Loe raamatut: «Winterwundernacht»
Nicolas Koch (Hrsg.)
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ISBN 978-3-86506-908-5
© 2013 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow-Verlag, Moers
Titelgrafik: fotolia
Illustrationen von Simone Jacobsen
Satz: Harfe PrintMedien, Rudolstadt
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
Cover
Titel
Impressum
1. Dezember
Als der Weihnachtsbaum explodierte
INKEN WEIAND
2. Dezember
Zoff im heiligen Stall
HEIKE BINDER
3. Dezember
23 Kerzen für Fiete
HANNELORE SCHNAPP
4. Dezember
Als wir den geheimnisvollen Schlitten fanden
ANJA SCHÄFER
5. Dezember
Der fremde Gast
REBEKKA GOHLA
6. Dezember
Michis Wunsch
HEIKE BINDER
7. Dezember
Der Weihnachtsbaum im Schaukelstuhl
ALBRECHT GRALLE
8. Dezember
Ausgerechnet Ibiza
KARLA SCHNIERING
9. Dezember
Theater um Josef
ANNEKATRIN WARNKE
10. Dezember
Max wundert sich
CONNY RUSS
11. Dezember
… und Frieden auf Erden
INKEN WEIAND
12. Dezember
Wo wohnt das Christkind?
JULIA PFLÄGING
13. Dezember
Der schöne, moderne Luftmatratzengummiweihnachtsbaum
CARSTEN "STORCH" SCHMELZER
14. Dezember
Der Weihnachts-Dieb
REBEKKA GOHLA
15. Dezember
Lilly und die Sache mit Frau Schmidt
KARLA SCHNIERING
16. Dezember
Das Geschenk
FRANK BONKOWSKI
17. Dezember
Leo und die uralte Prophezeiung
JONATHAN SCHWAR
18. Dezember
Die geheimnisvolle Tür im Keller
JAN HANSER
19. Dezember
Maria mit der Taschenlampe
ECKART ZUR NIEDEN
20. Dezember
Der Mann vor dem Supermarkt
ANJA SCHIMANKE
21. Dezember
... dann erst Weihnachten
CONNY RUSS
22. Dezember
Adibas erstes Weihnachtsfest
FRANK BONKOWSKI
23. Dezember
Die Weihnachtsgeschichte einer jungen Hirtin, deren Mama umgekippt ist
TANJA JESCHKE
24. Dezember
Eine ereignisreiche Nachtschicht
THOMAS KLAPPSTEIN
Über die Autorinen und Autoren
Als der Weihnachtsbaum explodierte
Weihnachten ist bekanntlich das Fest des Friedens und der Harmonie. Warum bei uns im letzten Jahr der Weihnachtsbaum explodierte? Ich kann es erklären:
Das Ganze begann in Wirklichkeit schon ein Jahr vorher damit, dass mein Vater meinem Bruder Thomas nicht erlaubte, Raketen und Böller zu zünden. Knallfrösche ja, Raketen und Böller nein. So einfach war das.
Thomas fand das nicht gerecht, denn nach seiner Aussage durften alle Jungen in seiner Klasse Raketen zünden, ganz egal, was da nun draufstand. Aber mein Vater ist eigen in so etwas. Wir dürfen auch keine Filme gucken, die ab 18 sind.
Mein Bruder war, wie gesagt, ziemlich sauer, und hat ein paar von den Böllern beiseitegeschafft. Wie kleine, rote Päckchen sahen sie aus, und er holte sie aus einer Riesen-Feuerwerkspackung heraus, die mein Opa für Silvester mitgebracht hatte. Natürlich bekam meine Mutter mit, dass Thomas an den Feuerwerkssachen war – sie bekommt unnatürlich viel mit. Thomas ließ die kleinen, roten Päckchen schnell in einem kleinen Karton verschwinden, der im Keller gerade so herumstand, als er meine Mutter die Treppe herunterkommen hörte. Und als sie den Raum betrat, blinzelte er sie unschuldig an.
Meine Mutter lächelte, als sie ihn bei den Feuerwerkskörpern sah. „So faszinierend?“
Thomas nickte.
„Na, komm mal wieder mit hoch. Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen.“
Und das tat sie. Mein Vater inspizierte daraufhin alle Raketen einzeln, hielt meinem Bruder einen einstündigen Vortrag über den richtigen Umgang mit Feuerwerkskörpern, und einige, von meinem Vater hierfür geeignet befunden, durfte Thomas danach auch zünden.
Mein Bruder war sehr stolz, als seine erste Rakete in die Luft flog und dort in glitzernden Funken zersprühte.
Den kleinen Pappkarton im Keller vergaß er.
Als meine Mutter später den Tannenbaumschmuck im Keller verstaute, landete das Schächtelchen mit den Böllern zwischen Lichterketten und Silberkugeln, Strohsternen und Glitzerengeln.
Der Winter ging, der Frühling kam und verging wieder, Sommer und Herbst gingen vorüber, und Weihnachten nahte.
Weihnachten feiern wir sonst immer ganz ruhig, mit Gottesdienst und Andacht als das Fest von Jesu Geburt. Diesmal jedoch war alles anders: Meine Großeltern hatten sich gewünscht, Weihnachten mit der ganzen Familie, ihrer gesamten Nachkommenschaft sozusagen, zu feiern.
Alle hatten gesagt, sie fänden den Wunsch toll, und überhaupt sei es doch nett, wenn einmal alle wie früher zusammen feiern würden.
Dass es nicht wie früher wurde, hätte einem der Verstand sagen können: Immerhin gibt es mittlerweile drei Ehepartner und vier Kinder mehr als damals.
Das erste kleine Problem wurde die Örtlichkeit, an der die Feier stattfinden sollte. Tante Edith meinte, unser Haus sei so wunderbar geeignet, weil es über ein großes Wohnzimmer verfüge. Mein Vater brachte daraufhin Tante Ediths große Wohnung ins Spiel, die immerhin über zwei Gästezimmer verfügt. Edith fand, Onkel Bernds Haus liege viel besser. Und Onkel Bernd wiederum vertrat die Ansicht, wir wohnten am zentralsten.
Nun, meine Eltern wehrten sich wohl zu wenig, jedenfalls fand die Veranstaltung bei uns statt.
Meine Mutter begann bereits eine Woche vorher zu putzen und lamentierend herumzurennen. Am 22. kamen meine Großeltern und brachten alles noch mehr durcheinander. Meine Eltern zogen in mein Zimmer um, ich übernachtete bei meinem Bruder auf dem Fußboden, sodass Oma und Opa das Schlafzimmer für sich hatten.
Tagsüber aber liefen sie durch das Haus und verursachten Chaos. Mein Großvater saß Kaffee trinkend herum und gab allen gute Ratschläge. Meine Großmutter fing überall neue Arbeiten an. Sie putzte eines der Wohnzimmerfenster, um dann festzustellen, dass ihr Rücken das nicht aushielt – worauf meine Mutter weiterputzen musste.
Sie machte Teig für Kokosmakronen, dann wurde ihr schwindelig – und meine Mutter musste die Makronen backen, wodurch wir beinahe nicht zur Krippenspielprobe kamen. Opa fuhr uns auf den letzten Drücker noch hin. Auf dem Rückweg erzählte er uns, Weihnachten sei sonst viel ruhiger und erholsamer, was uns auch nicht gerade glücklich machte.
Der Heiligabend kam. Mutti kochte und kochte und versuchte gleichzeitig noch zu putzen und aufzuräumen.
Vati war mit einer ellenlangen Einkaufsliste losgeschickt worden und rief alle paar Minuten auf dem Handy an, um herauszufinden, welche Sorte Kaffee er kaufen sollte und was „Trüffelöl“ sei.
Meine Großmutter dekorierte. Sie war aufgeregter als wir Kinder zusammen, forderte in einem Moment unsere Hilfe und schickte uns im nächsten wieder fort, damit „der weihnachtliche Zauber“ für uns nicht zerstört würde.
Mein Bruder Thomas kam schließlich auf die Idee, seinen Freund Roman zu besuchen. Roman hat vier jüngere Geschwister, und seine Mutter meinte, auf zwei Kinder mehr oder weniger komme es dann auch nicht an.
Was an Heiligabend vormittags bei uns los gewesen ist, kann ich also nur rekonstruieren: Irgendwann rief Onkel Bernd an und erklärte, er käme leider etwas später. Dann rief Tante Edith an und erklärte, ihr Mann sei krank und sie müsse leider, leider mit den Kindern etwas früher kommen, um ihn zu schonen. Und schließlich kam ein weiterer Anruf von Tante Edith, sie stehe jetzt mit den Kindern am Bahnhof, und warum niemand da sei, um sie abzuholen.
Mein Vater setzte sich schimpfend in den Wagen und fuhr los. Meine Mutter drückte meiner Großmutter den Karton mit dem Tannenbaumschmuck in die Hand, schob sie ins Wohnzimmer und erklärte, sie dürfe erst wieder herauskommen, wenn der Baum fertig geschmückt sei.
Worauf sich die Oma an die Arbeit machte. Vermutlich wunderte sie sich über die kleinen, roten Päckchen etwas. Aber sie fand, glaube ich, auch unsere Glitzerengel nicht wirklich schön. Und da sie merkte, was für ein Durcheinander bereits herrschte, hängte sie brav die Teile an den Tannenbaum, gleichmäßig verteilt.
Nach und nach kam der Besuch. Mutter kochte, Tante Käthe erklärte mit hochgezogenen Augenbrauen, sie finde es so toll, dass Mutti sich so eine Mühe gebe.
Mutti biss sich auf die Zähne.
Unsere Cousinen Nicole und Andrea begannen, im Zimmer meines Bruders dessen Carrera-Bahn auseinanderzunehmen. Mein Vater fuhr dazwischen – schließlich hatte die Bahn ein Heidengeld gekostet und war außerdem das Lieblingsspielzeug meines Bruders.
Tante Edith fragte meinen Vater, ob er Kinder hasse.
Meine Mutter rief bei Roman an, wir sollten nach Hause kommen.
Wir kehrten also heim und fanden eine Stimmung vor, die kurz vor dem Explodieren stand.
Onkel Bernd und mein Vater musterten sich schweigend, in der Küche roch es angebrannt, die Carrera-Bahn lag in Einzelteilen, mein Bruder brüllte los.
Meine Mutter flehte mich an, die Cousinen zu beschäftigen. Ich setzte mich mit ihnen vor den Computer und wir spielten Autorennen. Damit waren sie erst einmal beschäftigt.
Mein Bruder reparierte seine Bahn, mein Vater fragte Tante Edith nach ihrer Haftpflichtversicherung. Nach dem schweigend eingenommenen Essen las Tante Edith ihren Töchtern Weihnachtsgeschichten vor, in denen viel vom lieben Weihnachtsmann die Rede war; mein Vater verdrehte die Augen.
Dann fuhren alle gemeinsam zum Weihnachtsgottesdienst, aber außer der Tatsache, dass Tante Edith bemerkte, ihre Kinder spielten immer die Hauptrolle und nicht nur lausige Hirten, lief alles halbwegs friedlich ab.
Wir kehrten nach Hause zurück, meine Mutter kochte schon wieder Kaffee.
Meine Cousinen hüpften aufgeregt umher, aber sie vergriffen sich nicht an unseren Sachen, und außer einer dekorativen Elchfigur ging nichts zu Bruch.
Dann war es endlich so weit. Mein Großvater schaltete die Lichterkette ein, und meine Großmutter ließ es sich nicht nehmen, persönlich das Glöckchen zu läuten.
Alle marschierten im Gänsemarsch ins Wohnzimmer. Jeder suchte sich irgendwo einen Sitzplatz.
Wir sangen zusammen „Ihr Kinderlein kommet“. Großvater las mit brüchiger Stimme die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor. Wir Kinder taxierten die Geschenkestapel.
„Und jetzt die Geschenke!“, rief Nicole.
Onkel Bernd erhob sich und erklärte, an Weihnachten komme es nicht auf die Geschenke an, sondern auf Werte wie Frieden und Harmonie. Er stellte sich vor den Tannenbaum und zündete sich eine Zigarette an, wobei er, vermutlich um das Licht der Lichterkette zu nutzen, mit dem Feuerzeug nahe an den Tannenbaum heranging. Zu nahe.
Eine der kleinen Zündschnüre eines der kleinen Päckchen fing Feuer, glomm, mehr oder weniger unsichtbar.
Onkel Bernd erklärte, die Familie sei so unheimlich wichtig, und darum seien wir ja hier zusammen, in Eintracht und …
Da zischte es kurz, es gab einen kleinen Funkenregen und knallte: Das Päckchen, welches er gezündet hatte. Und dieses eine kleine Päckchen rief eine ungeheure Kettenreaktion hervor. Innerhalb kürzester Zeit zischte und knallte und funkte es am ganzen Baum, er schien regelrecht zu explodieren.
Onkel Bernd sprang zur Seite, die Tanten kreischten, meine Oma schrie nach Wasser.
Mein Vater raste los und kam mit einem Wassereimer wieder, den er über dem Tannenbaum ausleerte. Es gab einen Knall, dann war es dunkel im Haus.
„Oh“, machte meine Mutter.
„Kurzschluss“, knurrte Onkel Bernd. „Die elektrische Lichterkette.“
Dann holte er seinen Autoschlüssel hervor, an dem er eine kleine Taschenlampe hatte, und leuchtete meinem Vater den Weg zum Sicherungskasten. Bald war der Schaden behoben. Die Frauen trockneten den Boden unterm Tannenbaum, wir Kinder sahen mit großen Augen zu.
Na ja, das Fest ging eigentlich ganz nett weiter. Mein Vater meinte, Onkel Bernd sei zwar ein Ekel, aber man könne mit ihm auskommen. Tante Käthe erklärte, wir Kinder seien zwar ungezogen, aber eigentlich lieb.
Wir zankten uns ein bisschen, packten unsere Geschenke aus und vertrugen uns wieder.
Aber am Abend, da hörte ich meine Oma zu meinem Opa sagen, das nächste Mal feierten sie Weihnachten wieder alleine. In Ruhe und Frieden. Und das will ich auch hoffen.
INKEN WEIAND
Zoff im heiligen Stall
Es gibt riesengroße Krippen. Ich hörte von einer Krippe in Südamerika, deren Figuren über 40 Meter groß sein sollen. Auch soll es irgendwo eine Krippenlandschaft geben, deren Fläche 25 000 Quadratmeter umfasst.
Die Krippe der Peter-und-Paul-Kirche in Niederauerbach ist nicht so groß. Aber offensichtlich sehr arbeitsintensiv. Zumindest behauptet das der Herr Küster, der Hausmeister dieser beschaulichen alten Kirche. Er sagt, dass die Wochen zwischen dem Ewigkeitssonntag und dem Dreikönigstag die schlimmsten des ganzen Jahres sind. Nach diesen Wochen fühlt er sich jedesmal vollkommen ausgelaugt und überarbeitet. Und jedes Jahr jammert er seiner Frau die Ohren voll. Die zeigt sich stets verständnisvoll, denn die Krippenfiguren der Peter-und-Paul-Kirche in Niederauerbach sind tatsächlich ein wenig unhandlich. Sie sind aus massivem Erlenholz geschnitzt, tragen edle Gewänder aus schweren Stoffen und sind fast so groß wie erwachsene Menschen. Außer natürlich das Jesuskind. Das ist so groß wie ein Baby.
Jedes Jahr lässt der Küster die Figuren einzeln mit Hilfe eines Flaschenzugs an der Außenwand des Glockenturms hinab. Unten zerrt er sie nacheinander auf eine Sackkarre und schiebt sie in den Altarraum. Auch wenn das anstrengend ist und der Herr Küster jedes Mal vom Auf- und Abbau einen gewaltigen Muskelkater am ganzen Körper bekommt, ist diese Arbeit an einem Tag erledigt. Aber das ist nicht der Grund, warum er immer so fertig ist.
Was dem armen Herrn Küster jedes Jahr aufs Neue zu schaffen macht, ist der Umstand, dass die Figuren nicht dort bleiben, wo er sie abstellt. Jeden Morgen stehen ein paar von ihnen ein wenig anders als am Abend zuvor. Auch der Ausdruck ihrer Gesichter scheint sich zu verändern. Da der Küster aber nicht für verrückt gehalten werden will, sagt er niemandem etwas von seinen verstörenden Beobachtungen. Auch nicht seiner lieben Frau.
Als der Küster noch ein paar Jahre jünger war, hatte er versucht herauszufinden, was die Figuren nachts so trieben. Aber immer, wenn er sich ins Kirchenschiff schlich oder von außen durch eines der bunten Fenster spähte, taten die Figuren nichts. Rein gar nichts.
Wenn der Herr Küster über die bei Menschen absolut nicht vorhandene Gabe verfügt hätte, sich unsichtbar zu machen, hätte er sofort herausgefunden, was die Figuren nachts taten; sie schliefen nicht. Schlafen taten sie immer vom Dreikönigsfest im Januar bis zum Ewigkeitssonntag Ende November, wenn sie in Stroh verpackt, im Raum direkt unter den Kirchenglocken, auf ihren nächsten Einsatz warteten. Selbst das regelmäßige Glockengebimmel konnte sie dann nicht wecken. In den langen Nächten der Advents- und Weihnachtszeit hingegen, wenn kein Mensch sich mehr im Inneren der Kirche aufhielt, taten sie alles andere als schlafen.
Eines Nachts, der vierte Advent war bereits vergangen, geschah Folgendes:
Maria, eine zarte Frauengestalt mit edlen Gesichtszügen, die andächtig mit gefalteten Händen vor der Krippe kniete, ließ den Kopf kreisen, um ihren steifen Nacken zu lockern. Dabei sagte sie mit einer sanften Stimme: „Verflixt, meine Knie, mein Rücken, alles tut weh.“
„Jammer nicht!“, sagte Josef daraufhin.
„Ja, du kannst zufrieden sein mit deiner entspannten Pose. Du darfst schließlich stehen“, schimpfte Maria.
„Ich muss die ganze Zeit diese blöde Laterne hoch halten, weißt du, wie das in die Arme geht?“, fragte Josef vorwurfsvoll.
„Hast du sie deshalb heute Morgen in die andere Hand genommen?“, fragte das Jesuskind.
„Ja!“, sagte Josef.
„Das war blöd“, stellte der kleine Jesus fest. „Sie hat mir den ganzen Tag direkt in die Augen gestrahlt.“
„Ab und zu muss ich mal wechseln“, beharrte Josef, „es sieht ziemlich peinlich aus, wenn der rechte Arm aussieht wie der eines Gewichthebers und der linke wie der eines Schwächlings. Immerhin verkörpere ich einen Zimmermann.“
Maria zog sich ächzend am Rand der Krippe hoch, rieb ihre Knie und schüttelte ihre Arme und Beine. Der Hirte nahm das Lämmchen, welches er tagsüber ununterbrochen auf seinen Schultern trug, herunter, und es flitzte blökend durch das Kirchenschiff. Und auch die drei Weisen aus dem Morgenlande legten die Geschenke für das Jesuskind aus den Händen, lockerten die steifen Glieder und machten es sich auf der vordersten Kirchenbank bequem.
Jesus hatte den Kopf gehoben und sah streng in die Runde.
„Morgen früh muss das ein bisschen besser klappen mit euren Posen. Der Herr Küster ist heute ganz blass um die Nase geworden, als er uns gesehen hat. Das gilt besonders für dich, Gabriel!“
„Pfff“, machte Gabriel, der Verkündigungsengel, der, im Gegensatz zu seinem Verhalten, sehr würdevoll aussah.
„Was heißt hier, Pfff’“, schimpfte Jesus. „Wir sind nicht hier, um die Menschen in den Wahnsinn zu treiben!“
„Warum spielst ausgerechnet du Baby dich hier so auf?“, fragte Gabriel. „Sei still, wenn erwachsene Figuren reden!“
„Ich bin hier die Hauptfigur und deshalb bin ich auch nicht still“, quakte das Jesuskind.
Das machte Gabriel sauer. „Im Gegensatz zu mir liegst du Tag und Nacht bequem im Stroh. Ich steh mir die Beine in den Bauch. Meine Arme brechen fast ab, und dann muss ich auch noch gucken, als wenn die Menschheit meine allergrößte Freude wäre“, meckerte Gabriel. „Ich hab echt die Schnauze voll davon!“ Und er ging zur Krippe und nahm das Jesuskind hoch.
„He, aufpassen!“, rief Maria.
„Gabriel, lass das sein“, sagte Joseph. Aber Gabriel legte Jesus kurzerhand auf den Boden. Dann versuchte er, es sich in der Krippe bequem zu machen. Seine Beine und Arme hingen über den Rand.
„Na“, fragte Jesus, „zufrieden?“
„Besser als stehen!“, beharrte Gabriel.
„Die Krippe ist zu klein für dich. Das sieht albern aus!“, gluckste einer der Weisen.
„Merkst du, wie dir das Stroh in den Rücken piekst?“, fragte Jesus, „und die Kirchendecke ist auch nicht der Kracher, oder?“
Gabriel starrte die weiße Decke an und sagte nichts.
„Andere Kirchen haben wenigstens Deckenmalereien. Aber hier ist nichts. Nichts als schmuddeliges Weiß“, sagte Jesus lächelnd.
„Mir egal!“, fauchte Gabriel. „Lieber die Decke als die verpennten Gesichter am Sonntagmorgen.“
„Also das ist doch …“, ereiferte sich Maria.
„Nee, nee, lass mal“, meinte Joseph, „da hat der Gabriel nicht ganz unrecht.“
„Ja“, mischte sich jetzt der Hirte ein, „habt ihr den Typen bemerkt, der letzten Sonntag eingeschlafen ist? Während der Predigt? Der hat voll laut geschnarcht.“
„Ja, den hab ich auch gehört“, sagte das Jesuskind, „aber nicht gesehen. Denn … ich sehe Tag und Nacht nur die Decke!“
„Das sagtest du bereits“, knurrte Gabriel. Er zog die Beine an und wälzte sich von rechts nach links und wieder zurück. Schließlich seufzte er schwer und setzte sich auf.
„Ach, schon keine Lust mehr zu liegen?“, höhnte das hölzerne Baby.
Maria stöhnte genervt.
„Wenn wir uns benehmen würden wie unsere historischen Vorbilder, wären wir viel freundlicher miteinander“, murmelte sie und schickte sich an, das Kirchenschiff zu durchqueren.
„Wenn du dich benehmen würdest wie die echte Maria, müsstest du gar nicht pausenlos knien. Die hat gelegen und geschlafen, nachdem sie Jesus geboren hat. Darauf verwette ich meine Laterne!“, sagte Joseph.
„Apropos Joseph, du bist heute dran mit Wache schieben“, meldete sich Jesus wieder zu Wort.
„Das ist auch so was“, meckerte Gabriel gleich wieder los. „Wir müssen alle Wache schieben, aber du nicht. Das nervt mich.“
„Nun mach aber mal´n Punkt!“, rief Maria. „Er kann nicht stehen, nicht laufen und ist gerade mal 60 Zentimeter groß. Wie soll er da Wache schieben! Er reicht ja noch nicht mal ans Fensterbrett heran.“
„Dann soll er mal nicht so ’ne große Klappe haben“, sagte Gabriel.
Joseph postierte sich am Fenster und sah über den Kirchhof hinüber zum Haus des Küsters.
„Ist ja schon ’ne Weile her, dass der Küster hier nachts um die Kirche geschlichen ist. Hätte uns fast erwischt, damals.“
„Stell dir mal vor, er hätte uns erwischt …“, sagte Maria und blätterte halbherzig in einem Traktat über den Stern von Bethlehem.
„Och, dann wären wir jetzt vielleicht mit dem Küster befreundet und könnten die Kirche auch mal verlassen. Mal rübergehen zu ihm, bisschen fernsehen oder so“, meinte Joseph.
„Quatsch“, sagte Gabriel, „wenn der Herr Küster uns erwischt hätte, hätte er sicher geglaubt, er sei wahnsinnig. Dann würde er bestimmt nicht mehr hier arbeiten.“ Alle schwiegen, und weil Gabriel selten erlebte, dass alle ihm zuhörten, fuhr er schnell fort: „So sind die Menschen. Alles, was sie nicht erklären können, finden sie unheimlich. Sie sagen sich, das kann nicht sein, oder das kann es ja gar nicht geben …“
Währenddessen trat, etwas früher als gewöhnlich, der Herr Küster aus seinem Häuschen. Tief sog er die kalte Morgenluft ein und machte sich dann auf den Weg zur Kirche.
„ … die Menschen haben die Wunder direkt vor der Nase. Aber sie wollen sie nicht sehen“, dozierte Gabriel fröhlich weiter, „sie sehen Sonnenaufgänge und Sternschnuppen. Sie hören jeden Sonntag in den Predigten von den Wundern, die Jesus so vollbracht hat … falls sie nicht gerade schlafen. Sie sehen, wie Kranke gesund werden und wie ihr Getreide auf den Feldern wächst. Und wenn sie nur ein bisschen genauer hinsehen würden, hätte nicht nur der Herr Küster bemerkt, dass mit uns was nicht stimmt.“
„Was soll denn bitte mit mir nicht stimmen?“, fragte Maria säuerlich.
„Ich meine, dass wir leben und eben nicht tot sind, wie sie vermuten“, versuchte Gabriel es noch mal.
„Du bezeichnest dich also ernsthaft als ein Wunder?“, kiekste das Jesuskind. Gabriel sprang aus der Krippe und beugte sich drohend über Jesus.
„Du kleiner, unnötiger Holzkopf …“
„Er kommt!“, schrie Josef und löste damit eine Hektik aus, die man Holzfiguren gar nicht zugetraut hätte. Der Hirte jagte hinter seinem Lämmchen her, das keine Lust hatte, wieder einen Tag auf seinen Schultern zu verbringen.
„Wir reden heute Abend weiter!“, zischte Gabriel Jesus zu und eilte zu seinem Platz. Maria stellte hastig das Traktat zurück und flitzte zum Altarraum, als der Küster den Kirchhof bereits halb überquert hatte.
„Hey“, quiekte Jesus, „würde mich bitte jemand zurück in die Krippe legen?“
Die drei Weisen stolperten über die Säume ihrer Gewänder, rempelten sich gegenseitig an und stritten darum, wer welches Gefäß in die Hände nehmen musste, als der Küster den Schlüssel im Schloss drehte. Gabriel versuchte sich zu erinnern, wie er seine Arme zu halten hatte. Josef nahm widerwillig seinen Platz ein und seine Laterne auf. Und gerade, als der Küster das schwere Portal der Kirche öffnete, ließ Maria sich auf die Knie nieder.
Der Herr Küster schritt langsam das Kirchenschiff hinunter und sah eine Weile die heilige Familie an. Er nahm das Jesuskind hoch und bettete es sanft in der Krippe. Dann strich er über Marias absolut starre, unbewegliche, hölzerne rechte Hand, die gestern noch so ehrfürchtig gefaltet gewesen war, nun aber auf dem Rand der Krippe ruhte.
Noch knappe drei Wochen, dachte er müde, dann stecke ich sie alle wieder ins Stroh!
HEIKE BINDER