Loe raamatut: «Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit»

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Patrick Wolf-Farré / Katja F. Cantone / Anastasia Moraitis / Daniel Reimann

Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit

Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata

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© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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ISSN 2199-1340

ISBN 978-3-8233-8349-9 (Print)

ISBN 978-3-8233-0254-4 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

 I. GrundlagenSprachkontrast und Mehrsprachigkeit1 Einführung2 Sprachwissenschaftliche Grundlagen3 Mehrsprachigkeit – Versuch einer begrifflichen Einordnung4 Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik5 Fazit – Ausblick – LeerstellenLiteraturBedingungen für die Einbindung von nicht-landessprachlichen Herkunftssprachen in den landessprachlichen Deutschunterricht1 Herkunftssprachen im Deutschunterricht?2 Kasuistik als hier notwendiger methodologischer Zugriff3 Bedingungen für die deutschunterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen4 Abschließende ÜberlegungenLiteraturPhraseologie und Phraseodidaktik: theoretische Grundlagen und Aspekte der Unterrichtsgestaltung1 Einleitung2 Zur Entwicklung der Phraseologieforschung3 Zum Untersuchungsgegenstand der Phraseologie4 Terminologische Vielfalt5 Begriffsbestimmung6 Phraseodidaktik7 AusblickLiteraturDie Rolle der Sprachtypologie bei der Ausbildung unserer DaF/DaZ StudierendenEinleitung1 Sprachtypologie im Überblick2 Die moderne Sprachtypologie in Anlehnung an Greenberg3 Das Konzept der heißen und kühlen Sprachen4 Relevanz oder Nutzen für den FremdsprachenlehrendenLiteraturAbkürzungsverzeichnisKopie Fragebogen

 II. Empirie und FallstudienKontrastive Grammatik im Sprachunterricht in ladinischen Schulen SüdtirolsEinführung1 Theoretischer Rahmen2 Soziolinguistischer Kontext3 KL zur Beschreibung von typologischen Merkmalen von Sprache(n)4 SchlussbemerkungenLiteraturDie Lesekompetenz im Französisch als erste und als zweite Fremdsprache unter Berücksichtigung der Schulsprache Deutsch am Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe I1 Einleitung2 Theoretische Grundlagen Lesen in einer mehrsprachigen Perspektive3 Forschungsfragen zum Systemvergleich4 Methodisches Vorgehen5 Resultate6 SchlusswortLiteraturverzeichnisHerkunftsbedingte Mehrsprachigkeit als begünstigender Faktor sprachvergleichender Arbeit im Deutschunterricht?1 Einleitung2 Lehrkräfte mit Migrationshintergrund: Erwartungen und Hoffnungen der Bildungspolitik – eine Zusammenführung3 Mehrsprachiger Erwerb: immer gegeben?4 Die Studie5 Die Datenanalyse6 Ergebnisse und offene FragenLiteraturverzeichnisBulgarisch L1, Deutsch L2 und Spanisch L3: Die Vergangenheitstempora1 Mehrsprachliche kontrastive Grammatik als Grundlage der Tertiärsprachendidaktik2 Mehrsprachigkeit bulgarischer Migranten in Deutschland: Sprachkonstellationen3 Die Tempora des Indikativs im Bulgarischen, Deutschen und Spanischen: Ein kurzer Umriss4 Sprachtransfer und Interferenzen5 Zusammenfassung und AusblickLiteratur„Isch komm isch“ – Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit am Beispiel der Comedy von Benaissa Lamroubal (RebellComedy)1 Einführung2 Komik als analytisches Instrument3 Interkulturelle Komik, RebellComedy und Benaissa Lamroubal4 Sprachinterferenzkomik, Sprachkontrastierung und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit5 Fazit: Sprachdidaktische Ressourcen der interkulturellen KomikLiteratur

 III. Konzeptionelle EntwürfeFür eine Didaktik des Rumänischen als Schulsprache in Deutschland1 Fragestellung, Zielsetzung und Methode2 Begründungszusammenhänge3 Linguistische Dimensionen in kontrastiv-linguistischer und mehrsprachigkeitsdidaktischer Perspektivierung4 Umsetzungsperspektiven für die Praxis5 Zusammenfassung und FazitBibliographieSprach- statt Sprechunterricht – ein PlädoyerEinleitung1 Kommunikation2 Fremdsprachenlernen3 Fremdsprachunterricht4 Perspektiven5 SchlussLiteraturverzeichnis

Vorwort

Patrick Wolf-Farré, Katja F. Cantone, Anastasia Moraitis, Daniel Reimann

Im Mittelpunkt des Sammelbandes steht die kontrastive Linguistik als eine der Subdisziplinen der vergleichenden Sprachwissenschaft. Im Vergleich ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen, im Vergleich öffnen sich Zugänge zur eigenen und fremden Sprache und im Vergleich lassen sich sprachliche und kulturelle Grenzen erkennen und somit überwinden. Dabei kann sich eine erste Annäherung auf theoretischer Ebene vollziehen. Werden zwei Sprachen gegenübergestellt, dann lassen sich – basierend auf typologischen Klassifikationen – sprachspezifische Eigenschaften wie morphosyntaktische Konstruktionen herausarbeiten. In unterrichtlichen Kontexten können die erkannten Unterschiede gegebenenfalls Prognosen über potenzielle Schwierigkeiten bei der Aneignung einer Sprache vor dem Hintergrund einer typologisch differenten Sprache ermöglichen.

Nachdem Mehrsprachigkeit als Thema im didaktischen Diskurs nahezu allgegenwärtig erscheint, ist die Forderung nach der Berücksichtigung, Sichtbarmachung oder Förderung anderer Sprachen als der Deutschen im schulischen Alltag nach wie vor von hoher Aktualität. Während aber Sprachkontrastivität in ihrer Bedeutung für den Spracherwerb in der Fremdsprachenforschung viel diskutiert wurde und mitunter noch wird, offenbaren Schulbuchanalysen einen Mangel an Anwendungsmöglichkeiten von Sprachvergleichen in der Unterrichtspraxis (im Deutschunterricht wie auch im Fremdsprachenunterricht). Angesichts der Tatsache, dass von Seiten der schulischen Curricula entsprechende Inhalte gefordert werden, ist diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis kritisch zu betrachten. Hinzu kommt, vielleicht auch als Folge dieses Mangels, dass seitens der angehenden Lehrkräfte sprachkontrastive Arbeit im Unterricht häufig als gute Idee angesehen wird, die aber nur sehr schwer umzusetzen ist.

Es gilt das Dilemma zu überwinden, das zwischen den Vorgaben der schulischen Curricula einerseits – nämlich mehrsprachigkeitssensibel im Unterricht zu agieren – und dem Mangel didaktisch adäquater und den Unterricht unterstützender Materialien andererseits besteht. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie kann sprachvergleichende Arbeit im Sprachenunterricht implementiert werden, ohne die Lernenden, aber auch ohne die Lehrenden zu überfordern? In einer von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Vielfalt geprägten Gesellschaft ist die Beantwortung dieser Frage mehr als dringlich.

Das vorliegende Werk, das besonders Studierende des Lehramts im Blick hat, will erste Schritte zur Beantwortung dieser Frage gehen. Es vereint Ansätze aus der Germanistik, Romanistik und Deutsch als Zweitsprache / Deutsch als Fremdsprache mit kultursoziologischen, fachdidaktischen und mehrsprachigkeitsforschenden Blickwinkeln. Dabei werden Forschungsperspektiven aus Deutschland, der Schweiz, Griechenland, Italien und Spanien gebündelt, die dazu beitragen möchten, genau die Lücke zwischen theoretischem Diskurs und praktischer Umsetzung wissenschaftsbasiert zu schließen. Alle Beiträge sind aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Sommersemester 2019 in Kooperation der Institute für DaZ/DaF und Romanistik an der Universität Duisburg-Essen stattgefunden hat. Diese Veranstaltungsreihe verfolgte gleich zwei Ziele: Zunächst sollte sie die Studierenden auf möglichst praxisnahe Weise an die sprachkontrastive Arbeit heranführen. Weiterhin sollte speziell die naheliegende Verbindung zwischen den Themen der Mehrsprachigkeit im Unterricht und dem Sprachvergleich herausgearbeitet werden.

Wir möchten an dieser Stelle dem Dekan der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen, Herrn Prof. Dr. Dirk Hartmann, herzlich für die Finanzierung danken, wodurch die Veröffentlichung ermöglicht wurde. Ebenfalls danken wir der Kommission zur Qualitätsverbesserung in Lehre und Studium, welche die Ringvorlesung mit Mitteln unterstützt und uns damit den internationalen und interdisziplinären Austausch ermöglichte hatte, der die Grundlage für dieses Werk darstellt. Unser Dank gilt auch den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Monique Grüter, Sebastian Wolf und Sarah Schiffbäumer, die uns bei der Arbeit an diesem Sammelband tatkräftig unterstützt haben.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes unterlagen einem je zweifachen, doppelt-blinden Peer-Review-Verfahren. So sei an dieser Stelle allen externen Gutachterinnen und Gutachtern, die mit ihrer Expertise zur Veröffentlichung dieses Buches beigetragen haben, für ihre Zeit und ihren kritischen Blick besonders gedankt.

I. Grundlagen
Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit

Linguistische Grundlagen, didaktische Implikationen und Desiderata

Anastasia Moraitis

1 Einführung1

Die Bildungs- und Schulpolitik hat ein besonderes Interesse daran, das Bewusstsein für Mehrsprachigkeit in den Schulklassen zu schärfen und zu fördern. Mit Blick auf die philologischen Fächer werden laut den curricularen Vorgaben von den Lernern umfangreiche Kompetenzen erwartet, die für das Erreichen einer dem Schulabschluss adäquaten Ausbildung bindend sind. Zur Ausbildung gehört auch, empathisch motivierte Begegnungen mit verschiedenen Herkunftssprachen zu ermöglichen und zu fördern. Für Schulen – bspw. in Nordrhein-Westfalen – wurde daher festgelegt: „Dem Deutschunterricht kommt für das sprachliche Lernen in allen Fächern orientierende Funktion zu […]. Kinder und Jugendliche anderer Herkunftssprachen können aus ihren Erfahrungen der Mehrsprachigkeit einen Beitrag zur vertieften Sprachkompetenz und Sprachbewusstheit leisten“ (cf. KLP 2004, 11). Mit Beendigung der Jahrgangsstufe 9/10 an einer Realschule sollten Schülerinnen und Schüler über eine hohe Reflexionskompetenz verfügen: „Sie reflektieren ihre Kenntnis der eigenen Sprache und ihre Bedeutung für das Erlernen von Fremdsprachen. (Mehrsprachigkeit zur Entwicklung der Sprachbewusstheit und zum Sprachvergleich nutzen)“ (cf. KLP 2004, 41). Mit Beendigung der Sekundarstufe I am Gymnasium haben die Lerner sich mit Mehrsprachigkeit als individuellem und gesellschaftlichem Phänomen beschäftigt (cf. KLP 2019, 31). Ähnliches gilt auch für das Fach Deutsch an Hauptschulen am Ende der Doppeljahrgangsstufen 5/6, 7/8 und 9/10 (cf. KLP 2011, 19, 23, 28). Die Vermittlung von fachspezifischen Inhalten sowie die Bezugnahme auf Themen zur Förderung sog. soft skills obliegt den Lehrkräften. Von ihnen sind folglich neben fundierten einzelsprachlichen Kompetenzen auch Grundkenntnisse über sprachwissenschaftliche Themen zu erwarten. Zudem gewinnt professionelles Wissen über Schlüsselthemen wie Sprachbewusstheit und Mehrsprachigkeit in der Lehramtsausbildung besonders vor dem Hintergrund einer wachsenden mehrsprachigen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Angesichts dieser aktuellen gesellschaftlichen Veränderungstendenzen formiert sich eine Mehrsprachigkeitsdebatte, die insbesondere Überlegungen innerhalb einer Mehrsprachigkeitsdidaktik dringlich werden lässt. Parameter der Inklusion und Diversität lassen die Frage nach sprachlicher Integration und mehrsprachigen Unterrichtspraktiken sowie deren Realisation bspw. über die Einbeziehung von herkunftsbedingter Mehrsprachigkeit in Unterrichtssettings, Sprachkontrast/-vergleich akuter werden. Daher liegt das prioritäre Anliegen dieses Beitrags darin, die Hervorhebung des Sprachvergleichs mit drei relevanten Themenfeldern zu flankieren und in diese einzuführen. Das sind a) die linguistische Disziplin „Vergleichende Sprachwissenschaft“ (cf. Abschnitt 2), b) das Arbeitsfeld „Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik“ und c) das Thema „(Sprach)bewusstheit“ (cf. Abschnitt 3-4). Mehrsprachigkeit und Sprachkontrast, das sei vorab festgehalten, bedingen einander auf vielen Ebenen. Diese Bedingtheit hebt die Bedeutung von sprachvergleichender Arbeit in den Vordergrund und macht sie zu einer wertvollen didaktischen Strategie in der Auseinandersetzung mit Sprache(n).

2 Sprachwissenschaftliche Grundlagen

Mit Rekurs auf die curricularen Vorgaben ist es notwendig, einen Blick auf das Arbeitsfeld der Sprachwissenschaft zu werfen, konkret auf die „Vergleichende Sprachwissenschaft“. In dieser werden Disziplinen subsummiert, die sich mit dem Vergleich von Einzelsprachen auf diachroner und/oder synchroner Achse beschäftigen. Die im Laufe der Geschichte allmählich ausdifferenzierten Forschungsstränge werden heute als Subdisziplinen der theoretischen und angewandten Sprachwissenschaft betrachtet und nach Lehmann (2013) in drei Arbeitsbereiche unterteilt, die er wie folgt beschreibt:


1. Wenn die allgemeine Sprachwissenschaft typologischen Vergleich von Sprachen betreibt, ist sie allgemein-vergleichende Sprachwissenschaft.
2. a) Wenn die historische Sprachwissenschaft historischen/genetischen Vergleich von Sprachen betreibt, ist sie historisch-vergleichende Sprachwissenschaft.
b) Wenn die geographisch-vergleichende Sprachwissenschaft arealen Vergleich von Sprachen betreibt, ist sie Areallinguistik.
3. Wenn die angewandte Sprachwissenschaft den kontrastiven Vergleich von Sprachen betreibt, ist sie kontrastive (oder konfrontative) Linguistik.

Abb. 1:

Schematische Darstellung nach Lehmann (2013).

Das Schaubild visualisiert die differenten Arbeitsfelder der vergleichenden Sprachwissenschaft und unterstreicht die enge Vernetzung und ihre daraus resultierende Komplexität nach Lehmann. Während die ersten beiden Subdisziplinen (cf. oben 1-2) nach den typologischen, historischen und geographischen Zusammenhängen von Sprache fragen, beschäftigt sich die Kontrastive Linguistik (cf. 3) als Teildisziplin der Angewandten Linguistik mit dem Vergleich von mindestens zwei Sprachen (L1 und L2)1. Sie ist zudem in der Fremdsprachendidaktik2 und in der Mehrsprachigkeitsdidaktik verortet (cf. Abschnitt 4).

Zur besseren Einordnung des komplexen, aus vielen Teildisziplinen bestehenden Geflechts soll im nächsten Abschnitt ein kurzer Exkurs in die Sprachgeschichte dienen und mit folgendem Zitat eingeführt werden:

Die historische Perspektive ist […] in wissenschaftlicher Hinsicht absolut notwendig für das Verständnis der Fragestellungen innerhalb der Disziplinen. Denn die Fragstellungen einer Wissenschaft stehen nicht in einem leeren Raum. Sie sind nicht absolut, und sie sind nicht unzeitlich. Vielmehr entspricht jede Fragestellung einer geschichtlichen Situation und kann nur im Rahmen dieser und von dieser her richtig verstanden werden. […]. In dieser Hinsicht ist die Geschichte eines jeden Gegenstandes Kontinuität und Änderung zugleich, d.h. Entwicklung. (Coseriu / Meisterfeld 2003, 3)

2.1 Von der traditionellen Grammatik zur vergleichenden Philologie. Ein historischer Streifzug

Angefangen bei der bereits in der Antike gestellten Frage, was eine Sprache überhaupt konstituiere, bis zur Prognose für die Kontrastive Linguistik für das Jahr 2020 (v. Stutterheim 2018) kann für die Sprachwissenschaft ein Weg nachgezeichnet werden, der noch lange nicht beendet ist.1 Grammatiktheoretische Grundlagen – Basis von sprachvergleichender Arbeit – differenzierten sich im Laufe der Jahrhunderte immer stärker aus, bis alle Erkenntnisse gebündelt im beginnenden 20.Jahrhundert in die Disziplin Linguistik mündeten. Von den zahllosen sprachhistorischen Meilensteinen, die im Laufe der Zeit gesetzt wurden, können hier nur einige wenige angeführt werden, was der sehr umfangreichen Materialfülle geschuldet ist. Mit Rekurs auf die Antike sind für die frühe Zeit Philosophen und Grammatiker wie Protagoras, Platon und Aristoteles prominent zu nennen. Basierend auf ihren Erkenntnissen (bspw. Beschreibung der Syntax) entwickelte der griechische Grammatiker Dionysios Thrax die erste bisher bekannte systematisch aufgebaute Grammatik Τέχνη γραμματική (Technē grammatikē) (Jungen / Lohstein 2007, 47sqq.; Wildgen 2010, 7sqq.)2, bestehend aus der heute als Teildisziplinen der Linguistik bezeichneten Phonologie, der Morphologie und den Wortarten. Darauf aufbauend sollten noch weitere Grammatiken folgen, die einem Lehrer als Vorlage, nicht nur für den muttersprachlich orientierten Unterricht, zur Verfügung stehen sollten. Der Philosoph und Grammatiker Ambrosius Theodosius Macrobius (360–425 n.Chr.) sticht neben vielen anderen wegen seiner auf wissenschaftlicher Basis gestellten Grammatik besonders hervor. Er prüfte die griechische und lateinische Sprache nicht nur nach ihren Gesetzmäßigkeiten, sondern betrachtete sie auch unter sprachkontrastiven Gesichtspunkten (Jungen & Lohstein 2007, 66, 73). Macrobius war offensichtlich nicht nur mehrsprachig sozialisiert, er besaß neben den mündlichen Fähigkeiten auch schriftsprachliche Kompetenzen. Mehrsprachige Kompetenzen, dieser Einschub sei an dieser Stelle erlaubt, spiegeln eine gewisse Selbstverständlichkeit antiker Gesellschaften wider. Im Zuge ihrer geographisch weitreichenden Handelsbeziehungen, aber auch aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen sowie kultureller Kontakte standen sie in einem regen Austausch mit Sprechern fremder Sprachen und/oder Sprachvarietäten. Boschung und Riehl (2011, iiisqq.) bemerken hierzu:

Schöne Beispiele für historische Mehrsprachigkeit in der Antike liefern etwa das Anatolien des 1.Jahrhunderts v.Chr. oder das römische Imperium, das in weiten Teilen eine Diglossie-Situation zwischen der lateinischen Staatssprache und den jeweiligen Sprachen der beherrschten Gebiete zeigt. D.h. die Sprachen waren auf verschiedenen Domänen verteilt: Es gab in der Regel eine oder mehrere gesprochene Sprachen, und eine geschriebene Sprache, nämlich Latein. Dabei spielt aber das Griechische eine Sonderrolle, war es doch im gesamten Ostteil des Imperium Romanums bestimmend.

Die Beschäftigung mit den antiken Sprachen verliert auch in den folgenden Jahrhunderten nicht an Intensität. Im Zuge frühmittelalterlicher Didaktisierungen (Jungen / Lohnstein 2007, 83sqq.) entstanden schubweise differente theoretische Ansätze, um Sprache sowie ihre Funktion zu erklären. So waren Anhänger der scholastischen Philosophie (13.Jahrhundert) „an der Sprache als Werkzeug zur Analyse der Struktur der Wirklichkeit“ interessiert (Lyons 1995, 15). In ihrer Essenz ergab sich ein Bild von Sprache als universellem Medium: „[…] alle Sprachen haben Wörter für dieselben Begriffe, und alle Sprachen weisen dieselben Teile der Rede und andere allgemeine grammatische Kategorien auf.“ (Lyons 1995, 16). Der allmählich weiter fortschreitende Umbruch bestehender geopolitischer Gegebenheiten, das heliozentrische Weltbild, die Neuformierung von Staaten und deren allmählich erwachendes Nationalbewusstsein, die missionarischen Aktivitäten (bspw. der Jesuiten) auch außerhalb der damaligen europäischen Welt und viele weitere Entwicklungen warfen ein neues Licht auf die Sprachforschung. In der Folgezeit stieg das Interesse daran, das Wissen über das bisher bekannte Sprachenrepertoire hinaus zu erweitern. Der Schweizer Naturforscher und Universalgelehrte Konrad Gesner3 erlangte aufgrund seines im Jahre 1555 verfassten Werks „Mithridates“4 Berühmtheit. Hierbei handelt es sich um eine erste europäische Sprachenenzyklopädie, die unter Berücksichtigung der Verschiedenheit von Sprachen und Dialekten (darunter afrikanische und indische Sprachen) konzipiert wurde. Die berücksichtigten Sprachen sind alphabetisch geordnet und „es werden Vokalbellisten erstellt und das ‚Vater Unser‘ in möglichst vielen Sprachen aufgeführt“ (Elberfeld 2014, 26). Auch über die sprachverwandtschaftlichen Beziehungen wurde nachgedacht, sodass von Sprachfamilien oder von genetischer (Sprach-)einheit (Kausen 2010, 1sqq.) die Rede war. Mit der etwa zwei Jahrhunderte später angelegten Arte (1627), einer „Dreifach-Grammatik" mit den Sprachen Spanisch, Griechisch und Latein (Trilingue de tres artes), erhoffte sich der Spanier Gonzalo Correas (1570–1631) nicht nur eine höhere Effektivität in der Sprachvermittlung, sondern das Erreichen des pädagogischen Ziels „durch ein genaues Verständnis der Muttersprache Fremdsprachen, hier also Griechisch und Latein, schneller erlernen zu können“ (Jungen / Lohstein 2007, 122). Seiner Annahme zufolge gab es universalgültige syntaktische Strukturen (LRL 1992, 622). Dass die Muttersprache eine Basis für das Erlernen einer Fremdsprache darstellt, erscheint rückblickend geradezu revolutionär. Einen weiteren Akzent setzten die neu aufgekommenen Humanwissenschaften sowie die natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Nicht mehr die einzelsprachlichen Aspekte allein waren nun zu berücksichtigen; prominent stand die Frage nach der „Geburt“ von Sprache im Raum, die durch Johann G. Herders Abhandlung „Über den Ursprung der Sprache“ (1772) innerhalb des Wissenschaftsdiskurses neu positioniert und diskutiert wurde (Wildgen 2010, 10; Gardt 1999, 219sqq.). In der Reflexion des 19.Jahrhunderts wurde die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Denken neu gestellt, die als Ergebnis mitunter diametral entgegengesetzte Positionen hervorbrachte (Gardt 1999, 230sqq.). Anders als seine Vorgänger und Zeitgenossen positionierte sich der Universalgelehrte Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Dieser ging von der Annahme aus, Sprache sei das „Organ des Denkens“ über das sich die Welt erschließen lasse (Elberfeld 2014, 49sq.).5 Die differenten Zugänge, Sprache zu verstehen, erklären sich somit nicht nur aus dem Versuch heraus, Sprache in ihre grammatischen Komponenten zu zerlegen und zu kategorisieren; ihr wurden biologische, kognitive und soziale Komponenten zugewiesen. Durch William Dwight Whitney (1827–1894) erhielt die Sprachforschung konkretere Konturen und entwickelt sich so zu einer von anderen Disziplinen des 19.Jahrhunderts weitestgehend unabhängigen Forschungsrichtung. Er bestimmte die Sprachwissenschaft als eine historische Wissenschaft mit den Worten:

Diese Wissenschaft ist bestrebt, die Sprache, sowohl in ihrer Einheit als ein Mittel des menschlichen Ausdrucks und in Abgrenzung zur Kommunikation der Tiere, als auch in ihrer inneren Vielfalt von Material und Struktur zu verstehen. Sie versucht, die Ursache für die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Sprachen zu entdecken und diese zu klassifizieren (…). Sie versucht festzustellen, was Sprache im Verhältnis zum Denken ist und wie es zu dieser Beziehung gekommen ist. (…) und, wenn möglich, wie die Sprache überhaupt entstanden ist. (Whitney 1899 in der Übersetzung von Wildgen 2010, 20)

Hinter diesem Zitat verbergen sich zahlreiche Fragen, die die Linguistik heute noch beschäftigen. Was uns in der modernen Sprachforschung als selbstverständlich erscheint, bedurfte einer jahrtausendlang währenden Betrachtung von Sprache. Bereits in antiker Zeit setzte ein Nachdenken über die Funktionalität und Grammatikalität von Sprache ein. Über Jahrhunderte hinweg wurden zahlreiche Meilensteine sprachbetrachtender Arbeiten gesetzt, die „die nie mehr abgerissene Tradition der Ars grammatica [begründeten], ohne die auch die moderne Linguistik nicht bestehen würde“ (Jungen / Lohstein 2007, 12). Der Sprachvergleich bildete, dies zeigte der kursorische Überblick, eine unverzichtbare Konstante. Die Kontrastive Linguistik konnte sich als linguistische Disziplin erst später etablieren.