Loe raamatut: «Polizei.Wissen»
Vorwort des Herausgebers der Heftreihe
Jules Verne gilt als ein Autor, der seiner Zeit weit voraus war. Knapp einhundert Jahre, bevor Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat ersann Verne z.B. die Idee einer bemannten Mondreise. Und 142 Jahre bevor die Deepsea Challanger eine Tiefe von 11.000 Meter erreichte, war die „Nautilus“ in Vernes Roman schon doppelt so tief getaucht. Wenn es also einen Vertreter der Gattung Unterhaltungsliteratur gibt, der von sich behaupten kann, „vor der Lage“ gewesen zu sein, dann ist es Jules Verne.
Das Thema Voraussicht spielt in seinen Romanen häufig eine zentrale Rolle. Die Helden seiner Geschichten behaupten anfangs stets, alles bedacht und alle Eventualitäten einkalkuliert zu haben. Man stelle sich vor, es bliebe dabei! Spannend werden die Romane letztlich, weil das Unvorhersehbare eintritt.
Wir lernen in Vernes Roman „In 80 Tagen um die Welt“ mindestens drei Erscheinungsformen der Interaktion von Mensch und Zukunft kennen: die mathematische Vorausplanung, den Riecher und das Schicksal.
Erst einmal zur mathematischen Vorausplanung:
„’Man muss mathematisch genau aus den Eisenbahnen in die Packetboote, und aus den Packetbooten in die Eisenbahnen springen!’
‚Ich will den Sprung mathematisch genau vornehmen.’“
Dann der Riecher, den wir beim Polizisten Fix antreffen:
„Solche Leute wittert man vielmehr, als dass man sie erkennt. Man muss Spürkraft besitzen, die ist gleichsam ein besonderer Sinn, bei welchem Gehör, Gesicht und Geruch zusammen wirken.“
Und dann auch noch das Schicksal:
„’Wir hätten die Reise um die Erde in nur achtundsiebenzig Tagen fertig bringen können.’
‚Allerdings’, erwiderte Herr Fogg, ‚wenn wir nicht durch Indien gefahren wären. Aber hätten wir nicht diesen Weg genommen, so hätte ich nicht Mrs. Aouda retten können, und dann wäre sie nicht meine Frau.’“
Wenn Polizei vor die Lage kommen will, dann sind nicht selten alle drei – und mehr - Aspekte an einer Bewirtschaftung des Zukünftigen beteiligt.
Es zeigt sich: der polizeiliche Anspruch, „vor die Lage“ zu kommen ist ein weites Feld. Ich freue mich, dass in dem aktuellen Heft dieses Feld in den für diese Reihe typisch kurzen Texten abgesteckt wird, sodass sich ein Eindruck davon vermittelt, was es bedeuten kann, wenn Polizei präventiv tätig ist.
10.000 Zeichen pro Beitrag maximal führt zwar vielleicht dazu, dass nicht alles geschrieben wird, was von Relevanz wäre. Zugleich ermöglicht die Kürze der Texte aber, dass sie miteinander in Dialog treten und sich das abzeichnet, was sich Wissenschaft vom Dialog seit jeher erhofft: Erkenntnis.
Prof. Dr. Jonas Grutzpalk
Bielefeld im August 2020
Inhalt
Vorwort zum aktuellen Heft (J. Grutzpalk)
Der präventive Horizont (M. Leanza)
Wie Prävention und Repression verschleifen (S. Golla)
Wenn die Polizei auf dem Stundenplan steht (B. Thinnes)
Das polizeiliche Gefahrenabwehrrecht in der Verkehrsunfallprävention (P. Schlanstein)
Kurve Kriegen (W. Wendelmann)
Vor die Lage kommen als Führungsaufgabe (Th. Baadte)
Terrorism Prevention: A Comparative Analysis between the United Kingdom and Israel (C. Kaunert, M. Edwards, O. Wertmann)
Predictive Policing: Prävention on Steroids? (S. Egbert)
Predictive Policing Systeme. Welche Zukunft wird präsentiert? (N. Jansen)
Vorausschauendes Polizieren braucht eigentlich keine Polizei (N. Zurawski)
Prävention durch Reflexion (M. Schophaus)
Die Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendienst Nachrichtendienst als Teilbereich einer rechtsstaatlichen Präventionspolitik (G. Meyer-Plath)
Präventionsarbeit bei Großveranstaltungen: Chancen interorganisationaler Zusammenarbeit (A. Kuche)
Vom Wolf zum Virus. Erkenntnisse über polizeiliche Prävention (J. Grutzpalk)
Vorwort zum aktuellen Heft
Von Jonas Grutzpalk*
Die Idee, in diesem Heft sehr unterschiedliche Stimmen zum Thema der polizeilichen Prävention zu Wort kommen zu lassen begründet sich damit, dass der polizeiliche Präventionsbegriff viele Fragen offen lässt. „Vor die Lage kommen“ zu wollen ist ein wichtiger Anspruch, aber wie er rechtlich, begrifflich, technisch, im polizeilichen Alltag und in Kooperation mit anderen Behörden umgesetzt wird, ist noch nicht systematisch erhoben worden. Dieses Heft möchte einen ersten Anstoß dazu liefern, sich dem Thema der polizeilichen Prävention umfassender zu widmen.
Doch die Frage, wie das denn gehen soll, vor die Lage zu kommen ist alles andere als banal. Sie beginnt schon damit, dass es offensichtlich eines kulturellen Kontextes bedarf, der Zukunft als etwas versteht, das vor einem liegt. Die in den Anden lebenden Aymara begleiten Beschreibungen vergangener Geschehnisse z.B. mit nach vorne zeigenden Gesten, während sie über die Zukunft sprechen, indem sie hinter ihren Rücken zeigen. Es bedarf einer die gesamte Gesellschaft ergreifende „Entdeckung der Zukunft“ (Hölscher), um präventiv arbeitende Behörden überhaupt für denkbar zu halten.
Nun kennt die Menschheit schon seit langem das Bemühen darum, die Welt der Zukunft zu kennen, um sich auf sie einstellen zu können. Hier ist insbesondere an die Mantik zu denken, die gemeinhin als Kunst verstanden wird die Zeichen der Zeit richtig zu deuten (Hogrebe). Mantik ist eine Art sakrales Vorauswissen, das sich aus Quellen wie Träumen, Vogelflug, göttlicher Inspiration oder Loswurf speisen kann. Wir kennen mantische Erfahrungen heute noch in Form von „Ahnungen“ oder – im beruflichen Kontext – auch als „Riecher“. Fast überall lassen sich spätestens seit der Bronzezeit (häufig auch beamtete) Fachleute für solch ein Vorauswissen finden (z.B. 1. Mose, Kap. 41).
Doch der moderne Staat, der sich durch so vieles auszeichnet, ist nicht zuletzt auch ein vor(aus)-sichtiger Staat (Ewald/Gollier/ Sandeleer), dem Mantik für seine Bedürfnisse nicht reichen kann. Der moderne Staat schreibt sich Vor- und Für-Sorge genauso auf seine Fahnen wie die Prä-Vention (also: das vor-die-Lage-Kommen) seiner Ordnungs- und Sicherheitsbehörden. Es ist Matthias Leanza zu verdanken, dass in diesem Heft ein historischer Rückblick zu finden ist, der die Entwicklung dieses Präventionsgedankens seit der Aufklärung veranschaulicht. Und Sebastian Golla zeigt in seinem Beitrag, dass die Rechtssphären von polizeilicher Repression und Prävention noch lange nicht deutlich voneinander getrennt sind, sondern vielmehr ineinander „verschleifen“.
Es geht keinem der hier versammelten Beiträge darum, die Polizei der Unfähigkeit zu verdächtigen oder zu behaupten, polizeiliche Prävention führe zu nichts. Im Gegenteil ist Präventionsarbeit ein tägliches Tun der Polizei, wie sich in den Beiträgen von Birgit Thinnes (Gewaltprävention in Schulen), Peter Schlanstein (Gefahrenabwehr im Verkehr) und Wolfgang Wendelmann (Intensivtäterprogramme) zeigt. Es ließen sich noch zahlreiche andere Beispiele finden, doch diese Beiträge veranschaulichen schon einmal deutlich, wie sich der Anspruch der polizeilichen Prävention in der Praxis bewährt. Das gilt auch für den innerpolizeilichen Umgang miteinander – der darauf angewiesen ist, dass die Führung „vor die Lage kommt“, wie Thomas Baadte deutlich macht.
Einen Blick über den nationalen Tellerrand ermöglicht der Text von Christian Kaunert, Mike Edwards und Ori Wertman, der sich den jeweiligen Ansätzen der Terrorismusprävention in Israel und im Vereinigten Königreich widmet. Da beide Länder über umfangreiche Erfahrung mit teilweise groß angelegten Terroranschlägen verfügen, ist hier eine veralltäglichte Prävention weiter verbreitet als in vielen anderen westlichen Ländern.
Bei aller Erfahrung mit der präventiven Abwehr von Gefahren bleiben Fragen offen. Dieses gilt insbesondere für das recht neue Themenfeld des „Predicitive Policing“, an das einige präventive Hoffnungen geknüpft sind. Während Simon Egbert untersucht, welche Konzepte von Gefahr und Gefahrenabwehr hier technisch umgesetzt werden, geht Niels Jansen der Frage nach, welche Vorstellungen von Zukunft bei „Predicitive Policing“ zum Anschlag kommen. Nils Zurawski fragt sich in seinem Beitrag, ob es der Polizei eigentlich daran gelegen sein kann, so vor die Lage zu kommen, dass niemand mehr Ruhe und Ordnung wiederherstellen muss.
Malte Schophaus beleuchtet den Bereich der polizeilichen Ausbildung, wobei er den Blick in die Vergangenheit mit dem Blick in die Zukunft verbindet: das recht neue Lehrformat „Berufsrollenreflexion“, das an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW angeboten wird, soll dazu dienen, aus Erfahrungen zu lernen und sich auf vergleichbare Situationen in der Zukunft einzurichten.
Eine Behörde, die par excellence in der Zukunft agiert, ist der Verfassungsschutz. Sein Aufgabenbereich findet sich „Vorfeld des strafrechtlichen Staatsschutzes“ – ist also noch präventiver als der der Polizei. Gordian Meyer-Plath beschreibt in seinem Beitrag diese in vielerlei Hinsicht einzigartige Behörde, wobei er insbesondere auf die Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz eingeht. Alexander Kuche interessiert sich auch für Zusammenarbeit und zwar zwischen Behörden und Institutionen, die zusammenfinden, weil sie gemeinsam präventive Maßnahmen beraten und vorbereiten. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Artikel das wiederzufinden ist, was die mantische Vorausschau schon immer kannte: die Ahnung, den eher gefühlten Kontakt zu den Beteiligten.
Vielleicht deutet sich hier an, dass Prävention noch immer letztlich ein gewisses wortloses Gespür für das braucht, was eintreten könnte. Wie sich das mit den Rationalitätserfordernissen der Moderne überein bringen lässt, müsste sich wohl noch klären.
Literatur:
Ewald / Gollier / Sandeleer (2001): Le Principe de Précaution
Hölscher (1999): Die Entdeckung der Zukunft
Hogrebe (Hrsg.) (2005): Mantik
* Jonas Grutzpalk ist Professor für
Sozialwissenschaften am Studienort Bielefeld der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.
Der präventive Horizont
Von Matthias Leanza*
Im Juli 2015 hat der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention“ verabschiedet. Damit gelangte ein rund zehn Jahre währender Gesetzgebungsprozess, der mehrfach aufgeschoben und unterbrochen worden war, an sein Ende. Wie bereits der erste Gesetzentwurf von 2005 darlegte, habe man „die gesundheitliche Prävention neben der Akutbehandlung, der Rehabilitation und der Pflege zu einer eigenständigen Säule im Gesundheitswesen“ auszubauen.
„Prävention ist keine Erfindung der jüngeren Vergangenheit. Der Präventionsgedanke lässt sich bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen.“
Das Präventionsgesetz ist jedoch nicht das erste Gesetz in Deutschland, das dem gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung dienen soll. Man denke nur an das Reichsimpfgesetz von 1874, mit dem die Pockenschutzimpfung obligatorisch wurde, oder an das Reichsseuchengesetz von 1900. Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Weltgesundheitsorganisation konnte mit den Internationalen Sanitäts- und Gesundheitsvorschriften von 1951, 1969 und dann – nochmals vollständig überarbeitet – 2005 sogar globale Standards und Rechtsnormen auf diesem Gebiet etablieren.
Diese wenigen Beispiele weisen bereits darauf hin, dass Prävention keine Erfindung der jüngeren Vergangenheit ist. Vielmehr reicht ihre Geschichte bis mindestens ins 19. Jahrhundert zurück - und wie ich zeigen möchte, lässt sich der Präventionsgedanke noch einmal hundert Jahre weiter bis in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen.
Überdies ist Prävention nicht auf den medizinischen oder gesundheitlichen Bereich beschränkt. Neben der Gesundheitsvorsorge bilden auch Unfall-, Katastrophen- und Umweltschutz sowie Gewalt- und Kriminalitätsprävention weitere Kernbereiche von Vorsorge in der Gegenwart. Es stellt sich daher die Frage, was die verschiedenen Präventionsfelder und -maßnahmen gemeinsam haben, so dass es gerechtfertigt ist, sie unter einen Begriff zu subsumieren.
Prävention kann allgemein als der Versuch betrachtet werden, zukünftige Schäden durch Maßnahmen im Hier und Jetzt zu verhindern. Prävention bezieht sich stets auf etwas, das noch nicht geschehen ist und auch nicht geschehen soll, aber geschehen könnte. Es ist – mit anderen Worten – ein Potenzial, das Sorgen bereitet. Potenzielle Ereignisse haben die Eigenschaft, dass sie weder aktuell sind, noch als bloße Fiktion abgetan werden können. Potenzielle Ereignisse sind zwar noch nicht geschehen und werden vielleicht auch niemals in der Gegenwart eintreffen – und dennoch können sie nur schlecht ignoriert werden.
„Auf die Frage, welcher Schaden wie von wem und wo verhindert werden soll, lassen sich innerhalb des präventiven Horizonts verschiedene Antworten geben.“
Als solche ist Prävention daher vor allem zeitlich bestimmt, wohingegen sie in sachlicher, technischer, sozialer und räumlicher Hinsicht offen ist. Auf die Frage, welcher Schaden wie von wem und wo verhindert werden soll, lassen sich innerhalb des präventiven Horizonts verschiedene Antworten geben. Hierbei muss aber stets vorausgesetzt werden, dass der zu verhindernde Schaden kontingent ist, also nicht notwendigerweise auftreten muss, andernfalls ließe er sich ja nicht verhindern. Um an eine existenzielle Tatsache zu erinnern: Der Tod als solcher ist kein möglicher Gegenstand von Prävention; vielmehr bildet er deren absolute Grenze. Der Zeitpunkt und die Umstände des Todes hingegen hängen von Faktoren ab, die wir durch unser Tun und Lassen beeinflussen, wenn auch nicht vollständig steuern können.
Auch wenn Menschen wahrscheinlich immer schon, zumindest in einem gewissen Maße, für den morgigen Tag vorgesorgt haben, um ihr Überleben zu sichern, kommt es seit der Aufklärung zu einer Ausweitung und Verstetigung sowie einer Verwissenschaftlichung und Professionalisierung präventiver Anstrengungen. Dies hängt mit einem Wandel von Gesellschafts- und Zeitstrukturen im Übergang zur Moderne zusammen. Dem Historiker Reinhart Koselleck zufolge haben sich in der sogenannten Sattelzeit, also grob in den Dekaden um 1800, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ voneinander entfernt und zunehmend entkoppelt. Man begann die Zukunft als grundsätzlich offen zu erleben. Die Erfahrungen, die man gemacht hat, geben immer weniger Hinweis darauf, was einen zukünftig erwartet – so die neue zeitliche Orientierung. Geschichte wurde nicht länger als eine Wiederholung des Gleichen begriffen, sie galt nunmehr als ein offener Entwicklungsprozess, in dem Fortschritt stattfinden konnte.
In diesem Zuge wurde, wie die an Koselleck anschließende Forschung herausgearbeitet hat, auch der Sinn für die mögliche Gefahr systematisch ausgebildet. Offenheit der Zukunft bedeutet ja nicht nur bewusste Gestalt- und Planbarkeit, sondern birgt auch Unsicherheiten und Gefahren in sich, die es zu erkennen gilt, um sich praktisch vor ihnen schützen. Insofern lässt sich Prävention als den Versuch betrachten, in einer Welt, die als unsicher erfahren wird, erneut Sicherheit zu erlangen.
Mit der Institutionalisierung von Präventionserwartungen werden Gefahren in Risiken umgewandelt. Jeder Schadensfall wirft fortan die Frage auf, welche Möglichkeiten man in der Vergangenheit hätte ergreifen können, um ihn abzuwenden. Im Anschluss an den Soziologen Niklas Luhmann lässt sich hier eine Schwerpunktverlagerung feststellen von einer Zurechnung auf „Gefahr“, die als von außen kommend erlebt und folglich erlitten wird, hin zu einer Zurechnung auf „Risiko“, das immer auch von eigenen Entscheidungen und Handlungen mit abhängig ist. Diese Attribution beruht nicht nur auf objektiven Handlungsmöglichkeiten, sondern auch auf kulturellen Normalitätsvorstellungen. „Man kann es als eine Gefahr ansehen“, so Luhmann, „wenn man mit Erdbeben, Überschwemmungen oder Wirbelstürmen zu rechnen hat; aber auch als Risiko, wenn man die Möglichkeiten berücksichtigt, aus dem gefährdeten Gebiet wegzuziehen oder wenigsten eine Versicherung abzu-schließen.“ Prävention meint letztlich nichts anderes als die systematische Berücksichtigung ebenjener Möglichkeit der Schadensabwehr.
„Ein zentrales Präventionsfeld ist der medizinisch-gesundheitliche Bereich. Richtete sich die sogenannte Diätetik auf das Individuum, so zielte ‚die medicinische Policey’ auf die Gesundheit der Bevölkerung.“
Eine Reflexion auf allgemeine Eigenschaften von Prävention darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Einzelnen eine große Bandbreite an präventiven Begründungsfiguren und Praktiken gibt. Ein zentrales Präventionsfeld ist der medizinischgesundheitliche Bereich. Dort lässt sich der Präventionsgedanke bis mindestens in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen. Zwei Stränge können hierbei unterschieden werden: Richtete sich die sogenannte Diätetik auf das Individuum, so zielte die „medicinische Policey“ oder auch „Medicinalpolicey“ auf die Gesundheit der Bevölkerung. Erstere leitete den Einzelnen zu einer maßvollen Lebensweise an, während letztere die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung darüber aufzuklären versuchte, wie sie die Gesundheit der ihnen anvertrauten Bevölkerung bewahren konnten.
Die aus der Antike stammende Diätetik erfuhr in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine breite Rezeption. Sogenannte moralische Wochenschriften und Gesundheitsratgeber in Buchform präsentierten ihrem zunächst, aber keineswegs ausschließlich bürgerlichen Publikum Regeln für eine maßvolle und gesunde Lebensführung. Der Einzelne sollte lernen, ein günstiges Verhältnis zwischen seiner individuellen Konstitution, die als angeboren galt, und den gegebenen Umweltbedingungen einzurichten. Mit „Diätetik“ war im 18. Jahrhundert somit weit mehr gemeint als mit dem uns heute geläufigen Verständnis von „Diät“. Es war ihr nicht nur um die Ernährung zu tun, vielmehr bezog sie sich auf die gesamte Lebensweise. Sechs Aspekte standen hierbei im Mittelpunkt: Licht und Luft, Ernährung, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Körperausscheidungen sowie Gemütsbewegungen und Affekte. Durch eine maßvolle Lebensweise gelte es, in jedem dieser Bereiche ein gesundes Gleichgewicht zu erhalten, um Krankheiten vorzubeugen.
„Das Anliegen der medicinischen Policey war es, die Fürsten und andere Entscheidungsträger im Staate über die Möglichkeiten einer politischen Regulation der Bevölkerungsgesundheit aufzuklären.“
Ein fortwährendes Ärgernis bildeten dabei die schlechten Angewohnheiten, die dazu tendierten, sich mit der Zeit zu verstärken, und die einer bewussten Gestaltung des eigenen Lebens entgegenstehen. „Man hüte sich vor bösen Gewohnheiten, weil sie immer stärker werden, und dadurch schaden“, warnte etwa Adam Andreas Senfft in seinem Gesundheitskatechismus für das Land-volk und den gemeinen Mann aus dem Jahr 1781. Um die eigene Gesundheit zu erhalten, habe man an sich selbst zu arbeiten. Weil jedoch Körperkonstitution, Gewohnheitsstruktur und Lebensumstände von Person zu Person stark variierten, wurde dem Einzelnen empfohlen, sich genau selbst zu beobachten. Nur wer die Besonderheiten seiner Existenz kenne, sei imstande, das eigene Leben angemessen zu führen.
Diese Forderung erwies sich jedoch als durchaus ambivalent. Eine zu starke Beschäftigung mit dem eigenen Körper, eine ausufernde Sorge um sich selbst könne nämlich, wie man in jener Zeit ebenfalls breit diskutierte, zu sogenannten „hypochondrischen Grillen“ führen, das heißt zu bedrückenden Krankheitseinbildungen. In den ärztlichen Abhandlungen zum Thema war zuweilen von einer „Modekrankheit“ die Rede, die insbesondere in den gebildeten Ständen grassiere.
Wer an Hypochondrie leide, achte minutiös auf alle Veränderungen seines Körpers und Gemüts. Jedes Zucken, Stechen und Unwohlsein werde zum Anlass für ausgedehnte Krankheitsängste. Folgt man Johann Clemens Tode, der 1797 einen Ratgeber mit dem sprechenden Titel Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, die ihren Zustand recht erkennen und sich vor Schaden hüten wollen veröffentlichte, lausche der Hypochonder „so genau auf seine Beschwerden […], als jemand der das Gras will wachsen hören“. Während die Diätetik dem Einzelnen empfahl, sich selbst zu beobachten, um seine Lebensweise auf die Besonderheiten des eigenen Daseins einstellen zu können, wurde sie hier mit eingebildeten Beschwerden in Verbindung gebracht.
Ungefähr zeitgleich entstand innerhalb der sogenannten Policeywissenschaft eine Teildisziplin, die sich mit Fragen der Gesundheitspolitik befasste. Das Anliegen der medicinischen Policey war es, die Fürsten und andere Entscheidungsträger im Staate über die Möglichkeiten einer politischen Regulation der Bevölkerungsgesundheit aufzuklären. Das Ziel bestand darin, so Johann Peter Frank – der mit Abstand wichtigste Vertreter dieses Ansatzes – „die Vorsteher menschlicher Gesellschaften, mit den Nothwendigkeiten der Natur ihrer Untergebenen, und mit den Ursachen ihres körperlichen Uebelseyns bekannt [zu] machen“, um so vernünftige Entscheidungen treffen zu können.
„Die medicinische Policey hat ein gesundheitspolitisches Problembewusstsein geschaffen, hinter das man seitdem nur wider besseres Wissen zurückfallen kann.“
Der Begriff der „Policey“ bezeichnete zu jener Zeit noch allgemein die gute Ordnung im Gemeinwesen, die es zu schützen galt. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Polizei-Begriff auf die heute geläufige Bedeutung enggeführt. Die medicinische Policey befasste sich folglich mit der gesundheitlichen Ordnung im Gemeinwesen. Im Unterschied zur Diätetik jedoch, die ja ebenfalls den allgemeinen Gesundheitszustand anzuheben versuchte, wendete sie sich hierbei nicht an die breite Masse der Leute, sondern adressierte die politischen Entscheidungsträger. Es handelte sich zwar auch um eine Form von Aufklärung, aber um eine Auf-klärung der Eliten. Einige Fachvertreter lehnten die medizinische Volksaufklärung, wie sie von den Autoren diätetischer Ratgeber angestrebt wurde, sogar offen ab. Denn sie bringe nur „eingebildete Kranke, unglückliche Selbstärzte und vermeßne Quacksalber“ hervor, wie Ernst Benjamin Gottlieb Hebenstreit im Jahr 1791 erklärte.
Stattdessen empfahl man, die medizinische Versorgung auszuweiten und zugunsten der akademischen Ärzteschaft zu reglementieren, die Sauberkeit des öffentlichen Raums zu verbessern, um Krankheiten vorzubeugen, und nicht zuletzt auch die Eheschließung und Familiengründung mithilfe von Anreizen und Verboten so zu steuern, dass den „Obrigkeiten“ möglichst zahlreich kräftige und gesunde „Untertanen“ geboren werden. Auch schlugen einige Autoren vor, die Kleiderwahl zu reglementieren – die Schnürbrust stand hierbei im Mittelpunkt – sowie das Schminken, das einige als gesundheitsschädigend ansahen, zu untersagen. Viele dieser Vorschläge erfuhren aber entweder gar keine Umsetzung, oder sie fanden lediglich auf Verordnungsebene ihren Niederschlag. Dennoch hat die medicinische Policey ein gesundheitspolitisches Problembewusstsein geschaffen, hinter das man seitdem nur wider besseres Wissen zurückfallen kann.
* Matthias Leanza ist Oberassistent am Departement Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Historischen Soziologie und Gesellschaftstheorie.
Tasuta katkend on lõppenud.