Loe raamatut: «Spenglers Nachleben»
Spenglers Nachleben
Studien zu einer verdeckten Wirkungsgeschichte
Herausgegeben von
Christian Voller, Gottfried Schnödl und Jannis Wagner
© 2018 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe
Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg
Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-8-6674-717-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹www.dnb.de› abrufbar.
Für die Fotografie auf S. 10 konnte trotz intensiver Recherchen leider kein Rechtsinhaber ausfindig gemacht werden. Berechtigte Ansprüche eventueller Rechtenachfolger werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen nachträglich beglichen.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Christian Voller, Gottfried Schnödl, Jannis Wagner
Zur Einleitung
Geoffrey Winthrop-Young
Kälte, Krieg und Katastrophen:
Martial-historiografische Anmerkungen zu Spengler und Kittler
Gilbert Merlio
Oswald Spengler – Ein Denker der Postmoderne, der Hypermoderne oder gar der Vormoderne?
Falko Schmieder
›Geschichte‹ als geschichtliches Problem:
Adornos rettende Kritik Oswald Spenglers
Christine Blättler
Kausalität und Fortschritt unter Verdacht
Christina Wessely
Geschichtskryonik
Die Welteislehre und Der Untergang des Abendlandes
Christoph Asendorf
Zwischen faustischem Futurismus und Posthistoire
Spenglers Technikschrift im Kontext
Hermann Rotermund
Morphologische Resonanzen
Benn – Scholz – Bense
Fabian Mauch
Spengler vor dem Untergang
Oswald Spengler
Die Berliner Kgl. Porzellan-Manufaktur
(Zu ihrem 140jährigen Bestehen am 24. August 1913)
Jannis Wagner
Spengler in der heroischen Moderne
Zu Heinz Dieter Kittsteiners Spengler-Rezeption
Heinz Dieter Kittsteiner
Oswald Spengler
Christian Voller, Gottfried Schnödl, Jannis Wagner
Zur Einleitung
Spengler standhalten … 1
(Theodor W. Adorno, 1955)
Der Fall Spengler ist einzigartig. Weder vor noch nach ihm ist ein derart populärer und einflussreicher Denker binnen kürzester Zeit so scheinbar spurlos von der diskursiven Bildfläche verschwunden. Schon 1938, keine zwei Jahre nach seiner Beerdigung, die bereits in kleinstem Kreise veranstaltet worden war, galt der für viele Deutsche – und nicht nur für Deutsche – »anregendste Geist der beiden vergangenen Jahrzehnte«2 als überwunden und vergessen. So resümierte beispielsweise Max Bense zukunftsfreudig, Spengler sei ein »epochaler Geist« nicht deshalb gewesen, weil er »eine Epoche des Denkens ermöglicht« habe, sondern weil er »selbst eine Epoche darstellt«, die spätestens mit seinem Tod an ihr Ende gekommen sei.3 »Denn der ›Untergang des Abendlandes‹ war kein äußerer, sondern ein innerer Vorgang, ein Vorgang im Theoretischen, im Denken, und mit Spenglers These hatte er sich vollzogen – und mit seinem Vergessenwerden, seiner Überwindung, seiner Abweisung ging dieser ›Untergang‹ vorüber.«4
Bense wertete das ›Dritte Reich‹, dessen Wissenschaft und Industrie zu diesem Zeitpunkt längst schon für einen neuen Krieg rüsteten und dessen dröhnende Propagandamaschinerie Skepsis, Pessimismus und Defätismus auch dort unnachgiebig denunzierte, wo die geistige Verwandtschaft zum faschistischen Projekt, wie im Falle Spenglers, nicht zu übersehen war, so implizit als die praktische Überwindung einer »Epoche der Kritik« und mithin als »Abschluss« jener »tiefsten Krisis«, die in Spenglers Untergang des Abendlandes ihren adäquaten Ausdruck gefunden habe.5 Nach vollzogener ›Machtergreifung‹ erschien ihm – und mit dieser Einschätzung lag er präzise auf der nationalsozialistischen Linie seiner Zeit – der Pessimismus Spenglers als ein »schöpferischer« vor allem insofern, als er zum »Widerspruch« gereizt und »hinter aller Kritik und Absage« ein »welthistorisches Vertrauen« transportiert habe, »das alle nachfolgenden Denker und Forscher, Techniker und Politiker in ihren Taten ewig rechtfertigt.«6
Angesichts des unbedingten Tatendrangs der Nationalsozialisten war Spengler im Deutschen Reich seit Ende der 1930er Jahre also als »Schwarzseher und Reaktionär, so wie eben die zeitgenössischen Herren solche Worte brauchten, verfemt«; im Ausland hingegen »galt er […] als einer der ideologischen Mitschuldigen am Rückfall in die Barbarei«, wie Theodor W. Adorno feststellte.7 Der epochale Schwarzseher war weithin in Ungnade gefallen. Als der praktische Versuch, Spengler zu überwinden, dann im Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht an sein Ende gekommen und seinerseits zu einer Geschichte geworden war, die es möglichst rückstandslos ›aufzuarbeiten‹ und also ihrerseits zu überwinden galt, legte sich verlegenes Schweigen über ein Werk, das eine ganze Generation von (deutschen) Intellektuellen inspiriert hatte. Im »Epilog des Nazizeitalters« stand der reaktionäre Prophet, wie der Ingenieur Georg Schreiber durchaus zeittypisch zu Protokoll gab, »glücklicherweise« für »tempi passati«.8 Zwar ist er – wie die folgenden Beiträge zeigen werden – nie ganz aus dem kulturkritischen Diskurs verschwunden, er wurde aber kaum noch zitiert und hatte der zur Nachkriegsgesellschaft geläuterten Volksgemeinschaft augenscheinlich nichts mehr zu sagen.9
»Ein Kubus aus schwärzlichem Porphyr wurde auf das Grab gesetzt und darauf nur der Name SPENGLER.«
Koktanek, Anton Mirko: Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, 463.
Der Umstand, dass Adorno 1955 in seine Essay-Sammlung Prismen einen Aufsatz unter dem Titel Spengler nach dem Untergang aufnahm, der auf einen Vortrag zurückgeht, den er 1938 im US-amerikanischen Exil gehalten hatte, muss vor diesem Hintergrund per se als Kritik einer Strategie des Vergessenmachens verstanden werden, die Spengler zwar betraf, jedoch keineswegs nur ihm, und nicht einmal vor allem ihm, galt. Im Gegenteil fügte sich das Tabu, das spätestens seit 1945 über Spengler verhängt zu sein schien, zwanglos in jene erinnerungspolitische Amnesie, die es den Nachkriegsdeutschen ganz allgemein erlaubte, von dem zu schweigen, was sie doch schwerlich vergessen haben konnten. Adornos ›Erinnerung‹ an Spengler hingegen war einer Form der Vergangenheitsbewältigung verpflichtet, die nicht auf Verdrängung, sondern Durcharbeitung gründen sollte. Weniger dem Werk in seiner Gesamtheit, über dessen Zugehörigkeit zum Theoriebestand der »extremen Reaktion« er sich keine Illusionen machte,10 galt deshalb seine »rettende Kritik Spenglers«,11 sondern dem Problem, das Spengler mit großsprecherischer Geste gelöst zu haben behauptete, und das mit seiner ›Überwindung‹ endgültig aus dem Blick zu geraten drohte: dem Problem der Geschichte in jenem emphatischen Sinn, den erst die Moderne dem Wort gegeben hatte. Denn über Spengler nachzudenken bedeutete für Adorno und die kritische Theorie vor und nach dem Krieg, über Geschichte nachzudenken.12 Nach dem »faschistischen Ende der Geschichte«13 in Deutschland an Spengler zu erinnern, hieß folglich, Einwand gegen jenes berühmte Führer-Wort zu erheben, nach dem »wesentlich« für die Nationalsozialisten allein sei, »dass die letzten, die in Deutschland Geschichte machen, wir sind!«14
Gegen das ›Vergessenwerden‹ Spenglers, das im Posthistoire der Nachkriegszeit seinen Teil zur endgültigen Sanktionierung dieses Imperativs beizutragen drohte, behauptete Adorno deshalb eine Aktualität Spenglers, die er auf den gehemmten Gang einer Geschichte zurückführte, die der Untergang des Abendlandes über das ›Dritte Reich‹ hinaus mit einer Hypothek belastet habe, die sich nicht ohne weiteres würde tilgen lassen. Nach wie vor gälte es deshalb, Spengler, »der kaum einen Gegner gefunden [hat], der sich ihm gewachsen gezeigt hätte«,15 standzuhalten. Das aber bedeutete für Adorno nicht weniger, als »den ›Standpunkt der wirklichen Geschichte‹, die keine Geschichte, sondern schlechte Natur ist, geschichtlich aufzuheben und das geschichtlich Mögliche zu verwirklichen, das Spengler unmöglich nennt, weil es noch nicht verwirklicht ist.«16 Sinngemäß ließe sich in Anlehnung an die Negative Dialektik formulieren: Philosophie, die überwunden schien, erhält sich am Leben, weil der Moment ihrer praktischen Widerlegung versäumt ward.17 Das ›Vergessenwerden‹ Spenglers wird dann als Symptom einer (Geistes-) Geschichte dechiffrierbar, die den Untergang des Abendlandes nicht einfach, wie das noch Bense und mit ihm viele Zwischen- und Nachkriegsdeutsche dachten, ›überwinden‹ kann, aber gerade deshalb vergessen muss, um nach der Katastrophe weiterlaufen zu können – einer Geschichte, zu deren allgemeinem Bewegungsgesetz das Vergessen geworden ist: »Wenn die Geschichte der Philosophie nicht so sehr in der Lösung ihrer Probleme besteht als darin, daß die Bewegung des Geistes jene Probleme wieder und wieder vergessen macht, um die sie sich kristallisiert, dann ist Oswald Spengler vergessen worden mit der Geschwindigkeit der Katastrophe, in die, seiner eigenen Lehre zufolge, die Weltgeschichte überzugehen im Begriff ist.«18
Das ›Vergessenwerden‹ Spenglers erweist sich so gesehen als das genaue Gegenteil eines Durcharbeitens oder gar einer Überwindung Spenglers. Es erscheint als eine Form der Verdrängung, in der die Wiederkehr des Verdrängten stets schon angelegt ist. Kritisch an diese Diagnose Adornos knüpfend, sprach Jacques Bouveresse 1983 in Hinblick auf ›die Postmodernen‹ (gemeint waren Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss, aber auch Georges Canguilhem und Gaston Bachelard) von »Spenglers postume[r] Rache«19 und argumentierte polemisch, »derzeit den Untergang des Abendlandes neu zu lesen« führe zu der Einsicht, »daß unsere arglosesten ›Entdeckungen‹ nichts anderes sind als traditionelle Themen, denen einzig das Vergessen einer doch erst kurze Zeit zurückliegenden Vergangenheit es erlaubt, mit wahrlich trügerischer Jungfräulichkeit wiederaufzutauchen.«20 Nur weil der Autor Spengler so gründlich vergessen worden sei, könnten viele seiner Konzepte neu und ›postmodern‹ erscheinen, befand Bouveresse und mutmaßte, vor allem der Umstand, dass »die organizistische und biologistische Sprache, in der er seine Thesen formulierte, heute naiv und höchst beunruhigend klingt«, verstelle den Blick darauf, »daß einige der charakteristischsten davon in der avancierten Philosophie und Wissenschaftstheorie heute mehr oder weniger Gemeinplätze geworden sind.«21
Bereits ein Jahr zuvor hatte Manfred Frank in seinen Vorlesungen über die Neue Mythologie polemisch zu Protokoll gegeben, es sei »fast unglaublich, wie stark die Retusche« gearbeitet habe, wenn man bedenke, wie man in »Teilen der jüngsten französischen Philosophie […] die Einheit und das Ende des abendländischen Phänomens (wie schon Nietzsche und Spengler) wiederentdeckt [und] dem wilden, grausamen Leben ein fröhliches ›Ja‹ entgegenruft«.22 Als dann 1985 mit Friedrich Kittlers Aufschreibesysteme 1800/1900 eine spezifisch deutsche Variante jenes poststrukturalistischen Denkens in Erscheinung trat, gegen das Frank so leidenschaftlich Front gemacht hatte – Geoffrey Winthrop-Young sprach von einem »distinctly German offshoot of poststructuralism«23 –, wurden die Latenzen, die Frank und Bouveresse an Teilen der zeitgenössischen französischen Theorie kritisiert hatten, virulent: »Spenglers begreiflicher Wunsch, daß ›sich Menschen der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Erkenntnistheorie zuwenden‹, kommt also an einem Punkt zumindest reichlich verspätet«,24 schrieb Kittler dort und setzte Spenglers Trias von Technik, Krieg und dem Ende der Geschichte auf die Forschungsagenda einer Medienwissenschaft, die als German media theory rasch paradigmatisch für eine bestimmte Form der Kulturwissenschaft werden sollte.25
Mit der Wiederkehr der Krise des Rationalismus, die im postmodernen Denken ihren Ausdruck gefunden hatte, und die keineswegs zufällig mit der Wiederkehr ökonomischer Krisenerfahrungen seit den 1970er Jahren zusammenfällt, kehrte also – genannt oder ungenannt – auch Spengler zurück. Was die Nachkriegszeit zu vergessen suchte, erschien auf einmal wieder zeitgenössisch. Luc Ferry und Alain Renaut gingen 1985 gar so weit, den französischen Poststrukturalismus insgesamt als eine hyperbolische Wiederholung des deutschen Diskurses der ersten Jahrhunderthälfte zu fassen und postulierten: »Das 68er-Denken, weit davon entfernt, ein rein einheimisches Produkt zu sein, ist das Resultat einer mehr oder weniger komplexen Verwendung von Themen und Thesen, die deutschen Philosophen […] entlehnt sind«.26 Neben Marx, Nietzsche, Heidegger und Freud wird auch Spengler als unterschlagene Einflussfigur angeführt, deren Wiederkehr den beiden als Index für eine prinzipielle Kritikbedürftigkeit des postmodernen Denkens galt. Auch Bouveresse merkte sarkastisch an, die Persistenz Spenglers müsse »entweder als Zeichen [eines] außergewöhnlichen Scharfblicks« seinerseits, »oder aber als Beweis der leichtfertigen Unbesonnenheit, Inkompetenz und erstaunlichen Oberflächlichkeit einer gewissen Zahl heute lebender Theoretiker […] gewertet werden.«27
Spenglers ›Wiederkehr‹ wurde so vor allem auf Fehlleistungen einzelner Philosophen zurückgeführt, die ihn hätten lesen müssen – sei es seines Scharfblicks wegen, sei es um seinem schwärmerischen Irrationalismus zu entgehen. So zutreffend diese Kritik von Fall zu Fall auch sein mag, sie verfehlt doch das Problem der anhaltenden akademischen und gesellschaftlichen Nachfrage nach Gedanken, die bereits bei Spengler formuliert waren und sein ›Vergessenwerden‹ offenbar überdauert haben. Denn es ist kaum von der Hand zu weisen, dass viele jener dezidiert postmodernen Konzepte, die in Spenglers Werk Referenzpunkte haben, die zu selten thematisiert werden, heute zu kulturwissenschaftlichen Gemeinplätzen geworden sind. Zu nennen wären etwa die Verabschiedung des modernen Fortschrittsmodells zugunsten einer Vielheit der Geschichten und die Ersetzung des Gesellschafts- durch den Kulturbegriff, der kulturelle und historische Relativismus und die damit einhergehende Identifizierung von abendländischer Kultur und kritischer Vernunft, der methodische Eklektizismus der kulturwissenschaftlichen Disziplinen und ihre Abneigung gegen kausale Erklärungsmuster sowie nicht zuletzt die kulturelle Bedingtheit auch der objektiven Naturwissenschaften, wie sie in der kulturwissenschaftlichen Wissenschaftsgeschichte behauptet wird.28 Es wäre von daher schlechte Ideologiekritik, derart weitreichende Phänomene umstandslos auf die vermeintliche Unbesonnenheit und Inkompetenz einzelner Diskursbegründer zurückführen zu wollen.
Gegen ein »traditionell ideologiekritisches Abfertigen« der Postmoderne, das er vor allem bei Habermas bemängelt, auf je eigene Weise aber auch in den einschlägigen Texten von Bouveresse, Frank, Ferry, Renaut oder auch Alfred Schmidt29 hätte finden können, wies Burghart Schmidt deshalb nicht ohne Hoffnung darauf hin, dass in der »postmodernen Atmosphäre Probleme wiederaufgetaucht« seien, die durch »unsere jüngste Moderne, bestehend aus Restauration des Kapitalismus nach einer Weltkriegsexplosion, vergessen gemacht werden sollten.«30 Nicht zuletzt die (latente) Rückkehr spenglerianisch-morphologischer Denkformen, die er exemplarisch an der archäologischen Geschichtstheorie Michel Foucaults nachzuweisen suchte,31 wurde für Schmidt vor diesem Hintergrund zu einem Indikator dafür, dass sich in der postmodernen Philosophie etwas »regt«, das ein »heute fälliges aufklärerisches Erinnern ausmacht, gemäß Benjamins Einsicht, daß kein Erinnern, will es Erinnern sein, ohne produktives Vergessen auskommt«.32
Lastet man das ›Vergessenwerden‹ Spenglers und die darauf folgende ›Wiederentdeckung‹, dieser Logik folgend, nicht allein einem unredlichen oder mangelhaften Philosophieren an, sondern erkennt in den postmodernen Strategien des Vergessens (Burghart Schmidt) das zeittypische Wesensmerkmal eines Denkens, das ungebrochen modern zwar nicht mehr sein kann, sich aus den Aporien einer Moderne, deren produktiver Grund nach wie vor kapitalistisch organisiert ist, jedoch auch nicht zu lösen vermag, so könnte der Blick geklärt werden für die »überzeugenden Vernünftigkeiten« innerhalb bestimmter »Irrationalismen«, die gegenüber »bestimmte[n] Typen der Rationalität Wahrheit für sich« haben.33 Denn »Ideologien, auch die postmodernen« – daran wäre mit Gérard Raulet zu erinnern – »sind nie völlig aus der Luft gegriffen. Die Parole vom Eintritt in die Postmoderne kann man nicht einfach disqualifizieren, indem man den irrationalistischen Gefahren des postmodernen Diskurses den Appell an eine ›Vernunft‹ entgegensetzt, die so lange bloßes Ideal bleibt, als wir nicht erwiesen haben, daß dieser emphatische Vernunftbegriff […] sich noch realisieren lässt.«34
Das Unterfangen, Spenglers ›postmodernes‹ Nachleben aus der Latenz zu bergen und zum Gegenstand der kritischen Analyse zu machen, könnte so gesehen seinen Teil dazu beitragen, einen Weg freizulegen, der von der Standpunktkritik des Kritischen Rationalismus und der Diskursethik à la Habermas zu einem Verfahren der Kritik postmodernen Denkens führt, das nicht darauf verwiesen bleibt, herrschender Irratio und selbstzerstörter Moderne zum Trotz ›Vernunft‹ und ›Modernität‹ gegen ein Denken ins Feld zu führen, dessen Wahrheitsgehalt doch gerade in seinen irrationalen und selbstzerstörerischen Zügen zu suchen wäre. In diesem Sinn hatte Adorno, der dabei gewiss auch seine eigene, langwierige Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus Spenglers im Kopf hatte, bereits 1930 postuliert, von den »Vertretern der extremen Reaktion« sei »für alle Fälle mehr zu lernen als von denen des gemäßigten Fortschritts, weil sie vom erscheinenden Gegenstand wenigstens den Choc notieren, den jene historisch eilfertig beseitigen«.35
Wenn wir also heute, hundert Jahre nach dem Erscheinen von Der Untergang des Abendlandes, an Spengler erinnern und sein (latentes) Nachleben in diversen Strömungen der nicht-mehr-modernen Geistesgeschichte thematisch machen wollen, dann zielt das auch und vielleicht vor allem darauf, die (unbewusste) »Erinnerung postmoderner Phänomene«, wie Schmidt vorschlug, »gegen das Vergessenmachen im Postmodernismus«36 zu bewahren, um so das Denken über die Postmoderne – von dem das postmoderne Denken doch lediglich ein Teil ist – als Symptom einer gehemmten Zukunft (Gérard Raulet) zu analysieren, für die Spenglers Untergangs-Theorem ein ebenso frühes wie intellektuell anregendes Zeugnis abgibt. Die periodische Wiederkunft Spenglerscher Motivlagen in jeweils modischem Gewand käme dann als Niederschlag der objektiv verstellten Auswege aus den Aporien der warentauschenden Moderne in Betracht, wäre kritikbedürftig nicht allein für sich genommen, sondern vor allem als Symptom. Als Gegenstand des Nachdenkens, nicht als Indikator leichtfertiger Unbesonnenheit im Umgang mit dem theoriegeschichtlichen Erbe, könnte die (verdeckte) Wirkungsgeschichte Spenglers, die sich bis in die aktuelle Theorielandschaft hinein nachweisen lässt, also über die allzu simple Disqualifizierung eines Denkens hinausweisen, das sich jenseits einer Moderne zu positionieren sucht, deren Freiheitsversprechen bis heute nicht verwirklicht ist. Der verfehlten ›Überwindung‹ Spenglers wäre in diesem Sinn ein Durcharbeiten jener Probleme entgegenzusetzen, die sein ›Vergessenwerden‹ so beharrlich zu überdauern scheinen.
Es gilt also, die persistente Zeitgenossenschaft Spenglers als Symptom einer Zeit zu begreifen, in der die Moderne unwiderruflich an ihr Ende gekommen zu sein scheint, ohne jedoch den vernünftigen Abschluss gefunden zu haben, den jene dialektischen Geschichtskonzeptionen des bürgerlichen Zeitalters vorsahen, mit denen zu brechen Spengler angetreten war. Der Term postmodern bezeichnet für uns deshalb auch keine wie auch immer identifizierbare Epoche der Architektur-, Philosophie-, Kunst- oder Kulturgeschichte, sondern fungiert als behelfsmäßiger Begriff für die zahllosen Versuche, ein Denken nach der Moderne, die bei Spengler eine ›faustische‹ hieß und vor allem als ›westlich‹ und technologisch begriffen wurde, zu etablieren, das sich jenseits von Kritik und Dialektik, Subjekt und Objekt, Individuum, Fortschritt und Geschichte zu positionieren sucht, und dabei – allzu oft bewusstlos – das Wahrheitsmoment bewahrt, dass die Versprechen, die mit den großen Leitbegriffen und -erzählungen der Moderne verbunden waren, praktisch uneingelöst geblieben sind. »Wenn nämlich der Begriff des Postmodernen einen Sinn hat, dann nur, weil uns die Moderne um die Modernität betrog.«37
Zu diesem Band
100 Jahre nachdem Spengler seinem Untergang des Abendlandes den demütigen Wunsch mit auf den Weg gegeben hat, er möge »neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen«,38 muss man wohl von einer Spengler-Renaissance sprechen, die nicht ohne Weiteres abzusehen gewesen ist. Europaweit werden heute T-Shirts mit dem Konterfei des Schwarzsehers und Sticker vertrieben, auf denen seine längst zum Bonmot gewordene Maxime Optimismus ist Feigheit zu lesen steht. Ausgehend vom Silicon Valley breitet sich die neoreaktionäre Lehre eines dark enlightenment aus, die Spengler bereitwillig Tribut zollt und ihn zu einem Stichwortgeber für das Syndrom Alt-Right – also einen erneuerten, internetbasierten Rechtsradikalismus in den Vereinigten Staaten – erhebt.39 William Strauss und Neil Howe betreiben eine Unternehmens- und Politikberatungsagentur, deren Prognosen sich auf einen amerikanisierten – und das bedeutet vor allem: historisch beschleunigten – Spengler berufen, der für beliebige Kundschaft präzise Schicksalsanalysen samt entsprechender Handlungsanweisung parat hält.40 Obwohl dieses obskure Unternehmen schon länger existiert, wurde es doch erst im Zusammenhang der Wahlkampagne Donald Trumps prominent, der mit Steven Bannon einen Spenglerianer im Geiste und langjährigen Propagandisten der Thesen Strauss’ und Howes zu seinem wichtigsten Strategieberater gemacht hatte. In Russland buhlen zur selben Zeit Spengler-Verehrer um politischen Einfluss, die von der Heraufkunft einer tausendjährigen Eurasischen Kultur raunen,41 und auch hierzulande versuchen Philosophen, Spengler in den Dienst ihrer Partei zu stellen.42
Spengler, so wäre angesichts dessen ohne Häme zu konstatieren, kann wohl nicht mehr als vergessen gelten, sondern ist vielmehr in jener ›Zivilisation‹ angekommen, die er selbst prognostiziert hatte. Der Zugriff auf sein Werk hat sich vom huldvollen Duktus gelöst und erweist sich auch seiner Form nach als zeitgemäß. Die »online culture wars«43 der vergangenen Jahre und der von rechts angestrebte Marsch durch die Institutionen, geschichtsphilosophisch fundierte Unternehmensberatung, subkultureller merchandise und die Anpassung an den beschleunigten Lauf der Dinge in der neuen Welt haben sich für Spengler zu einem ›Schicksal‹ gefügt, dessen Grellheit noch nicht offen zutage getreten war, als wir im Januar 2016 nach Lüneburg zu einer Tagung einluden, um die eingangs skizzierten Thesen mit Gästen unterschiedlicher Fachrichtungen zu diskutieren.44 Deutlich zeichnete sich jedoch die allgemeine reaktionäre Wende in der Politik ab, deren Zeugen wir heute sind. Patriotische Europäer marschierten in vielen deutschen Städten gegen die Islamisierung eines Abendlandes, wobei die Rede vom ›Untergang des Abendlandes‹ – der doch bei Spengler weniger als Katastrophe denn als »Vollendung«45 gedacht war – den konservativ revolutionären Sound der Zwischenkriegszeit imitierte. Die Rede vom decline of the west und Phantasmen einer unausweichlichen Bedrohung sind seither allgegenwärtig und Erzählungen von Untergang, Kampf und Rettung wieder zu harter Münze in einem politischen Geschäft geworden, das nach Entscheidern, charismatischer Herrschaft und großen Tätern giert.
Die Rede von der ›Zeitgenossenschaft Spenglers‹, die wir in kritischer Absicht auf Tendenzen der jüngeren, kulturwissenschaftlich geprägten Geistesgeschichte gemünzt hatten, bekam dadurch einen anderen Sinn als den intendierten, und es stand zu befürchten, dass unser subversives Spengler-Interesse in diesem Klima mehr und andere Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde, als uns lieb gewesen wäre. Wir waren also mit einer nunmehr auch politischen Gegenwart des »Antiquariat Spengler«46 konfrontiert, die Thema unserer Diskussionen war und in zahlreichen Vorträgen adressiert wurde. Einigkeit herrschte darüber, dass diese Wiederentdeckung Spenglers außerordentlich bedeutsam sei; was uns interessierte, war im Kern jedoch etwas anderes. Es hing ein Wort des 2008 verstorbenen Historikers Heinz Dieter Kittsteiner in der Luft, bei dem einige von uns studiert und dabei wiederholt von einer verdeckten Wirkungsgeschichte Spenglers gehört hatten, in der Kittsteiner offenbar einen möglichen Schlüssel für sehr unterschiedliche Phänomene der (akademischen) Diskussionen nach 1945 und bis in die Gegenwart hinein vermutete. Das passte zu Erfahrungen, die wir gemacht hatten. Denn dort, wo kulturwissenschaftlich und stets im Plural von Kulturen gesprochen wird, scheint Spengler, einem ungeliebten und von daher ungenannten Verwandten gleich, nie ganz abwesend zu sein – zumindest für die, die sich erinnern wollen. Die Frage war also, wie eine derart ›verdeckte‹ Wirkungsgeschichte, die sich wohl nicht einfach als Rezeptionsgeschichte fassen lässt, zu modellieren wäre.
Wir hatten die Metapher Resonanzen vorgeschlagen, um einerseits die vielfältigen Phänomene auf einen Begriff zu bringen, die Spenglers Nachleben jenseits linearer Rezeptionsgeschichten bis in aktuelle Debatten hinein charakterisieren, und andererseits Spengler selbst als einen Resonanzkörper zu diskutieren, in dem der krisengeschüttelte – und in gewisser Hinsicht schon damals postmoderne – Geist des beginnenden 20. Jahrhunderts widerhallt. Für die Diskussion hat sich diese Metapher als erfreulich produktiv erwiesen. Als jedoch zwei Monate nach unserer Tagung Hartmut Rosa seinen Band Resonanz vorlegte,47 mussten wir uns eingestehen, dass die Geistesgeschichte uns überholt hatte. Das vielfältige Schwingen und Widerhallen über Raum und Zeit hinweg, das in der Metapher von der Resonanz zum Ausdruck kommt, wurde hier auf seinen Literalsinn gebracht und zur Würde eines Begriffs erhoben, der eine neue materialistische Kulturtheorie begründen sollte. Zurecht hat Christoph Görlich dieses »Überspringen der Metapher in Eigentlichkeit« dafür kritisiert, als »umfassend und primordial, ja existentiell« zu erscheinen und die Arbeit des Begriffs so stillzustellen, anstatt sie zu entbinden.48 An einer akustisch grundierten ›Soziologie der Weltbeziehung‹ jedenfalls war uns nicht gelegen; und das, was seither als ›Resonanztheorie‹ in den Kulturwissenschaften diskutiert wird, scheint uns der »eigenartige[n], vielleicht ein wenig geistige[n] Vorliebe für Musik«, die Bense Spengler attestierte, 49 näher zu stehen, als dem, was wir mit der Metapher zu leisten versuchten. Zwar operierte auch die provisorische Rede von den Resonanzen Spenglers, die wir auf die Tagungsordnung gesetzt hatten, genau wie der Resonanz-Begriff Rosas mit einem »Moment konstitutiver Unverfügbarkeit«, jedoch nicht in Bezug auf ein wie auch immer vorgängiges »In-die-Welt-Gestelltsein«,50 sondern eher im Sinn einer historiografischen Heuristik, die auf jene verdeckte und schon von daher nie ganz verfügbare Wirkungsgeschichte Spenglers zielt, von der Kittsteiner so oft gesprochen hatte, ohne seine These jemals auszuformulieren.
Es ging uns dabei, wie gesagt, nicht allein um positiv nachweisbare Rezeptionsstränge, sondern auch um die Wiederkehr des tatsächlich Vergessenen als etwas ›gänzlich Neuem‹, das Bouveresse diagnostiziert hatte, sowie die Reflexion auf einen sich wandelnden historischen Resonanzraum. Denn das, was da wiederkehrt, ist ja schon deshalb nicht einfach Dasselbe, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen zwischenzeitlich verändert haben. Diesem Umstand sollte Rechnung getragen werden, indem die Postmoderne im denkbar weitesten Sinn des Wortes als eine Epoche diskutiert werden sollte, deren historische Legitimationsnot sich symptomatisch auch daran ablesen lässt, dass sie Spengler zwar vergessen, jedoch nicht überwinden kann. Das Phänomen ›Postmoderne‹ sollte in diesem Sinne weniger von einer ihrerseits postmodernen Rhetorik des Bruchs her erschlossen, als vielmehr in der Kontinuität einer stets schon krisenhaften Spätmoderne diskutiert werden.
Spengler schien sich für ein derartiges Vorhaben in mindestens dreifacher Hinsicht anzubieten: Erstens als früher Denker einer condition postmoderne (Jean-François Lyotard). Denn insofern der Untergang des Abendlandes zwar das Ende der faustischen Moderne modelliert, aber weder das Ende der Welt noch ein Ende der Menschheit als Gattung vorsieht, hat er eine wie auch immer geartete Nachgeschichte zum Thema. Zweitens ist Spengler als Krisensymptom und -diagnostiker einer Moderne von Interesse, die zumindest insofern als gescheitert verstanden werden muss, als ihre konstitutiven Kategorien (Aufklärung, Fortschritt, Menschheit und Geschichte) irgendwann zwischen den Weltkriegen ihre Plausibilität eingebüßt haben, das Ende der Geschichte aber nach wie vor unabsehbar bleibt. Spengler fungiert hier in mehr als einer Hinsicht als Schwellenphänomen, denn sein Werk ist dem bürgerlichen Pathos der Prognose zwar noch verpflichtet, hat das geschichtsphilosophische Axiom, nach dem es in der Geschichte endlich einmal vernünftig zugegangen sein wird, jedoch schon verabschiedet. Und drittens trägt Spenglers »abgeschiedenes geisterhaftes Nachleben« in der Postmoderne Züge jener »Blindgänger der Moderne«, von denen Gert Mattenklott schrieb, ihre »eingebildete oder tatsächliche Brisanz« wirke als »ein ungewisses, verunsicherndes Potential, mit dem man rechnen muss, ohne es zu können, eine zuverlässige Abweichung, in Größenordnung und Effekt unkalkulierbar.« Gerade darin aber liege das »Geheimnis ihrer Wirksamkeit« und »es könnte«, so Mattenklott, »sein, daß man sehr wenig davon halten würde, wenn man mehr darüber wüßte.«51 Im glatten Gegensatz zu einem ›Vergessenwerden‹ mit ungewissen Folgen, könnte der Versuch, Spenglers Nachleben zu thematisieren demnach auch bedeuten, den Blindgänger, den er hinterlassen hat, zu entschärfen.