Loe raamatut: «Persönlichkeitsentwicklung in Hochschulausbildungen fördern (E-Book)», lehekülg 6

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2.1 Eine Fähigkeit

Die vielleicht naheliegendste Konzeption von kritischem Denken verwendet die Begriffe Fähigkeit, Kompetenz, skill oder ability. So hält das schweizerische Maturitäts-Anerkennungsreglement MAR (EDK, 1995) in Artikel 5 als Ziel fest, die «Fähigkeit zum selbständigen Urteilen zu fördern». Ebenfalls im Zusammenhang mit Bildung beschreiben Duron et al. (2006) das kritische Denken als die

«ability to analyze and evaluate information. Critical thinkers raise vital questions and problems, formulate them clearly, gather and assess relevant information, use abstract ideas, think open-mindedly, and communicate effectively with others.»

In diesem Zitat wird deutlich, dass kritisches Denken durchaus mit Wissen und Kompetenzen zu tun hat. Um zentrale Fragen und Probleme erkennen zu können, braucht es eine Wissensgrundlage im entsprechenden Feld. Fehlende Informationen müssen gesammelt und bewertet werden. Aber auch Vorurteilsfreiheit, abstraktes Denken und Kommunikationsfertigkeiten werden als Fähigkeiten beschrieben, die es zu erlernen gilt. Bei manchen Autorinnen und Autoren kommen zwei weitere wichtige Fähigkeiten hinzu, nämlich das Vermeiden von logischen Fehlschlüssen und die Kenntnis von statistischen Wahrscheinlichkeiten. Denn auf der Suche nach Kohärenz und Sinnhaftigkeit lässt sich das menschliche Gehirn nicht selten von vermeintlichen Zusammenhängen irreführen, die im Grunde das Ergebnis zufälliger Koinzidenz sind (Halpern, 2014, S. 346).

2.2 Eine Haltung

Viele Expertinnen und Experten betonen, dass kritisches Denken mehr ist als das adäquate Lösen von fachlichen oder überfachlichen Problemen. Kritisches Denken könne ohne einen fruchtbaren und regelmäßig bewässerten Boden nicht über einen kümmerlichen Spross hinauswachsen. Zumindest höhere Stufen kritischen Denkens benötigen eine Geistes- oder Lebenshaltung, die sich vom Streben nach persönlichen Vorteilen löst und sich vollständig vernünftiger Argumentation und gültigen Belegen verpflichtet (Paul & Elder, 2003). Diese Geisteshaltung kommt deutlich in den sieben Prinzipien für eine Ethik des kritischen Denkens von Sears und Parsons (1991) zum Ausdruck:

«Critical thinking requires the attitude that knowledge is not fixed but always subject to re-examination and change […] the attitude that there is no question which cannot, or should not, be asked […] an awareness of, and an empathy for, alternative world views […] a tolerance for ambiguity […] an appreciation for alternative ways of knowing […] a skeptical attitude towards text […] [and] a sense of the complexity of human issues.» (A. a. O., S. 55–65)

In diesem Zitat wird deutlich, dass sich kritisches Denken auch nicht im wissenschaftlichen Denken erschöpft. Die wissenschaftliche Methode nämlich reduziere ein Problem auf den empirisch-analytischen Prozess und ignoriere «nichtrationale» und vielschichtige Aspekte, wie die Menschen zur Welt stehen (a. a. O., S. 62). Alternative Erfahrungen – zum Beispiel der Studierenden – müssen respektiert werden und können für die kritische Diskussion von großem Nutzen sein. Denn nur dann könne erkannt werden, «dass manche absurde oder gefährliche Idee ein Korn Wahrheit enthält, während selbst unbestrittene Haltungen unserer Sozialgruppe fehlerhaft oder verzerrt sein können» (Paul & Elder, 2003, S. 16). Nur wer sich aufrichtig für die Welt der kleineren und größeren Abgründe, Widersprüche und Irrationalitäten interessiert, kann sie im Diskurs benennen und adäquat darauf eingehen.

2.3 Eine Ethik

Wenngleich die Haltungsfrage bei Sears und Parsons (1991) schon ein zentrales Element kritischen Denkens ausmacht, gehen die Autoren noch einen Schritt weiter. Sie bemängeln, dass gerade in sozialwissenschaftlichen Ausbildungsgängen eine Kluft zwischen Wissenschaft und Lehre bestehe. Während Forschende und Theoretiker sehr wohl ihr kritisches Denken schulten und entwickelten, hätten sich die Lehrenden mehr und mehr auf die Vermittlung von Inhalten fokussiert. Wenngleich Lehrende in ihrer Ausbildung sehr wohl in ihrem kritischen Denken geschult würden, würden viele von ihnen – kaum stünden sie vor einer Klasse – dem einfacheren und sichereren Weg der traditionellen Wissensvermittlung verfallen. Der Hauptgrund für diesen Effekt sei, dass die Lehrenden das kritische Denken nicht als ethische Verantwortung ihrer Arbeit mit Studierenden verinnerlicht und verkörperlicht hätten. «In other words, those of us committed to critical thinking as an ethic need do embody this ethic in our own dealings with students» (a. a. O., S. 55).

Die einer solchen Ethik vorausgehenden Prinzipien wurden schon im vorangehenden Abschnitt zitiert; die folgenden fünf Eigenschaften geben einen Eindruck davon, wie sich diese strenge Ethik in konkreten Denk- und Verhaltensweisen von (Lehr-)Personen äußern kann:

«They deeply question their own views. They reconstruct empathically the strongest versions of viewpoints and perspectives opposed to their own. They reason dialectically (multilogically) in such a way as to determine when their own point of view is at its weakest and when an opposing point of view is at its strongest. They change their thinking when the evidence requires it, without regard to their own selfish or vested interests. They do not place their own rights and needs above the rights and needs of others.» (Paul & Elder, 2013, S. 23)

2.4 Eine Metapher

Vielleicht lässt sich das, was eine kritische Denkerin oder einen kritischen Denker ausmacht, gar nicht so gut beschreiben, sondern viel einfacher mit einer Metapher erfassen. Browne und Keeley unterscheiden in «Asking the right questions. A guide to critical thinking» zwei verschiedene Denkweisen: den Schwamm-Stil und den Goldwasch-Stil (Browne & Keeley, 2015). Der Schwamm-Stil des Denkens erinnert an die Art und Weise, wie ein Schwamm auf Wasser reagiert: Er absorbiert es. Dieser Denkstil dient der Wissensakquise. Der Goldwasch-Stil hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass die Denkerin oder der Denker selbst entscheidet, welche Inhalte absorbiert und welche ignoriert werden. Dieser Ansatz betont die aktive Interaktion mit Wissen in Form einer kontinuierlichen Bewertung neuer Information. So müssen kritisch Denkende immerfort unterscheiden, welches Wissen beziehungsweise welche Argumente die Goldstücke und welches die grauen Steine im Rauschen des Flusses sind.

Browne und Keeley (2015) sehen die beiden Denkstile nicht als Gegenspieler, sondern vielmehr als sich ergänzend. Der Goldwasch-Stil scheint allerdings in dem Sinne anspruchsvoller, als das, was im Sieb vorgefunden wird, nach geeigneten Kriterien evaluiert werden muss. Dieser Bewertungsprozess ist, wie bei Browne und Keeley deutlich wird, anstrengend und fehleranfällig: Schlussfolgerung und Begründung müssen getrennt werden, Vorannahmen erkannt, Denkfehler vermieden, die Datenbasis kritisch hinterfragt, rivalisierende Ursachen erörtert und alternative Schlussfolgerungen ausgebreitet werden.

2.5 Eine Methode

Wissensaussagen und Argumente kritisch zu beurteilen respektive das Gold aus dem grauen Sand des Flussbetts zu schürfen, bedeutet Anstrengung und Zeit. Damit drängt sich die Frage auf, ob sich dieser Prozess gegebenenfalls beschleunigen oder zumindest grob strukturieren lässt. Je nach konsultierter Quelle ist man als Lesende geneigt, kritisches Denken eher als Handwerk denn als Geisteszustand zu verstehen, zu welchem Zweck eine gewisse Anzahl anstrengender Denk- und Analyseschritte durchlaufen werden müssen.

Paul und Elder (2003) beispielsweise haben eine «Checkliste für das Argumentieren» und einen «Fragenkatalog zu den Elementen des Denkens» erstellt, die dafür sorgen sollen, das Denken zu schulen und Denkfehler zu vermeiden. Der Impetus eines Handwerks kommt vielleicht noch etwas deutlicher bei Minda (2015) oder Halpern (2014) zum Tragen. In diesen Büchern sind nicht nur lange Kapitel der Psychologie des Denkens und der Funktion des Gedächtnisses gewidmet, es werden auch konkrete Strategien und Hilfestellungen für die Entscheidungsfindung und das Problemlösen vorgeschlagen. Kritisches Denken heißt demnach auch, dass wir einerseits die Grenzen unseres Denkens erkennen und andererseits über einfache Hilfsmittel verfügen müssen, die unser Denken schärfer und agiler machen: schärfer im Sinn des Erkennens und Überwindens von egoistischen und gruppenegoistischen Motiven und unausgesprochenen Grundannahmen (Paul & Elder, 2003), agiler im Sinn des Erkennens von alternativen Erklärungen, Schlussfolgerungen und vielleicht kreativen Lösungen.

2.6 Versuch einer Synthese

Kritisches Denken hat viele Facetten, die je nach Kontext eine unterschiedlich hohe Bedeutung haben. Für kritisches Denken im Alltag, wo ich oft keine knallharten Analysen benötige, scheint mir die Goldwasch-Metapher am nützlichsten. Dann reicht es mir nämlich oftmals, wenn ich mit einer grundlegenden Offenheit die für mich wichtigen Fakten und Argumente aus dem Rauschen der Eindrücke heraussieben kann. Ein paar wenige Kriterien helfen mir dabei, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Mit beschränkter Zeit, beschränkten Ressourcen und einer kleinen Checkliste kann ich nach eigenem Ermessen und anhand weniger Schritte (z. B. Check von weiteren Fakten, alternativen Argumenten und alternativen Lösungen) eine Entscheidung treffen.

In der Wissenschaft und Forschung sieht es anders aus: Hier sind strengere Richtlinien und mehr Transparenz gefragt. Kritisches Denken wird ergänzt durch systematisches, analytisches und methodisches Denken und eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber allen verwendeten Wissensquellen. Die kritische Beurteilung wissenschaftlicher Daten, die Bewertung ihrer Verarbeitung und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen gehören zum Kerngeschäft wissenschaftlicher Arbeit.

Noch anspruchsvoller wird es, wenn Wissenschaft gelehrt wird. Denn hier geht es nicht «allein um den Aufbau von Kompetenzen, sondern auch um die Entwicklung von Persönlichkeiten, die sich kritischem Denken verpflichtet fühlen» (Kruse, 2010, S. 66 f.). Gleichzeitig besteht beim Schritt von der Wissenschaft in die Lehre die Gefahr, dass sich Lehrende in den sicheren Hafen der Vermittlung von Inhalten zurückziehen – sei es wegen äußerer Rahmenbedingungen (Komprimierung und Formalisierung von Studieninhalten), wegen eines höheren Sicherheitsgefühls oder fehlender didaktischer Ideen. Um diesen Effekt zu verhindern und damit Lehrpersonen die vorhandenen Spielräume für kritisches Denken ausschöpfen, ist es nach Sears und Parsons (1991) unabdingbar, dass Lehrpersonen die Ethik des kritischen Denkens verinnerlicht haben. Sie übernehmen Verantwortung für zukünftige Fachkräfte und potenzielle Lehrpersonen, indem sie «eine Atmosphäre […] schaffen, in der risikofrei mit Denkformen und Meinungen experimentiert werden kann» (Kruse, 2010, S. 72), indem sie selbst Position beziehen, indem interdisziplinäre Problemstellungen aufgerissen werden und diskutiert statt doziert wird (Sieroka, 2017).

Zusammenfassend kann festgehalten werden – hier sind sich Philosophinnen und Philosophen einig (Facione, 1990; zit. nach Kruse, 2010, S. 57) –, dass im Unterricht die Lehrperson als Exponentin oder Exponent des kritischen Denkens eine Schlüsselrolle einnimmt. Nur wenn sie sich selbst auch als lernende Person offenbart und zeigt, dass kritisches Denken am einfachsten und lustvollsten im Austausch mit Peers stattfindet – und dass die Studierenden im Moment des Unterrichts eben auch ihre Peers sind –, dann nimmt sie ihre Verantwortung für eine umfassende Bildung in einer demokratischen und auf Rationalität beruhenden Gesellschaft wahr (Kruse, 2010, S. 57, 71).

3 Ergebnisse des Workshops

Anlässlich des an der Tagung stattfindenden Workshops formierten sich die Teilnehmenden um vier Tische, um vier verschiedene didaktische Lernformen kritisch auf ihre Wirkung für die Entwicklung des kritischen Denkens zu bewerten. Die Lernformen waren: personenbezogene Veranstaltungen zur Persönlichkeitsentwicklung, Forschendes Lernen, das «klassische» Seminar und Leistungsnachweise. Für E-Learning und Blended Learning konnte sich leider niemand begeistern.

Die folgenden beiden Fragen leiteten die Diskussionen an den vier Tischen, wobei nicht immer beide Fragen beantwortet wurden:

– Unter welchen Bedingungen fördert der didaktische Ansatz das kritische Denken von Studierenden?

– Unter welchen Bedingungen hemmt der didaktische Ansatz das kritische Denken von Studierenden?

Im Grunde kann man die beiden Fragen als eine einzige betrachten, weil die eine im Umkehrschluss eine Antwort auf die andere Frage ist. Entsprechend sind die Ergebnisse als erste Ausgangspunkte für weitere Gedanken und Argumente zu betrachten.

3.1 Personenbezogene Veranstaltungen zur Persönlichkeitsentwicklung

An diesem Tisch wurden Lehrveranstaltungen mit reflexivem Charakter und der Person als Gegenstand wie beispielsweise Praxisbegleitungen, Supervision, Coaching und die Begleitung von Thesen diskutiert.

In diesen Veranstaltungen wird kritisches Denken gefördert,

– wenn Wertefreiheit besteht und nicht «schubladisiert» wird,

– wenn Lehrende ihren eigenen Standpunkt einnehmen,

– wenn Lehrende selbstkritisch sind und Kritik gegenüber sich selbst zulassen,

– wenn blinde Flecken bei Studierenden angesprochen werden,

– wenn gesellschaftliche Gegebenheiten und Denkhaltungen zum Gegenstand gemacht werden,

– wenn kritisches Denken zum Mittel der Begegnung wird,

– wenn die Unterscheidung von Kritik, Widerstand und Übergriff gemacht wird,

– wenn Konfrontation als Mittel zur Kritik verwendet wird und

– wenn eine Meinung nicht als Diskriminierung anderer Meinungen verstanden wird.

In diesen Veranstaltungen wird kritisches Denken gehemmt,

– wenn Lehrpersonen zu harmoniebedürftig sind,

– wenn die Standardisierung von Vorgaben hoch ist und

– wenn Lehrpersonen Emotionen unterdrücken.

3.2 Forschendes Lernen

An diesem Tisch wurde zuerst eine Trennlinie zwischen «Forschung lernen» und «Forschendem Lernen» gezogen. Forschendes Lernen heißt, sich einem unbekannten Gebiet ohne Landkarte zu nähern. In solchen Veranstaltungen geht es darum, selbstständiges Denken und Lernen zu ermöglichen und sich eher abstrakt und auf theoretischer Ebene einem Gegenstand zuzuwenden. Forschung lernen hingegen bedeutet, an einem Projekt lernend auszuprobieren. Ein konkreter Forschungsgegenstand steht im Vordergrund.

In diesen Veranstaltungen wird kritisches Denken gefördert,

– wenn genügend Semesterwochenstunden zur Verfügung stehen,

– wenn der Zeitpunkt im Studienverlauf nicht zu früh ist und

– wenn genügend Offenheit für Kreativität und bewusste Entscheidungen vorhanden ist.

3.3 «Klassisches» Seminar

Das «klassische» Seminar wurde weitgehend im Sinne einer Diskussion von Texten verstanden.

In diesen Veranstaltungen wird kritisches Denken gefördert,

– wenn der Kopfstand – divergentes laterales Denken – gewagt wird,

– wenn Lehrende eigene Erkenntnisprozesse mit Widersprüchen transparent machen,

– wenn nicht nur auf Forschungsresultate fokussiert wird,

– wenn kontroverse Texte diskutiert werden, die attraktiv und anstößig zugleich sind,

– wenn beispielsweise Rollenspiele mit «bad boys» und «bad girls» gemacht werden und

– wenn beispielsweise Übungen zur Nikomachischen Ethik eingeflochten werden.

3.4 Leistungsnachweise

Bei Leistungsnachweisen wird kritisches Denken gefördert,

– wenn es einen Gestaltungsspielraum gibt, um Leistung abbilden zu können,

– wenn sie eine diskursive Auseinandersetzung ermöglichen,

– wenn die Angst der Studierenden reduziert wird, indem beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Thema in den Vordergrund gestellt wird,

– wenn wohlwollend auf Verzweiflung der Studierenden reagiert wird,

– wenn eindeutig kommuniziert wird, was verlangt wird,

– wenn Selbst- oder Studierendenbeurteilungen ermöglicht werden,

– wenn differenzierte Rückmeldungen zur Entwicklung der Studierenden gegeben werden und

– wenn Bewertungskriterien beispielsweise die folgenden sind: Widersprüche erkennen, Ambivalenz und Paradoxien aufzeigen, mehrere Perspektiven aufzeigen oder den Bezug zu verschiedenen Theorien herstellen.

Bei Leistungsnachweisen wird kritisches Denken gehemmt,

– wenn bei ethischen Fragestellungen keine ethische Positionierung verlangt wird und

– wenn Selbstreflexion und kritisches Denken vermischt werden.

4 Schlusswort

Das Ziel des Beitrags war zunächst, die grundlegenden Merkmale des kritischen Denkens herauszuarbeiten, um einen Einstieg ins Thema zu ermöglichen. Ausgangspunkt war, dass kritisches Denken in der Persönlichkeitsentwicklung von Studierenden ein Schlüsselelement ist, das zum selbstständigen Denken, zur interdisziplinären Zusammenarbeit und zur fundierten Entscheidungsfindung ermächtigt. Es wurde festgestellt, dass kritisches Denken von den verschiedenen Stakeholdern der Hochschule gefordert wird, dass jedoch oft nicht klar ist, was mit dem schillernden Begriff genau gemeint und mitgemeint ist. Das zweite Kapitel widmete sich deshalb fünf verschiedenen Aspekten des kritischen Denkens und endete mit der Erkenntnis, dass das kritische Denken von Hochschullehrenden höchsten Ansprüchen genügen muss – zumindest dann, wenn die Studierenden ebenfalls zu kritisch Denkenden ermächtigt werden sollten.

Aus den Diskussionen in den Tagungsworkshops (Kapitel 3) können einige grundlegende Gedanken abgeleitet werden. In personenbezogenen Veranstaltungen zur Persönlichkeitsentwicklung muss ein feiner Grat zwischen Belehrung, Angriff und Übergriffigkeit einerseits und Animierung zum (selbst-)kritischen Denken andererseits bewältigt werden. Diese Gratwanderung kann wahrscheinlich nur dann gelingen, wenn sich die Lehrperson selbst als selbstkritisch und lernend offenbart respektive wenn sie das (selbst-) kritische Denken an sich selbst vorzeigt und vorlebt. Andernfalls, wenn Kritik an der eigenen Person nicht zugelassen wird, können solche Lernsettings kaum gelingen und werden von den Studierenden eher als Zumutung erlebt. Auch das Duo kritisches Denken und Leistungsnachweise erwies sich als Herausforderung. Letztere sollten so gestaltet werden, dass Studierende an den Aufgaben wachsen können. Angst und Verzweiflung hemmen kritisches Denken, während diskursive Auseinandersetzungen und ethische Positionierungen kritisches Denken stärken. Bei Forschendem Lernen erwiesen sich die zur Verfügung stehende Zeit und beim «klassischen» Seminar die passende Gesprächsgrundlage (Text und Fragestellung) als Schlüsselmomente zur Förderung des kritischen Denkens.

Neben der angeleiteten Diskussion evozierte der Workshop zwei spannende Fragen, die mangels Zeit nur aufgenommen, nicht aber diskutiert werden konnten. Erstens wurde die Frage gestellt, was mit «critical thinking requires […] an appreciation for alternative ways of knowing» (vgl. Abschnitt 2.2) gemeint sein könnte. Wie soll in der Lehre die Grenze zwischen Scharlatanerie und wissenschaftlichem Wissen angesprochen und diskutiert werden? Wie weit kann und soll die Würdigung von «alternativen» Weltbildern gehen, und was kann «alternativen Fakten» entgegengehalten werden? Oft scheint es eine Herausforderung, Wissenschaft zu kommunizieren und gegenüber Nichtwissenschaft abzugrenzen. Inwieweit kritisches Denken gerade eine Antwort auf diese Frage ist, darf kritisch hinterfragt werden.

Das zweite Votum formulierte die Grundsatzfrage, wie Kritik am kritischen Denken möglich und wer für diese Kritik verantwortlich ist. Für den Hochschulbetrieb könnte man daraus die Fragen ableiten, welche Literaturquellen (für die Hochschullehre) maßgebend und wegweisend sind und welche Ansprüche an das kritische Denken der Studienabgängerinnen und -abgänger vonseiten der Wissenschaft, der Praxis und der Gesellschaft gestellt werden. Eine pauschale Antwort scheint hier kaum möglich, vielmehr sind die einzelnen Fachbereiche und Disziplinen gefordert, ihre durch ihr Fach geprägten Ansprüche und Erwartungen an die Studierenden, an die Dozierenden und an das Curriculum explizit zu formulieren. Erst dann nämlich, wenn kritisches Denken keine leere Worthülse bleibt, sondern von den Verantwortlichen mit Inhalten gefüllt und von allen Beteiligten eingefordert und kritisch beurteilt werden kann, entwickelt kritisches Denken seine volle Wirkung, wie es von verantwortungsvollen Hochschulen erwartbar ist.

Tasuta katkend on lõppenud.