Perspektiven auf den Lernort Berufsfachschule (E-Book)

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Schlussbemerkungen

Die Ausrichtung von Bildungsprozessen auf den Erwerb von Kompetenzen ist in der Berufsbildung im Gegensatz zur Volksschule und den allgemeinbildenden Schulen auf der Sekundarstufe II unumstritten. Ein Grund für die kontroversen Diskussionen im allgemeinbildenden Bereich ist die unterschiedliche, teils polarisierende Verwendung des Begriffs «Kompetenzen». Aber auch in der Berufsbildung sollte das Begriffsverständnis einheitlicher sein. Geeignet dazu ist die aus einer breiten Literaturrecherche hervorgehende Definition von Klieme und Hartig (2007, S. 21): «Kompetenzen sind Dispositionen, die im Verlaufe von Bildungs- und Erziehungsprozessen erworben (erlernt) werden und die Bewältigung von unterschiedlichen Aufgaben bzw. Lebenssituationen ermöglichen. Sie umfassen Wissen und kognitive Fähigkeiten, Komponenten der Selbstregulation und sozial-kommunikative Fähigkeiten wie auch motivationale Orientierungen». Häufig hört man, dass das sogenannte 4K-Modell der Schlüssel für das künftige Lernen sei: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Innovation sowie kritisches Denken und Problemlösen (vgl. z. B. Lück, 2019). Selbstverständlich sind diese Kompetenzen wichtig, sie sind aber alle überfachlicher Art. Die anderen Facetten von Kompetenzen werden dadurch keineswegs obsolet. Zum Kommunizieren, Kollaborieren und kritischen Denken braucht es Inhalte. Es ist nicht ein Entweder-oder, es ist ein Sowohl-als-auch. Der Umfang der zu erwerbenden Fachkompetenzen lässt sich weder reduzieren, noch werden sie im Hinblick auf gegenwärtige und künftige berufliche Kompetenzen und weitere Ziele – wie die Allgemeinbildung in der Berufsfachschule oder die beschränkt-allgemeine Studierfähigkeit in Berufsmaturitätsschulen – beliebig. Auch für das scheinbar inhaltsoffene Ziel des lebenslangen Lernens, das in vielen Bildungsdokumenten als Gegenentwurf zum Erwerb von Fachwissen beschrieben wird, bleibt die bereits vor 23 Jahren beschriebene ausschlaggebende Bedeutung von sorgfältig bestimmtem Fachwissen und -können (vgl. Eberle, 1997) erhalten.

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Nicole Ackermann
«Fit für die digitale Arbeitswelt»: Didaktische Implikationen der Reform «Kaufleute 2022» für die kaufmännischen Berufsfachschulen und die Lehrerinnen- und Lehrerbildung

Die Organisation der Arbeitswelt will mit der Reform «Kaufleute 2022» die kaufmännische Berufslehre den veränderten Anforderungen der globalen und digitalen Arbeitswelt anpassen und sie attraktiver machen. Die Ausbildung der kaufmännischen Lernenden soll an allen drei Lernorten konsequent auf die Förderung und Überprüfung der beruflichen Handlungskompetenzen ausgerichtet werden. Dieser lernortübergreifende und kompetenzorientierte Ansatz stellt einen Paradigmenwechsel für die kaufmännische Grundbildung und insbesondere für die kaufmännischen Berufsfachschulen dar. Dieser Beitrag analysiert didaktische Implikationen der Reform «Kaufleute 2022» für die kaufmännischen Berufsfachschulen und für die kaufmännische Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

 

Einleitung

Die kaufmännische Grundbildung in der Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten etliche Reformen durchlaufen (vgl. z. B. Gonon, 2012; König, Siegrist, & Vetterli, 1985; Maurer & Hauser, 2019; Wettstein, 1987/2005, 2020; Wettstein, Schmid, & Gonon, 2014). Diesen Reformen voraus ging ein Wandel des Berufsbilds der Kaufleute (vgl. Maurer & Pieneck, 2013; Voisard, 2011). Mit den Reformen erfolgten strukturelle Anpassungen der betrieblichen und schulischen Ausbildung, um dem neuen Berufsbild gerecht zu werden (vgl. z. B. EVD, 2003; SKKAB, 2011b).

Die Reform im Jahr 2003, bezeichnet als die «neue kaufmännische Grundbildung», brachte die bisher einschneidendsten Veränderungen mit sich. Eingeläutet wurde diese Reform durch die Feststellung, dass sich der Beruf der kaufmännischen Angestellten in den vergangenen Jahren markant verändert habe: Der Alltag werde von Computern beherrscht, die Kommunikation zwischen den Geschäftspartnern und -partnerinnen sei auschlaggebend, Arbeitsabläufe seien mit der weltweiten Vernetzung komplexer geworden (vgl. BBT, 2003, S. 1). Ausgehend von diesem gewandelten Berufsbild wurde die Ausbildung der Kaufleute auf den Erwerb und die Nutzung von Kompetenzen ausgerichtet: «Um im anspruchsvollen Beruf [der kaufmännischen Angestellten] heute und morgen bestehen zu können, müssen die heutigen Kaufleute über Fach-, Methoden- und Sozialkompetenzen verfügen» (BBT, 2003, S. 1). Der sogenannte kaufmännische «Kompetenzenwürfel» verkörperte das neue Berufsbild und adressierte alle an der kaufmännischen Grundbildung Beteiligten, namentlich Lernende, Lehrbetriebe und Berufsschulen (vgl. BBT, 2003, S. 2).

In der betrieblichen Ausbildung erfolgten Veränderungen unter anderem durch die Einführung der überbetrieblichen Kurse (üK) und der betrieblichen Lern- und Leistungsdokumentation (vgl. BBT, 2003, S. 2) sowie durch den Erlass von branchenspezifischen Leistungszielkatalogen für die 21 kaufmännischen Branchen. In der schulischen Ausbildung ergaben sich folgende Veränderungen: die Einführung der Profile (B-Profil: Basis-Grundbildung; E-Profil: erweiterte Grundbildung; M-Profil: erweiterte Grundbildung mit integrierter Berufsmaturität) (vgl. BBT, 2003, S. 4), die Zusammenlegung von traditionellen Einzelfächern in Unterrichtsbereiche (vgl. Ackermann, im Druck-a, eingereicht; Gründler & Tatavitto, 2016; König et al., 1985), die Auswahl und Gewichtung von unterrichtsspezifischen Leistungszielen sowie die Festlegung eines kognitiven Anforderungsniveaus für jedes Leistungsziel (vgl. Gründler & Tatavitto, 2016). So wurde beispielsweise der neue Unterrichtsbereich «Wirtschaft und Gesellschaft» (W&G) eingeführt und darin die ehemals separaten Fächer Rechnungswesen (inkl. Buchhaltung, kaufmännisches Rechnen), (kaufmännische) Betriebskunde, (kaufmännische) Rechtskunde, Staatskunde und Wirtschaftskunde (Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsgeografie) zusammengelegt (vgl. Dubs, 1985, S. 46 ff.; König et al., 1985, S. 121). Der Unterrichtsbereich «Information, Kommunikation, Administration» (IKA) wurde aus den vormals einzelnen Fächern Maschinenschreiben, Textverarbeitung/Bürokommunikation, Korrespondenz und Informatik geschaffen (vgl. König et al., 1985, S. 121).

Knapp 20 Jahre später kündigt sich nun mit der Reform «Kaufleute 2022» wiederum eine tiefgreifende Veränderung der kaufmännischen Grundbildung in der Schweiz an. Diese Reform symbolisiert für die kaufmännische Grundbildung einen Paradigmenwechsel: Ausrichtung auf berufliche Handlungskompetenzen an allen drei Lernorten, Auflösung der traditionellen allgemeinbildenden Fächer (z. B. Wirtschaft, Recht, Sprachen) an den Berufsfachschulen, Einführung und Stärkung einer eigentlichen Berufskunde an den Berufsfachschulen sowie Berücksichtigung der individuellen Entwicklung und Entfaltung der Lernenden während der Ausbildung (Portfolio, Projektarbeit). Dieser Paradigmenwechsel hat insbesondere für die kaufmännischen Berufsfachschulen weitreichende Konsequenzen und stellt sie vor pädagogisch-didaktische, personelle und organisatorische Herausforderungen (vgl. Pfiffner & Ackermann, 2020).

In diesem Beitrag sollen didaktische Implikationen der Reform «Kaufleute 2022» für die Ausbildung an kaufmännischen Berufsfachschulen und für die Ausbildung der kaufmännischen Berufsfachschullehrpersonen analysiert werden. Didaktik wird hierbei in einem weiteren Sinne verstanden, das heisst bezogen auf Konzeptionen (Fachdidaktik, Berufsdidaktik), Bildungsplan (Curriculum) und Unterricht (Lehr-Lern-Arrangements).

Zunächst wird die aktuelle kaufmännische Grundbildung in der Schweiz erläutert; anschliessend werden zentrale Anliegen und wesentliche Neuerungen der Reform «Kaufleute 2022» skizziert. Vor diesem Hintergrund werden didaktische Implikationen für die kaufmännischen Berufsfachschulen analysiert, insbesondere die Verortung der Handlungskompetenz in der Bildungsforschung, die Deutung der beruflichen Handlungskompetenzorientierung als curriculares Prinzip sowie die Bedeutung der Berufskunde und der Allgemeinbildung als Ziele der Berufsbildung. Des Weiteren werden didaktische Implikationen der Reform für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung analysiert, insbesondere hinsichtlich der Qualifikation zukünftiger kaufmännischer Berufsschullehrpersonen und der Konzeption einer kaufmännischen Berufsdidaktik. Abschliessend wird die Bedeutung der Lernortkooperation zwischen Berufsfachschulen und Institutionen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung betont.

Die aktuelle kaufmännische Grundbildung in der Schweiz

Der kaufmännischen Grundbildung kommt im Schweizer Berufsbildungssystem und für den Arbeitsmarkt eine zentrale Bedeutung zu. Von den rund 230 Berufen in der Schweiz werden die kaufmännischen Berufe EFZ und EBA von Jugendlichen mit Abstand am meisten gewählt (vgl. SBFI, 2020, S. 12). Das Berufsfeld «Wirtschaft und Verwaltung» zählte im Jahr 2019 18 Prozent (40 578) aller Lernenden, gefolgt vom Berufsfeld «Gross- und Einzelhandel» mit 11 Prozent (24 661) (vgl. BFS, 2020). Kaufmännische Angestellte übernehmen zentrale administrative Tätigkeiten in privaten und staatlichen Unternehmen, zum Beispiel Material bewirtschaften, Kundinnen und Kunden beraten, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit umsetzen, Personaladministration ausführen und finanzwirtschaftliche Prozesse abwickeln (vgl. SKKAB, 2011a, S. 2 f.).

Organisation der Arbeitswelt und somit Träger des Berufs Kauffrau/Kaufmann EFZ ist seit 2012 die Schweizerische Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB). Zu ihren Aufgaben gehört es unter anderem, die Qualität der kaufmännischen Grundbildung sicherzustellen, die Ausbildung mittels Reformen den Erfordernissen der Zeit anzupassen und die Vielfalt des Berufs zusammenzuhalten. Letzterem kommt eine besondere Bedeutung zu, da die kaufmännische Berufslehre in 21 verschiedenen Branchen, sogenannten Ausbildungs- und Prüfungsbranchen, absolviert werden kann, so etwa Banken, Handel, Industrie, öffentliche Verwaltung, Privatversicherungen, Spedition, Spitäler und Heime oder Hotellerie und Gastronomie (vgl. SKKAB, 2011b, S. 31 f.).

Das gegenwärtige Qualifikationsprofil Kauffrau/Kaufmann EFZ definiert «berufliche Handlungskompetenzen» als Fachkompetenzen, Methodenkompetenzen sowie Sozial- und Selbstkompetenzen (vgl. SKKAB, 2011b). Die Fachkompetenzen für die betriebliche und schulische Ausbildung werden mit Lern- beziehungsweise Unterrichtsbereichen gleichgesetzt. Der Lernbereich «Branche und Betrieb» (vgl. SKKAB, 2011b, S. 6) wird ausschliesslich in der betrieblichen Ausbildung, das heisst an den Lernorten Lehrbetrieb und überbetriebliche Kurse, vermittelt. Jede Branche konkretisiert den Lernbereich «Branche und Betrieb» in branchenspezifischen Leistungszielen. Mit diesen Branchenspezifika wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die kaufmännischen Branchen heterogen sind und sich der kaufmännische Beruf in den einzelnen Branchen differenziert und spezialisiert darstellt. Entsprechend variieren die branchenspezifischen Qualifikationsprofile teilweise erheblich zwischen den Branchen, und zwar bezüglich Anzahl, Verbindlichkeit (Pflicht, Wahlpflicht) und Inhalt der Leistungsziele (z. B. zwischen den Branchen Hotel-Gastro-Tourismus, öffentliche Verwaltung, Privatversicherung und internationale Speditionslogistik).

Die vier Unterrichtsbereiche «Standardsprache (regionale Landessprache)», «Fremdsprachen (2. Landesprache und/oder Englisch)», «Information, Kommunikation, Administration» (IKA) sowie «Wirtschaft und Gesellschaft» (W&G) beziehen sich ausschliesslich auf die schulische Ausbildung am Lernort Berufsfachschule (SKKAB, 2011b, S. 10). Diese Unterrichtsbereiche sind für die Lernenden aller Branchen einheitlich (vgl. SKKAB, 2011b, S. 6). Für jeden Unterrichtsbereich werden unterrichtsspezifische Leistungsziele konkretisiert. Traditionsgemäss sind die meisten Unterrichtsbereiche auf allgemeinbildende Lerninhalte ausgerichtet, so etwa die Bereiche Standardsprache, Fremdsprachen und Teilbereiche von W&G (insb. Gesamtwirtschaft, Rechtskunde, Staatskunde) (vgl. Ackermann, im Druck-a). Lediglich wenige Unterrichtsbereiche können als berufskundliche Lerninhalte interpretiert werden, wie IKA und Teilbereiche von W&G (insb. Finanzwirtschaft, Betriebswirtschaft). Die Mindestvorschriften für die Allgemeinbildung in der beruflichen Grundbildung (vgl. BBT, 2006a) werden integriert in diesen Unterrichtsbereichen vermittelt (vgl. SBFI, 2011, Art. 13 Verordnung Kaufleute EFZ).

Die Strukturierung der beruflichen Handlungskompetenzen beziehungsweise der Fachkompetenzen bezüglich der Lernorte bedeutet eine Differenzierung in der betrieblichen Ausbildung und eine Generalisierung in der schulischen Ausbildung: Branchenübergreifende Fachkompetenzen beziehen sich in der Regel auf allgemeinbildende Lerninhalte, nicht auf berufskundliche; branchenspezifische Fachkompetenzen werden einzig an den Lernorten Lehrbetrieb und überbetriebliche Kurse erworben, nicht am Lernort Berufsfachschule. Die Heterogenität beziehungsweise Diversität der kaufmännischen Branchen und die «Allbranchenlehre» der Kaufleute scheinen mit einem branchenübergreifenden berufskundlichen Unterricht an den kaufmännischen Berufsfachschulen (Art. 16 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 Berufsbildungsgesetz) unvereinbar zu sein, da sich die branchenspezifischen Fachkompetenzen wenig bis gar nicht überlappen. Diese Problematik akzentuiert sich im Hinblick auf die Reform «Kaufleute 2022» und die lernortübergreifende Handlungskompetenzorientierung.

Die Reform «Kaufleute 2022»: Zentrale Anliegen und wesentliche Neuerungen

Mit der Reform «Kaufleute 2022» der kaufmännischen Grundbildung soll die kaufmännische Berufslehre «fit für die digitale Arbeitswelt» (SKKAB, 2018, S. 1) und somit «wettbewerbsfähiger und attraktiver» (SKKAB, 2020a, S. 1) gemacht werden. Die Transformation der Arbeitswelt («new work», vgl. Zukunftsinstitut, 2020) zeigt sich vor allem durch die Globalisierung der Kunden- und Lieferantenbeziehungen, die Digitalisierung der Wertschöpfungsprozesse und die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts (vgl. Aepli et al., 2017; SBFI, o. J.). Diese Veränderungen betreffen insbesondere auch dienstleistungsorientierte Berufe wie Kaufleute, die im betrieblichen Wertschöpfungsprozess als Intermediäre tätig sind. Aktuelle Studien prognostizieren, dass digitale Technologien vor allem bei routinemässigen Tätigkeiten substituierend eingesetzt werden, bei anderen, beispielsweise analytischen Tätigkeiten hingegen komplementär (vgl. Aepli et al., 2017, S. 6). Eine globale und digitale Arbeitswelt verändert damit nicht nur die gegenwärtigen und zukünftigen Tätigkeitsbereiche der Kaufleute, sondern auch ihr Anforderungs- und Qualifikationsprofil – und die erforderlichen beruflichen Handlungskompetenzen (vgl. Ectaveo, 2018). So werden nun von zukünftigen Kaufleuten «technische Fertigkeiten, Computational Thinking, Sozial- und Selbstkompetenzen sowie kritisches Denken und Kreativität» (SKKAB, 2020a) erwartet.

Das Kernanliegen der Reform «Kaufleute 2022» besteht darin, die Ausbildung der kaufmännischen Lernenden konsequent auf die Förderung und Überprüfung der beruflichen Handlungskompetenzen auszurichten, und zwar an allen drei Lernorten (Lehrbetrieb, überbetriebliche Kurse, Berufsfachschule) (vgl. Ectaveo, 2019; 2020). Dieser lernortübergreifende und kompetenzorientierte Ansatz stellt für den Beruf der Kaufleute ein Novum dar. In vielen anderen Berufen des Schweizer Berufsbildungssystems ist er jedoch seit Jahren implementiert.

 

Die berufliche Handlungskompetenzorientierung spiegelt sich in den neuen nationalen Bildungserlassen für Kaufleute wider: dem Qualifikationsprofil und dem Bildungsplan (vgl. SKKAB, 2020b; 2020c). Das neue Qualifikationsprofil «Kaufleute 2022» beschreibt fünf berufliche Handlungskompetenzbereiche (vgl. SKKAB, 2020b; 2020c, S. 9): A) Handeln in agilen Arbeits- und Organisationsformen; B) Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld; C) Koordinieren von unternehmerischen Arbeitsprozessen; D) Gestalten von Kunden- oder Lieferantenbeziehungen; und E) Einsetzen von Technologien in der digitalen Arbeitswelt. In jedem Handlungskompetenzbereich sind vier bis sechs Handlungskompetenzen verankert. Zusätzlich werden am Lernort kaufmännische Berufsfachschule im zweiten und dritten Lehrjahr zwei «Wahlpflichtbereiche» (zweite Fremdsprache, d. h. zweite Landessprache oder Englisch, und interdisziplinäre Projektarbeit) (vgl. SBFI, 2020b, Art. 4 und Art. 11 Verordnung Kaufleute EFZ) sowie im dritten Lehrjahr vier «Optionen» (Finanzen, Technologie, Standardsprache und erste Fremdsprache) (vgl. SBFI, 2020b, Art. 5 und Art. 11 Verordnung Kaufleute EFZ) angeboten. Die Lernenden müssen je einen Wahlpflichtbereich und eine Option belegen, damit sie während der Ausbildung ihre individuellen Interessen und Begabungen entfalten können.

Die Strukturierung und Beschreibung der beruflichen Handlungskompetenzbereiche und der beruflichen Handlungskompetenzen gilt lernortübergreifend und branchenübergreifend. An den Lernorten Lehrbetrieb und Berufsfachschule werden für jede Handlungskompetenz lernortspezifische Leistungsziele konkretisiert (vgl. SKKAB, 2020c, S. 12 ff.). An den Lernorten Lehrbetrieb und überbetriebliche Kurse werden bestimmte Handlungskompetenzen in branchenspezifischen Leistungszielen und Arbeitssituationen konkretisiert (vgl. SKKAB, 2020c, S. 11).

Die Ziele der Allgemeinbildung (vgl. BBT, 2006a, Art. 2 Verordnung Allgemeinbildung; 2006b) sollen am Lernort kaufmännische Berufsfachschule auf zwei Weisen erfüllt werden: Einerseits sind allgemeinbildende Inhalte in allen beruflichen Handlungskompetenzbereichen als schulische Leistungsziele integriert (sog. integrierte Allgemeinbildung). So werden sprachlich-kommunikative Kompetenzen in allen Handlungskompetenzbereichen erworben und angewendet. Andererseits wird der Handlungskompetenzbereich A mit zusätzlichen allgemeinbildenden Inhalten angereichert, die als schulische Leistungsziele konkretisiert werden (sog. separierte Allgemeinbildung). Hierbei stehen die Lernenden und das lebenslange Lernen im Zentrum: Es werden Themenbereiche wie persönliche Kompetenzentwicklung, individuelle Lebensgestaltung und gesellschaftliche Teilhabe behandelt.

Im Qualifikationsverfahren (QV) werden drei Qualifikationsbereiche geprüft und verrechnet: praktische Arbeit (30 %), Berufskenntnisse und Allgemeinbildung (30 %), Erfahrungsnote (40 %) (vgl. SBFI, 2020b, Art. 24 Verordnung Kaufleute EFZ). Der Qualifikationsbereich «Berufskenntnisse und Allgemeinbildung» umfasst die Handlungskompetenzbereiche A bis E inklusive Allgemeinbildung, wobei jeder Handlungskompetenzbereich mit einem Fünftel gewichtet wird (vgl. SBFI, 2020b, Art. 23 Verordnung Kaufleute EFZ). Die einzelnen Handlungskompetenzbereiche werden mündlich à 30 Minuten oder schriftlich à 75 Minuten geprüft (ebd.).

Für die Umsetzung der Reform «Kaufleute 2022» an den kaufmännischen Berufsfachschulen soll ein nationaler Schullehrplan für den neuen Unterrichtsbereich «Berufskunde und Allgemeinbildung» entwickelt werden.