Vom Träumen und Aufwachen

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Aus der Praxis

Cornelia Stieler ist Systemische Coachin und Therapeutin, Kommunikations- und Betriebspsychologin und Biografietrainerin. Sie ist Gründerin der WaldAkademie Machern bei Leipzig, in der sie sich unter der Marke »OSTZIGARTIG« auf die Begleitung von Menschen mit ostdeutschen Biografien spezialisiert hat. Mithilfe des biografischen Arbeitens bringt sie die Teilnehmenden ihrer Workshops aus Ost- und Westdeutschland in den (politischen) Dialog. Eindrücke aus ihrer Arbeit schildert sie hier im Interview:

Welchen Einfluss hat das politische System, in dem Menschen leben und handeln, auf ihre Biografie?

CORNELIA STIELER Aus meiner Erfahrung wird der Einfluss der gesellschaftlichen Prägung auf die Individualbiografie deutlich unterschätzt. Und zwar gesamtgesellschaftlich ebenso wie individuell. Ein gesellschaftliches System vermittelt eine bestimmte Ideologie, schafft idealerweise Raum für Auseinandersetzungen mit verschiedenen gesellschaftlichen Ansätzen, es prägt Menschenbilder, interpretiert Geschichte und nimmt Einfluss auf die Erziehungssysteme. Eine Diktatur agiert anders als eine Demokratie, greift stark in Erziehung ein, beschneidet das Recht auf selbstbestimmtes Denken und manipuliert die Auseinandersetzung ihrer Bürger und Bürgerinnen mit unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen zu ihren ideologischen Gunsten. Das kann nicht ohne Auswirkungen auf Menschen bleiben. Politik hat in einer Diktatur einen anderen Stellenwert, denn sie ist omnipräsenter, aber oft auch unbeliebter. Menschen gehen je nach Persönlichkeit und Kontext ganz unterschiedlich damit um: Manche arrangieren sich – mit der guten Absicht, für sich und die Familie die bequemste und einträglichste aller Möglichkeiten gewählt zu haben. Andere gehen in den Widerstand, nehmen dafür hohe Risiken in Kauf. Und Weitere entwickeln eine hohe Ignoranz gegen alles Politische und gehen in die Vermeidung. Diese jeweils gelebten Verhaltensweisen sind ein individualbiografisches Gepäck, das die Betroffenen oft auch unhinterfragt weiter mit sich tragen, selbst wenn Kontexte sich ändern, das politische System ein anderes wird.

Welche Unterschiede erleben Sie diesbezüglich bei der Arbeit mit Menschen aus Ost- bzw. Westdeutschland?

CORNELIA STIELER Auch in der westdeutschen Gesellschaft gibt es Menschen, denen politische Themen näher sind, und welche, die Politik mit großem Desinteresse begegnen und in Gesprächen durch Unwissenheit glänzen. Die Ursachen dafür sind nur andere, denn in der Bundesrepublik war es – im Gegensatz zur DDR – nicht unter Strafe gestellt, sich politisch differenziert und breit zu informieren. Wenn Ost- und Westdeutsche miteinander im Dialog über politische Themen sind, ist es vor allem spannend, aus welchen jeweiligen gesellschaftlichen Lagern Menschen aus Ost und West aufeinandertreffen. Treffen desinteressierte und mit Halbwissen ausgestattete Westdeutsche auf gut informierte, einst kritischoppositionelle Ostdeutsche, kann die Mischung genauso schwierig sein, als wenn politisch interessierte, gebildete Westdeutsche und politisch angepasst aufgewachsene Ostdeutsche aufeinandertreffen. Als Ostdeutsche erlebe ich oft bei linksorientierten Westdeutschen völlig idealisierte Sozialismusvorstellungen, bei denen es mich manchmal gruselt. Da wünsche ich mir oft mehr Interesse an der Frage: »Wie war es denn im real existierenden Sozialismus – ganz konkret?« Ich erlebe es noch zu oft, dass Westdeutsche ihr angelesenes Wissen dem gelebten Leben in einer Diktatur entgegensetzen wollen und direkten Dialogen mit Ostdeutschen eher aus dem Weg gehen. Mich beschäftigt die Frage, woran es liegt, dass so wenig Interesse da ist. In Gruppen, in denen mit der Haltung des neugierigen Nichtwissens die Geschichte des anderen erforscht wird, erfahren wir oft sehr viel Neues voneinander. Auch ich lerne immer wieder Neues. Davon wünsche ich mir einfach mehr.

Was verstehen Sie unter gesellschaftspolitischer Selbstwirksamkeit?

CORNELIA STIELER Das bedeutet für mich, ganz konkret im Kleinen zu beginnen, jeder in seinem direkten Umfeld. Bei Gesprächen in der Verwandtschaft, unter Kollegen, mit dem Nachbarn. Ich erlebe, dass viele sich damit schwertun. Viele politische Themen »hängen« förmlich in der Luft, aber den Menschen fehlt teilweise die Kraft, das Interesse oder auch die Gesprächsfähigkeit, miteinander verschiedene Sichtweisen differenziert auszutauschen. Ich habe noch immer das Gefühl, dass Ostdeutsche große Schwierigkeiten haben, Meinungsvielfalt in ihrer direkten Umgebung auszuhalten. Mein Eindruck ist, dass die Diktatur in diesem Punkt tatsächlich ganze Arbeit geleistet hat, weil sie über 40 Jahre lang »Gleichmacherei« zum Ziel erklärt hat. In der DDR gab es nur zwei Kategorien: Freund oder Feind! Diese »Schwarz-Weiß-Denke« hat sich bei großen Teilen der Gesellschaft sehr tief festgesetzt, und es ist ein mühsamer Prozess, es durch ein »Denken in Graustufen« zu ersetzen.

Als wie hoch schätzen die Menschen, mit denen Sie arbeiten, ihre gesellschaftspolitische Selbstwirksamkeit ein?

CORNELIA STIELER Ich mache die Erfahrung, dass nur wenige Menschen in Ostdeutschland sich ihrer eigenen politischen Selbstwirksamkeit bewusst sind. Die Mehrheit der Ostdeutschen war an der friedlichen Revolution auch nicht aktiv beteiligt, sondern eher Zuschauer und Zuschauerinnen, das müssen wir anhand der Zahlen ernüchtert feststellen. Manche wurden maximal zum Mitläufer bzw. zur Mitläuferin, als es nicht mehr so viel Mut brauchte, sich in einer Großdemo einzureihen. Dass aber dennoch mutige Ostdeutsche selbst den Systemsturz herbeigeführt und bereits über viele Jahre Vorarbeit dafür geleistet haben, wurde aus meiner Sicht in den letzten 30 Jahre nicht ausreichend gewürdigt. Auch die vielen kleinen systemdestabilisierenden Aktivitäten in der DDR spielen in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung kaum eine Rolle. Doch genau sie sind wichtig dafür, den Menschen einen Zugang zu ihrer eigenen Selbstwirksamkeit aufzuzeigen. Man muss kein großer Revolutionär sein, wenn man bereit ist, auch im Alltag Zivilcourage zu zeigen. Wenn viele das tun, verändert das Gesellschaft auch. Das ist eine Erfahrung, die wir in der DDR gemacht haben. Doch die scheint heute fast in Vergessenheit zu geraten, und das halte ich für problematisch – für ganz Deutschland, denn auch heute wird Zivilcourage gebraucht!

Wodurch lässt sie sich Ihrer Meinung nach steigern?

CORNELIA STIELER Ich versuche, meinen Beitrag dazu zu leisten, indem ich in meinen unterschiedlichen Biografieformaten v. a. die unterschiedlichen Gruppen der ostdeutschen Gesellschaft miteinander in den Dialog bringe. Und das sind teilweise sehr berührende, aber auch neue und zum Teil auch verstörende Erfahrungen. Nach 30 Jahren ist die Distanz groß genug dafür, in geschütztem Rahmen Begegnung zu ermöglichen. In meinen Gruppen sitzen oft Kinder von Oppositionellen neben Stasikindern, einstige FDJ-Sekretäre neben Pfarrerstöchtern … Wir lernen inzwischen sehr viel voneinander und beginnen, die DDR aus der Perspektive der jeweils anderen Seite retrospektiv zu begreifen. Daraus erwächst ein gemeinsames Verständnis, was die Diktatur mit und aus uns gemacht hat. Es entstehen Momente, in denen gemeinsam Betroffenheit gezeigt und Verlorenes betrauert werden kann, aber auch gemeinsame Kraft aus der verbindenden Erfahrungswelt entsteht. Wir gehen nie auseinander ohne die Frage, welche Erfahrungen wir in die heutige Gesellschaft zurückspielen können. Und ich bin sehr optimistisch, dass auch diese vielen kleinen punktuellen Bemühungen voranbringen.

Inwiefern kann sich der Blick auf die Gesellschaft verändern durch die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie?

CORNELIA STIELER Durch das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen erlebter Zeitgeschichte und der eigenen Biografie entsteht bei den Menschen, die sich dieser Auseinandersetzung stellen, eine hohe Sensibilität für die Geschehnisse im Heute. Gesellschaftliche Phänomene wie Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, soziale Benachteiligung, Ausgrenzung von Migranten, all das wird in 20 oder 30 Jahren wieder tiefgreifende biografische Folgen für die Betroffenen haben. Wer sich dessen aus seiner eigenen Biografie heraus bewusst ist, kann sich heute anders engagieren und Verantwortung für die Gestaltung von Gesellschaft übernehmen.

Literatur

Bode, S. (2019): Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart (Klett-Cotta).

Decker. F, V. Best, S. Fischer u. A. Küppers (2019): Vertrauen in die Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? Verfügbar unter https://library.fes.de/pdf-files/fes/15621-20190822.pdf [23.6.2021].

Deutscher Bundestag (2019): Bericht des Petitionsausschuss (2. Ausschuss). Verfügbar unter https://dserver.bundestag.de/btd/19/099/1909900.pdf [23.6.2021].

Drechsler, H., F. Neumann u. W. Hilligen (1970): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik. München (Vahlen), 10. Aufl. 2003.

Hepp, G. (2013): Wie der Staat das Bildungswesen prägt. Verfügbar unter https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/145238/staat-als-akteur [23.6.2021].

 

Röhrbein, A. (2019): Und das ist noch nicht alles. Systemische Biografiearbeit. Heidelberg (Carl-Auer).

»Rekordzahl an Demonstrationen 2019 in Berlin«. Tagesspiegel, 26.12.2019.

Weßels, B. (2018): Politische Integration und politisches Engagement. In: Statistisches Bundesamt u. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (Hrsg.): Datenreport 2018. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn (bpb), S. 350-357.

Auf der Suche nach den gefundenen Kraftquellen

Barbara Innecken

Identitätsstiftende Ressourcen vor und nach dem Mauerfall

Die Einladung, mich mit einem Workshop an der geplanten Tagung zum Thema »30 Jahre Mauerfall« zu beteiligen, freut mich, ich fühle mich spontan angesprochen und habe ziemlich bald eine Gestaltungsidee vor Augen.

Wie kommt es zu dieser spontanen Reaktion, wo finden sich Bezüge einer 1952 geborenen »Westlerin« zu dem Tagungsuntertitel »Die Freiheit, die ich meine … Zwischen Identität und Wandel – auf Spurensuche«?

Meine persönliche Ost-West-Spurensuche

Vor dem Mauerbau, in meiner Kindheit, erinnere ich mich vor allem an die Kinder aus der »Ostzone« in meiner Klasse, ich erlebe sie als irgendwie etwas anders, ohne mir darüber weitere Gedanken zu machen. Eins dieser Kinder wird meine beste Freundin und ist es bis heute.

Meine Vorstellungen von der »Ostzone« sind eher diffus und vor allem wohl durch die Päckchen mit Kaffee, Schokolade und Kleidung, die unsere Mütter regelmäßig in den Osten schicken, geprägt. Da gibt es jemanden, den unsere Mütter mögen, der nie zu Besuch kommt und der diese Päckchen gut brauchen kann.

Später dann, Jahre nach dem Mauerbau, als politisch engagierte Studentin, fahre ich gerne nach Berlin, um in Westberlin in die Szene der Studentenbewegung einzutauchen und gemeinsam mit Kommilitonen und Kommilitoninnen um unsere Einstellung zum Sozialismus in der DDR zu ringen, der uns in seiner Grundidee fasziniert und in seiner konkreten Umsetzung zu denken gibt. Die DDR als Land kenne ich in dieser Zeit nur aus den Tagesfahrten nach Ostberlin, wo mich der damals gerade nach Moskauer Vorbild fertiggestellte riesige und kahle Alexanderplatz eher erschreckt. Sehr beliebt hingegen ist der Einkauf von Büchern, Notenheften und Langspielplatten mit sog. klassischer Musik, die mit ihren deutlich günstigeren Preisen unserem studentischen Budget guttun.

Der Mauerfall, an den ich persönlich nicht mehr geglaubt habe, überrascht und freut mich dann im Geburtsjahr unseres dritten Kindes. Welch ein Aufbruch, der durch das Engagement so vieler mutiger Menschen erst möglich geworden ist! Sie geben nicht auf, sie kämpfen so lange um ihre Rechte, bis das verkrustete System zerbricht und der Weg in die Wiedervereinigung beginnt.

In späteren Jahren lerne ich staunend die Schönheit der neuen Bundesländer, ihrer Städte und Landschaften auf Reisen kennen und lieben.

Vor mehr als zehn Jahren (von 2020 aus gerechnet) habe ich dann das Glück, an das SINN-Institut in Naumburg als Referentin eingeladen zu werden.14

Seitdem lerne ich dort in meinen Weiterbildungen für »Aufstellungsarbeit im Einzelsetting mit dem NIG®15 immer wieder die für mich besonderen, kraftvollen Ressourcen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus den neuen Bundesländern kennen und sehr schätzen.

Gefundene Kraftquellen – in der Planung des Workshops

Es sind wohl meine sehr persönlichen, prägenden gesamtdeutschen Erfahrungen, die in mir den sehr frei nach Marcel Proust gestalteten Workshoptitel »Auf der Suche nach den gefundenen Kraftquellen – Identitätsstiftende Ressourcen vor und nach dem Mauerfall« entstehen lassen.

In meinen Überlegungen im Vorfeld der Tagung wird mir klar, dass die Anfangseuphorie und das rasante Tempo der Wiedervereinigung bisher wenig Platz gelassen haben für achtsame Annäherung und ressourcenorientierte Sichtweisen im Umgang miteinander: Die Wiedervereinigung ist geprägt von der Fokussierung auf politische und wirtschaftliche Umstellungs- und Anpassungsprozesse – Letztere werden vor allem von den Bewohnern der ehemaligen DDR erwartet.

Es gibt nicht genug Raum und Zeit für die Achtung vor dem Gewachsenen und den bewegten Entwicklungen von Biografien, für die Anerkennung von Lebensleistungen und spezifischen Stärken, für den Respekt vor Coping-Strategien und die Würdigung der Werte der jeweils anderen Seite.

Joachim Gauck, der Theologe aus Rostock und Bundespräsident der BRD von 2012 bis 2017, sagt bezüglich des Zusammenwachsens der Menschen in Ost und West im Jahr 2019: »Die Prägungen der Seele und die Wandlungen der Mentalität sind unendlich langsam« (Süddeutsche Zeitung 29.9.2019).

Bezogen auf diesen Weg der »langsamen Wandlung«, entscheide ich mich, in meinem Workshop auf der Tagung in Naumburg zusammen mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen auf eine ressourcen- statt eine defizitorientierte Spurensuche zu gehen und uns unserer spezifischen Stärken anzunehmen.

Da auf der Tagung Teilnehmende aus der gesamten BRD eingeladen sind und auch Gäste aus anderen Ländern erwartet werden, geht es mir darum, einen gemeinsamen Schritt zu gehen, um uns unserer jeweiligen Kraftquellen bewusst zu werden, sie anzuerkennen und sie zu würdigen – in uns selber und im anderen.

Unser ressourcenorientierter Blick wird von der Perspektive unserer persönlichen Biografie gespeist und durch die jeweilige Staats- und Gesellschaftsform geprägt. Es macht ja einen großen Unterschied, wo wir geboren werden, aufwachsen, zur Schule gehen, arbeiten, welche Entscheidungen wir oder unsere Familie bezüglich unseres Wohnortes fällen, wie sich der Mauerbau und der Mauerfall auf unser persönliches Leben auswirken.

In diesem Workshop möchte ich anregen, auf besonders starke, identitätsstiftende Ressourcen zu fokussieren, die vielleicht sogar bis heute einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung unserer persönlichen Identität leisten.

… und Zweifel

Der Fokus ist also klar: Ich möchte – um mit einem Bild des systemischen Therapeuten Steve de Shazer zu sprechen – den Aufmerksamkeitsscheinwerfer weg vom Problem hin zu den Ressourcen richten.

Auf diese Klarheit folgt eine Phase des Zweifels: Wie werden die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus dem Osten damit umgehen, wenn ich als Westlerin, die ich nun mal bin, sie einlade, sich ihre vor und nach dem Mauerfall erworbenen Kraftquellen bewusst zu machen? Als Traumatherapeutin, die ich nun mal auch bin, befürchte ich, es könnte bei ihnen das Gefühl entstehen, dass Leid und Verletzungen vor und nach dem Mauerfall nicht ausreichend gesehen und gewürdigt werden.

Auch in Bezug auf die Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus dem Westen habe ich Zweifel: Sind Ressourcenfindungen vor und nach dem Mauerfall überhaupt in diesem Kontext angebracht und von Interesse? Und besteht nicht die Gefahr der Scham und der Beschämung durch einen möglicherweise entstehenden Vergleich westlicher und östlicher Ressourcen?

Der niederländische Therapeut Dan van Kampenhout spricht kollektiven Systemen wie Volksgruppen oder Staaten eine »Stammesseele« zu, die, wie sich in der Menschheitsgeschichte immer wieder zeigt, sehr vulnerabel ist. Wie die individuelle Seele auch, reagiert diese kollektive Seele auf Verletzungen mit Kampf, Flucht oder Erstarrung – die Geschichte gibt uns dafür zahllose Beispiele.

Ist durch die 40-jährige Trennung von BRD und DDR auch so etwas wie eine jeweils eigene »Stammesseele« entstanden? Und, wenn ja, wie kann ich in dem Workshop damit angemessen umgehen?

Um die Zweifel konstruktiv anzugehen, beginne ich erst mal mit der Suche nach meinen eigenen Ressourcen in Bezug auf die genannten Zeiträume.

Meine persönliche Suche nach den gefundenen Kraftquellen

Meine wichtigste identitätsstiftende Kraftquelle vor dem Mauerfall wird mir überhaupt erst durch die Beschäftigung mit dieser Suche klar: Im Gegensatz zu meinen Eltern, die ihre jungen Jahre im Nationalsozialismus und im Krieg verbracht haben, bin ich in der Freiheit aufgewachsen.

In der Freiheit, meine Meinung zu äußern, beispielsweise als Schülerin auf Demos gegen den Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze. In der Freiheit, als Studentin meine Träume zu leben in einer Landkommune oder später dann als verbeamtete Lehrerin die Entscheidung zu fällen, diese Sicherheit aufzugeben und als Selbstständige im psychotherapeutischen Bereich zu arbeiten.

Werde ich mich schämen, über so viel Freiheit, mit der ich aufgewachsen bin, in dem Workshop zu sprechen, oder beschäme ich meine Kollegen und Kolleginnen aus dem Osten damit?

Durch die Beschäftigung mit der Ressource »Aufwachsen in Freiheit« werden in mir Erinnerungen an Familienaufstellungen wach, an denen ich in den 90er-Jahren teilgenommen habe. In diesen Aufstellungen zeigt sich immer wieder das Bild, dass ich, wie viele Menschen aus meiner Generation, versuche, das »Schicksal der Unfreiheit« meiner Eltern im Nationalsozialismus mitzutragen, um ihnen diese Last zu erleichtern. Gleichzeitig bin ich aber auch all die Jahre in einem Prozess, in dem starke Kraftquellen mich immer wieder ermutigen, mein eigenes Leben zu wagen. Und nun, im Jahr 2019, wird mir die Kraftquelle »Aufwachsen in Freiheit« bewusst – welch ein Geschenk!

Auch über eine identitätsstiftende Kraftquelle aus der Zeit nach dem Mauerfall muss ich erst mal nachdenken, sie ist mir nicht auf Anhieb bewusst.

Ich bin neun Jahre alt, als die Mauer gebaut wird, und ich erinnere mich heute noch an Fotos davon in der Zeitung – aber die Bedeutung des Mauerbaus für die Menschen und für meine Schulfreundin aus der »Ostzone« verstehe ich als Kind nicht. Als Jugendliche erfahre ich dann im Geschichtsunterricht mehr von der deutsch-deutschen Geschichte, wachse aber vom Gefühl her mit dem Glaubenssatz auf, dass es eben zwei deutsche Staaten gibt und dass das ungerecht und traurig, aber nun mal so ist.

Nach dem Mauerfall fällt auch in mir dieser Glaubenssatz.

Und es entsteht Raum für eine bis heute in mir wirkende Ressource: Eine Wirklichkeit, die ich als negativ, aber unabänderlich erlebe, kann sich ändern, sie kann geändert werden! Dass ich mir dieser Ressource bewusst werde, beschert mir ein Glücksgefühl, mich leitet diese Kraftquelle »Handlungsfähigkeit« doch täglich in meinem persönlichen Leben und in meinem Beruf als Therapeutin.

Die Erfahrungen mit meinen beiden identitätsstiftenden Ressourcen relativieren meine Zweifel an dem geplanten Workshop, und ich beschließe, mich auch zusammen mit den Teilnehmenden auf die Suche nach den gefundenen Kraftquellen zu machen.