologie hat, die bestehende Vorstellungen des Lebens und insbesondere auch des menschlichen Lebens fundamental infrage stellt. Etwas Ähnliches gilt für eine Biotechnologie, die momentan noch nicht in diesem Maße im Fokus der Öffentlichkeit steht, die aber ähnliche Umwälzungen verspricht wie die Gentechnik: die Neurotechnologie. Mit immer präziseren Wegen zur Erfassung von Gehirnzuständen und Werkzeugen wie «Deep Brain Stimulation» und «Transcranial Magnetic Stimulation» verspricht heutige Neurotechnik, in nicht allzu ferner Zukunft die Gedanken und Gefühle des Menschen und sogar die innersten Schichten der menschlichen Persönlichkeit zielgerichtet technisch verändern zu können, und die ersten Erfolge scheinen den Prognosen recht zu geben (Giordano, 2012; Keiper, 2012). Hier werden, wie bei anderen Technologien auch, mannigfaltige Anwendungsmöglichkeiten geschaffen, die gleichzeitig immer auch militärische Anwendungen ermöglichen, was bei der ethischen Einschätzung zu berücksichtigen ist (DiEuliis & Giordano, 2017). Wie wird sich die Gesellschaft und auch das Bild des Menschen verändern, wenn selbst die innersten Aspekte des menschlichen Selbst in den Bereich technischer Veränderbarkeit rücken (Benedikter, Giordano & Fitzgerald, 2010)? Derartige Anwendungsfelder führen vor Augen, welch fundamentale philosophische Fragen heute aus unmittelbar praktischen Kontexten des technologischen Fortschritts erwachsen und wie dringlich sie dort nach fundierten ethischen Antworten verlangen.

Die skizzierten Entwicklungen der Technik zeigen,[9] inwiefern Philosophie gerade auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften eine wichtige Rolle spielen muss und dass ihre Wichtigkeit in Zukunft noch zunehmen wird. Die fundamentalen Umwälzungen durch moderne Technik werden alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens transformieren und auch vor grundlegenden Wertvorstellungen und Menschenbildern nicht Halt machen. Menschen werden gerade auch in praktischen Anwendungskontexten zunehmend reflektierte ethische Entscheidungen treffen müssen, und Hochschulausbildungen müssen sie gezielt darauf vorbereiten. Der naheliegende didaktische Weg liegt für Fachhochschulen in der expliziten Thematisierung der ethischen und philosophischen Fragen, die sich aus den aktuellen Anwendungen moderner Technik und der damit einhergehenden Lebensweisen ergeben, da dies die Relevanz und die Dringlichkeit von Philosophie unmittelbar vor Augen führt. So öffnen sich zugleich Wege zur Auseinandersetzung mit kulturellen Wertvorstellungen und dem modernen Menschenbild und damit auch Wege, um die komplexe Verflochtenheit des modernen Denkens mit seinen vormodernen, bis in die Antike zurückreichenden Wurzeln zu thematisieren (Kriza, 2018).

Ziel von Philosophie ist, bei Studierenden ein Bewusstsein für die relevanten Dimensionen des Menschseins in der komplexen Situation der Gegenwart zu eröffnen: Durch eine Schärfung des analytischen Denkens sollen Studierende die Fähigkeit entwickeln, sich die Dynamiken der modernen Welt differenziert vor Augen zu führen. Durch eine philosophische Diskussion von kulturellen Wertvorstellungen sollen sie in die Lage versetzt werden, eigene ethische Positionen zu beziehen und sie vor anderen zu begründen. Studierende sollen durch eine gezielte Förderung des selbstständigen und kritischen Denkens die Fähigkeit und den Mut zum Hinterfragen entwickeln. Ziel von Philosophie ist, Studierende darin zu unterstützen, sich die Ziele des eigenen beruflichen und persönlichen Lebens und auch die Reichweite und Konsequenzen des eigenen Handelns bewusst vor Augen zu führen und die aufgeworfenen Fragen auch zu Ende zu denken. All diese Kernziele von Philosophie sind auch für Fachhochschulen unmittelbar relevant.

Philosophie eröffnet zudem, nicht zuletzt an Hochschulen für angewandte Wissenschaften, wertvolle Räume der Interdisziplinarität: Die erwähnten ethischen und philosophischen Fragen, die sich gerade auch in konkreten Anwendungssituationen stellen, können nicht als Fachfragen einer bestimmten Disziplin, sondern nur aus einer fachübergreifenden Perspektive und nur mit Einbeziehung unterschiedlicher fachlicher Sichtweisen thematisiert werden. Dies bietet interessante Gelegenheiten, um Studierende und Lehrende unterschiedlicher Fachgebiete zusammenzubringen. Die Diskussion über die ethischen und philosophischen Fragen und die Suche nach Antworten vollzieht sich dann nicht als eine losgelöste didaktische Übung, sondern als Auseinandersetzung mit «echten» Themen, die auch im wirklichen Leben nach Lösungen verlangen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Philosophie in einem mehrfachen Sinne die Persönlichkeitsentwicklung von Studierenden fördert – gerade auch an Hochschulen für angewandte Wissenschaften: Sie unterstützt ihre Herausbildung zu reflektierten, selbstbestimmten Persönlichkeiten, die die Fähigkeit besitzen, sich mit anderen über die wichtigen Herausforderungen unserer Zeit zu verständigen, und die auch bereit sind, ethische Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Damit unterstützt Philosophie die Entfaltung der wertvolleren Potenziale von Studierenden, und in diesem Sinne trägt sie das, was auch aus modernen Perspektiven des Denkens als das genuin Menschliche interpretiert werden kann: das Streben eines jeden Menschen nach einer bewussten Entwicklung und Herausbildung der jeweils eigenen Persönlichkeit, im je eigenen Bemühen um ein gutes Leben.

Literatur

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René Rüegg

Kritisches Denken: Die Kunst, richtig statt das Richtige zu denken
Abstract

Für den Autor dieses Beitrags ist kritisches Denken eine der wichtigsten Persönlichkeitseigenschaften von Studierenden, die nicht nur von der Praxis und der Wissenschaft erwartet wird, sondern auch für eine demokratische Gesellschaft notwendig ist. Wenngleich der schillernde Begriff verbreitet in deutschsprachigen Bildungsinstitutionen auftaucht, wird selten erläutert, was damit genau gemeint ist. Um diese Lücke zu füllen, werden hier einige Deutungsansätze vorgelegt und neuere didaktische Lernformen auf ihren Nutzen für das kritische Denken im Hochschulstudium bewertet.

Professionelle in sozialen, pädagogischen, aber auch medizinischen Arbeitsfeldern haben eine Gemeinsamkeit: Sie müssen aufgrund von oft wenigen und unvollständigen Informationen einen Fall bewerten, Argumentationen und ethische Konflikte abwägen und letztendlich oft schwierige Entscheide fällen. Kritisches Denken, das sich in weiten Teilen mit dem wissenschaftlichen Denken und Handeln überschneidet, bietet rationale Antworten auf Fragen, in denen die Faktenlage schwer fassbar ist und die Argumente widersprüchlich sind.

Vertreterinnen und Vertreter des kritischen Denkens sind sich einig, dass kritisches Denken nicht theoretisch-abstrakt erworben werden kann, sondern viele Jahre der Reifung und des täglichen Trainings benötigt. Entsprechend kann mit dem Training nicht früh genug begonnen werden: «We need to teach children how to think rather than what to think» (Richardson, 2014).

In diesem Beitrag wird davon ausgegangen, dass kritisches Denken das vielleicht wichtigste Element der Persönlichkeitsentwicklung von Studierenden ist – und vielleicht der wichtigste Grundpfeiler einer professionellen Praxis. Im ersten Teil des Beitrags werden einige wichtige Aspekte des kritischen Denkens angesprochen. Im zweiten Teil werden häufig angewendete Lernsettings der Hochschullehre nach ihrem Potenzial für die Entwicklung des kritischen Denkens beurteilt. Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass weder das Warum noch das Wofür des kritischen Denkens an Hochschulen vollständig bearbeitet wird. Vielmehr versteht sich der Beitrag als Anstoß für eine öffentliche Diskussion über die Frage, weshalb das kritische Denken verstärkt Aufmerksamkeit benötigt und ob sich neuere didaktische Lernformen für die Entwicklung des kritischen Denkens eignen könnten.

1 Kritisches Denken – eine Schlüsselqualifikation?

Es braucht lediglich eine kleine Google-Recherche, um der weiten Verbreitung des Imperativs auf die Spur zu kommen: Kritisches Denken wird von Bildungsinstitutionen ab Maturitätsniveau und spätestens seit der Bologna-Reform auch von Studierenden eingefordert. Kritisches Denken ist trendy, gefragt, en vogue! Schülerinnen und Schüler von Schweizer Maturitätsschulen sollen zu selbstständigen, logischen, verantwortungsbewussten und kritischen Denkerinnen und Denkern werden. Auch die Schweizer Hochschulen haben den Begriff, der in den letzten Jahrzehnten vom angloamerikanischen Diskurs geprägt und geformt wurde (Kruse, 2010), verbreitet in ihre Lehrbemühungen aufgenommen. Die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH) hat 2012 eine «Critical Thinking»-Initiative lanciert, und landesweit ermutigen und fördern verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Studierenden zum kritischen Denken. Die Hochschulen scheinen damit nicht nur den akademischen Wert dieser überfachlichen Kompetenz zu erkennen, sondern auch ihren Nutzen für die Studienabgängerinnen und -abgänger respektive für die Unternehmen: «Kritisches Denken ist essenziell» für die beruflichen Herausforderungen in der Finanzwelt (Heidenreich, 2016). In der unternehmensnahen «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) schreibt Michael Schoenenberger (2018) gar: «Kritisches Denken und selbständiges Urteilen werden inskünftig eine Schlüsselqualifikation darstellen, ungleich bedeutsamer als die Fähigkeit zu programmieren.» Erkennen Studierende einen Mangel an Gefäßen, in denen sie sich in einen kritischen Diskurs begeben können, werden nicht selten Stimmen für mehr kritisches Denken laut: So fand beispielsweise am Departement Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule 2018 ein «Trauermarsch fürs kritische Denken» statt, wobei «fragwürdige Module» und «autoritäre Führung» bemängelt wurden.

Kritisches Denken gehört zweifelsohne zum Hochschulstudium – darüber sind sich im Grunde alle einig. Wo ein Mangel identifiziert wird, entstehen neue Module, Diskussionstische, Development Centers und interdisziplinäre Veranstaltungen, die dem Bedürfnis nach klarer Sicht im Dunst einer komplexer werdenden Welt nachkommen. Denn heutige Gefahren für Mensch und Natur sind komplex und können nicht mehr nur monowissenschaftlich verstanden und bearbeitet werden. «Versäulung» und «Gärtchendenken» von einzelnen Disziplinen müssen überwunden, ein Schutz für die Studierenden gegen Indoktrination, Fake News und Machtakkumulation muss aufgebaut werden. Autoritäten der eigenen Disziplin wie auch die zukünftige Berufsrolle dürfen und sollen hinterfragt werden. Fachwissen ist entsprechend nur so gut, soweit es als Puzzleteil für Lösungen komplexer Probleme verstanden wird.

2 Was ist kritisches Denken?

Kritisches Denken wird also von der Wissenschaft, von den Studierenden, von Maturitätsschulen wie auch vonseiten der Unternehmen gefordert. Nicht immer aber ist klar, ob die verschiedenen Interessengruppen der höheren Bildung von demselben sprechen. Vielmehr scheint der Begriff des kritischen Denkens eine Projektionsfläche für eine bunte Palette von Wünschen und Ansprüchen, die an Studierende gestellt werden, was womöglich auch zu einer «Überfrachtung des Begriffs» (Kruse, 2010, S. 45) geführt hat. Hochschulen tun also gut daran, sich ein klares Bild dessen zu machen, was sie unter kritischem Denken verstehen und welche (akademischen, beruflichen oder professionellen) Ziele mit kritischem Denken erreicht werden sollen. Erst dann nämlich ist es möglich, nicht nur die Kursgestaltung, sondern auch die Gestaltung des Curriculums an diesen Zielen auszurichten. Andernfalls, «wenn ein Curriculum kritisches Denken nicht als explizites Ziel ins Auge fasst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu einem inkohärenten Flickenteppich an Lehrinhalten und -veranstaltungen gerät, auch wenn die Verfasser des Curriculums glauben, es vermittle zusammenhängendes Wissen» (a. a. O., S. 67).

Bevor im Folgenden verschiedene Unterrichtsformen hinsichtlich ihres Potenzials, kritisches Denken anzuregen, kritisch bewertet werden (Kapitel 4), sollen fünf verschiedene Aspekte von kritischem Denken skizziert werden. Kritisches Denken ist – so wird es von verschiedenen Fachleuten beschrieben – nicht einfach ein Set von Kompetenzen, die sich durch Fleiß und Wissen erwerben lassen, es geht vielmehr um metakognitive Fähigkeiten, die sich durch verschiedene Aspekte persönlicher und sozialer Reife entwickeln. Die in den folgenden Abschnitten dargestellten Aspekte kritischen Denkens erfassen weder alle Elemente, noch können sie in der geforderten Kürze vollständig beschrieben werden. Je nach Fachrichtung, Problemstellung oder Denkniveau kann kritisches Denken unterschiedliche Färbungen annehmen.