Wir leben weiter ins Ungewisse

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Wir leben weiter ins Ungewisse
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Wir leben weiter

ins Ungewisse

Tagebücher und Briefe

aus dem Jahr 1945

Herausgegeben von Monika Tibbe


© 2014 zu Klampen Verlag Röse 21 D-31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Hugo Thielen Hannover

Satz: thielen VERLAGSBUERO Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783866743090

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Tagebuch von Trudi Tibbe

Briefe von Annemarie Techand

Tagebuch von Elisabeth Rautenberg

Tagebuch über die Belagerung Kolbergs

Brief von Gisela Syring

Brief von Johannes Syring

Tagebuch von Dr. Rosemarie Stroh

Brief von Hildegard Hoevels

Briefe von Johann Vollmer

Briefe von Ruth Vollmer

Tagebuch von Katharina Brömse

Tagebuch von Elisabeth Siebert

Brief von Heinz Holzmann

Bericht von Max Birkhahn

Brief von Minna Lottermoser

Nachwort

Der Zweite Weltkrieg

Über die Herausgeberin

Fußnoten

VORWORT

Wenn Sirenen aufheulen, erschrecke ich. Das Erschrecken ist unmittelbar, wie ein Reflex. Ich bin im März 1944 geboren, mein erstes Jahr ist das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs. Von dieser Zeit weiß ich nichts mehr, nur die Sirenentöne haben sich eingebrannt ins Hirn.

Vermutlich ist dies ein Grund, warum ich damit begann, Texte aus dem Jahr 1945 zu lesen und dann zu sammeln. Sie beschreiben eine Zeit, in der ich zwar schon lebte, aber noch nicht viel mitbekam von den Ereignissen des Krieges. Oder doch mehr, als man im Allgemeinen annimmt? Ich muss zumindest das Herzklopfen, die Angst meiner Mutter, die Unruhe in meiner Umgebung gespürt haben, wenn die Sirenen warnten, die Bomben einschlugen.

Den Impuls für dieses Buch gab ein Abschnitt aus einem Tagebuch meiner Mutter, das sie für mich geschrieben hat. Zwar kannte ich diesen Text schon, hatte ihn sogar aus der Sütterlinschrift in die lateinische Schrift übertragen, doch ging damals mein Interesse nicht über ein persönliches hinaus. Jetzt richtete sich meine Aufmerksamkeit auf das »Stück Weltgeschichte«, und auf die junge Frau, die es erlebt und beschrieben hat. Dieser Blickwechsel war sicher kein Zufall; das Thema lag in der Luft. Zwar gibt es eine unübersehbar große Zahl von Veröffentlichungen über den Zweiten Weltkrieg. Doch scheint sich das gesellschaftliche Interesse mehr und mehr auf die persönlichen Erlebnisse der Kriegsgeneration zu richten. Als »Zeitzeugen« erzählen sie ihre individuelle Geschichte, eine anschauliche und notwendige Ergänzung einer auf Daten und Fakten konzentrierten Geschichtsschreibung.

Auch die Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind Zeugen ihrer Zeit. Allerdings handelt es sich nicht um Erinnerungen alter Menschen aus großem zeitlichen Abstand heraus, sondern um Tagebücher und Briefe, die 1945 entstanden sind. Die Stimmen, denen wir hier zuhören, sind viel jünger – die jüngste fünfzehn Jahre alt – und sie sind nah dran an den Ereignissen. Wir kommen in Kontakt mit Persönlichkeiten, ohne ihnen im »realen« Leben begegnet zu sein, werden hineingezogen in ein Zeitgeschehen, das wir nicht selbst erlebt haben. Das gelingt sonst nur Romanen.

Die VerfasserInnen der Briefe und Tagebücher sind fast alle nicht mehr am Leben. Und die nächste Generation hat möglicherweise erst jetzt genügend Abstand, um sich mit dieser heiklen Geschichte zu beschäftigen. In vielen Familien wurde über diese Zeit wenig oder gar nicht gesprochen, das ist bekannt. Und die ’68er haben damals ihre Eltern eher zur Rede gestellt, zur Rechenschaft gezogen und deshalb nicht wirklich etwas erfahren, vielleicht auch nicht erfahren wollen. Im Unterschied dazu geht es mir darum, die Erlebnisse, Haltungen und Gefühle von Menschen aus der Kriegsgeneration erst einmal nur wahrzunehmen, ohne gleich in die Auseinandersetzung zu gehen oder sich vorschnell um Verständnis und Erklärungen zu bemühen.

Eine möglichst offene Haltung erfordert möglichst wenige Vorgaben für den Prozess des Sammelns. Ich suchte nach privaten Texten, nach Tagebüchern, Briefen, Berichten aus dem Jahr 1945, im Unterschied zu Erinnerungen an diese Zeit oder Interviews mit Zeitzeugen, zwei in der Herangehensweise und den Ergebnissen gänzlich andere Textsorten. Sonst machte ich keine Einschränkungen, suchte auch nicht gezielt nach bestimmten Themen. Ich nutzte mein privates und berufliches Netzwerk, erzählte von meinem Vorhaben, schickte als Beispiel den Text meiner Mutter herum und bat darum, in Kellern und Dachböden nach entsprechenden Dokumenten zu suchen und mein Anliegen auch im Bekanntenkreis zu verbreiten. Zu den Texten, die mir dann zur Verfügung gestellt wurden, hatten die BesitzerInnen allesamt eine persönliche Beziehung; meist stammten die Texte, wie meiner auch, von den Eltern. Manche hatten die gefundenen Tagebücher oder Briefe noch nie gelesen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Schrift ihnen Schwierigkeiten machte oder weil sie bisher nicht dazu gekommen waren. Die Scheu davor, vielleicht etwas zu erfahren, das man gar nicht wissen will, spielte sicher mit. Einige der Angeschriebenen fanden wohl passende Dokumente, mochten sie aber aus unterschiedlichen Gründen nicht veröffentlicht sehen.

Zu Beginn des Sammelns hatte ich noch kaum eine konkrete Vorstellung, was da auf mich zukommen würde und ob die Texte qualitativ und quantitativ für eine Veröffentlichung geeignet wären. Als die Dokumente dann nach und nach eintrafen, überraschte und beeindruckte mich ihre Vielfalt und ihre Intensität. Ich hatte Glück, dass ich Texte von Frauen und Männern, aus verschiedenen Gebieten Deutschlands, von Personen mit unterschiedlicher Bildung und unterschiedlichen Berufen erhielt. Und Glück auch insofern, als keine Texte von Prominenten oder von nationalsozialistischen Politikern dabei waren. Sie hätten der Sammlung und ihrer Rezeption falsche Akzente gegeben. Auch erhielt ich keine Dokumente von Gefangenen in Konzentrationslagern; solche Texte hätten vermutlich die gesamte Sammlung aus den Angeln gehoben. Was ich also »Glück« genannt habe, sind genau genommen Auswahlkriterien, die ich aber nicht anwenden musste.

Ansonsten orientierte ich mich in der Auswahl der Dokumente an meinem »Geschmack«. Gut lesbare, spannende, anrührende Texte sollten es sein, Texte, die eine Geschichte erzählen. Solche Qualitäten hatten überraschend viele. Einige wenige Kürzungen schienen mir sinnvoll, da die Tagebücher stellenweise viel Privates enthalten, das für Außenstehende nicht verständlich ist und zu viele Erläuterungen notwendig gemacht hätte. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik habe ich der Lesbarkeit wegen nach den heutigen Regeln korrigiert, dabei aber hier und da sprachliche Eigenheiten belassen, die zur Zeit und zur Persönlichkeit der Schreibenden gehören. Die Anordnung der Texte folgt keinem zeitlichen, regionalem oder thematischen Ordnungsprinzip; eine Dramaturgie der Abwechslung von kurzen und langen, leichtgewichtigen und schweren Texten erschien mir lesefreundlicher und reizvoller.

Für das Verständnis der Texte ist eine gewisse Kenntnis der Zeitgeschichte um das Jahr 1945 notwendig. Da ich selbst keine Historikerin bin, war mir klar, dass ich mich hier auf ein für mich unsicheres Terrain begeben würde. Aber selbst Fachleute hätten wohl Schwierigkeiten, das richtige Maß an notwendigen Informationen für diese Sammlung zu liefern. Die Texte sollten ja nicht von Informationen überwuchert werden, sie sollten das bleiben, was sie sind, und nicht relativiert werden durch »objektiv richtiges« Wissen über diese Zeit. Es galt also, Informationen zu finden, die so etwas wie ein Allgemeinwissen repräsentieren, ein Allgemeinwissen, das gleichzeitig auf dem heutigen wissenschaftlichen Stand ist.

 

Diese Anforderung schien mir am besten eine Veröffentlichung des Deutschen Historischen Museums in Berlin zu erfüllen. Ein relativ kurzer Text, online zugänglich und mit vielen Links versehen, beschreibt den Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Als Hintergrundfolie für die Dokumente ist er hier vollständig wiedergegeben.

Darüber hinaus habe ich in kurzen biografischen Skizzen sowie in Anmerkungen versucht, notwendige Verständnishilfen zu geben. Dabei konnten die heutigen BesitzerInnen der Dokumente mir häufig Fragen beantworten; ein großer Vorzug meiner Methode des Sammelns, die den Kontakt zu den Kindern oder Enkeln der Schreibenden beinhaltet. So geht mein Dank an Martina Bress-Thiem und Herbert Gleich, Michael Brömse, Bruno und Kadja Grönke, Hildegard Harms, Ruth Kilp, Erardo C. und Erika Rautenberg, Georg und Peter Schleuning, Hanna Schütt-Dunker, Wolfgang Stroh, Ursula Syring-Dargies für die Überlassung der Briefe und Tagebücher und die Beantwortung von Fragen. Bei Hildegard Harms bedanke ich mich für das Entziffern von Handschriften und bei Almuth Tibbe für die Mitarbeit an der Konzeption des Buches.

Auszug aus dem Tagebuch von Trudi Tibbe (1917–1971) für ihre Tochter Monika, im Mai 1945 etwas über ein Jahr alt. Trudi Tibbe arbeitete damals als Diakonin in Lingen, Niedersachsen; die Familie Staedtke, von der im Text die Rede ist, war die Pfarrersfamilie. Auf dem Bauernhof in Quendorf, von Lingen etwa zwanzig Kilometer entfernt, lebte die Herkunftsfamilie ihres Mannes, Johann Tibbe (1914–1976).

Trudi Tibbe ist 1945 achtundzwanzig Jahre alt.

6. Mai 1945

Nun haben wir beide ein ganzes Stück Weltgeschichte erlebt seit meinem letzten Erzählen. Die Alarme wurden im März immer häufiger, so dass Du kaum draußen sein konntest und fast dauernd im Keller sein musstest. Ich legte Dich abends auch immer gleich im Keller schlafen. Am 24. März gab der Drahtfunk durch, es bestehe Gefahr für Lingen, man solle möglichst Stadt und Bahngelände verlassen. Da packten wir Dich zum ersten Mal ins Fahrradkörbchen und verbrachten einen sonnigen Ferien-Samstag-Nachmittag auf einer Waldwiese bei Wachendorf. Du spieltest mit Blättern und Gras und warst mit solch abwechslungsreichem Alarm sehr einverstanden. Von dem Tag ab saß ich etwas unruhig hier. Aber Ostern sollte die Konfirmation sein, und vorher konnte ich Lingen nicht verlassen.

Die Tage vor Ostern waren voller Aufregungen: Einberufung und Abtransport der Vierzehn- und Fünfzehnjährigen,1 die aber bis auf wenige alle wieder ausrissen, so dass am Konfirmationstag nur ein Junge fehlte. Und dann kamen die Nachrichten vom schnellen Vorstoß der Engländer. Montag Morgen hieß es: »Panzerschützen vor Gildehaus.« Da wurde es allerhöchste Zeit für uns, wenn wir noch nach Quendorf wollten. Alles ging im Hui: ich packte, Frau Staedtke backte uns etwas, Du schliefst. Dann standen wir im Vorkeller startbereit, und draußen goss es in Strömen, und der Sturm fegte einem den Regen nur so ins Gesicht. Es schien Wahnsinn, jetzt loszufahren, aber wir wussten: jetzt oder gar nicht und wagten es. Eva Staedtke fuhr bis zur Haneken-Brücke mit, um Papa schreiben zu können, dass wir gut am anderen Ems-Ufer gelandet seien. Zum Glück waren die Brücken noch heil, vierzehn Stunden später wurden sie gesprengt. Das Bild der Straße werde ich nie vergessen: etwa alle zwanzig Meter ein deutscher Infanterist, müde, mit letzter Kraft sich vorwärtsschleppend, dann wieder ein Trüppchen, das sich vorwärts sang und ganz, ganz selten ein Auto, dann aber auch bis an Kühler und Trittbrett voll von solchen, die nicht mehr konnten. Wiederholt wurde ich nach dem Weg gefragt. Kaum einer wusste, wohin er sollte. Es war ein ungeordnetes, zurückflutendes, schon geschlagenes Heer. Und mitten in all dem traurigen Geschehen jauchztest und trötetest Du in Deinem Fahrradkörbchen vor Lebenslust. So machtest Du mir Mut, und hie und da freute sich auch ein müder Soldat an Deinem Anblick. Hinter Emsbüren wurdest Du knötterig. Wahrscheinlich hattest Du Durst und konntest auch nicht mehr sitzen. So gingen wir in ein Haus, um Dir Dein Fläschchen zu wärmen. Diese Rast habe ich noch oft bereut und verwünscht. Als wir herauskamen, war alles verändert: Die Regenwolken hatten blauem Himmel Platz gemacht, und die Sonne schien sogar warm. Aber statt Wolken waren Tiefflieger am Himmel! Die Straße war plötzlich bevölkert, dicht bevölkert: Geordnete Gruppen zogen dem Feind entgegen: zu Fuß mit Panzerfäusten, beritten, dazwischen ein Trosswagen am anderen, Sanitätswagen usw. Ich musste fast dauernd schieben, und wir beide waren die einzigen Zivilisten weit und breit. Immer wieder hieß es: »Wo wollen Sie denn noch hin? Sie fahren ja in falscher Richtung mitten in die Engländer hinein.« Oder: »Dort drüben schießen sie ja schon hinein, bleiben Sie bloß hier!« Aber alle waren freundlich zu uns, machten, wenn’s ging, Platz und halfen uns vorwärts. Plötzlich war die Straße vollkommen leer: Alle Soldaten lagen an der Böschung oder im Graben, und die Flieger kamen herunter und schossen. Ich lag mit Dir neben einem Soldaten, der nachher noch Rad und Gepäck nachholte. So ging es nun an einem Stück. Mehrmals lag unser Rad und Gepäck mitten auf der Straße. Auf diese Weise opferten wir dem Krieg: meine Wollhandschuhe, eine Windel und Deine Gummi-Unterlage. Einmal ließ ich Dich im Körbchen am Boden sitzen, um das Gepäck zu holen, da hörte ich plötzlich einen Soldaten rufen: »Vorsicht, das Kind!«, und schon brülltest Du los. Du lagst im umgekippten Körbchen mit dem Gesicht im Gestrüpp. Deine Stirn war ziemlich zerschunden. Noch jetzt sieht man die Narbe. Ob sie als dauerndes Andenken bleibt? Da wagte ich die Weiterfahrt nicht mehr. Ein paar Soldaten riefen mir zu: »Bis zum Haus dort drüben schaffen Sie’s vor den nächsten Fliegern.« So raste ich mit Rad, Gepäck und Monika dem Bauernhaus zu und kam dort in mancher Beziehung ziemlich erledigt an und mutlos dazu. Die Leute nahmen uns lieb auf, Du wurdest mit Plätzchen und ich mit Obstkuchen gefüttert, dann legten wir Dich in ein Bett, und Du schliefst bald und fest und lange. Die Schießerei draußen ging weiter, und drinnen im Radio wurde Mozarts Zauberflöte gespielt. Erst nach acht Uhr abends wagten wir die Weiterfahrt. Die Straßen waren viel leerer, hie und da ging’s durch besetzte deutsche Artillerie-Stellungen hindurch. In Quendorf fanden wir ein voll besetztes Haus vor, die Diele voll Soldaten. Aber die beiden Flüchtlinge wurden mit offenen Armen aufgenommen. Ich schickte Sini2 zuerst allein hinein. Ich hörte, wie sie sagte: »Noch ein Flüchtling«, und dann kam Oma schon herausgestürzt. Opa hatte Dich zuerst und gleich erkannt, obwohl er Dich ein halbes Jahr nicht gesehen hatte.

In Quendorf ließen wir – wie wir’s schon lange geplant hatten – den Krieg über uns hinweggehen. 21 Personen waren wir schließlich, die Schüttorfer kamen an einem der nächsten Abende an: Nach einem Bombenabwurf auf Schüttorf waren sie aus einem brennenden Nachbarhaus aus den Kellerfenstern herausgekommen und suchten nun in Quendorf Zuflucht. Bis zuletzt arbeiteten wir an unserem Bunker, aber drin waren wir nicht. Unsere Gegend hatte auch keinen Beschuss. Aber unheimlich war, wie die Artilleriegeschosse über uns wegheulten und dann in Richtung Schüttorf krepierten, noch unheimlicher, wie die eigene Artillerie in unsere Richtung schoss. Und dann hörten wir die Panzer rollen, und immer noch kamen versprengte deutsche Soldaten vorbei: meist junge Kerlchen, ganz erschöpft und ausgehungert. Oma schöpfte Milchsuppe aus, wir strichen Butterbrote, und dann zogen sie weiter: früher oder später in die Gefangenschaft hinein. Nach Tagen erschien das erste Tommy-Auto auf dem Hof, wir saßen, etwas bange, in der Küche. Es klopfte, drei Engländer erschienen und sagten das formlose Wort »eggs«, nahmen die Eier in Empfang, legten ein paar Klümpchen3 auf den Tisch: »For babies« und verschwanden. Das wiederholte sich immer wieder, Schlimmeres passierte auf unserem Hof nicht, wirklich ein besonderes Geschenk: Denn auf anderen Höfen wurde viel gefordert, geplündert oder zerstört.

Du bekamst von aller Aufregung etwas mit und wusstest doch nicht, was los war. Du warst in den ersten Tagen ziemlich verstört, dazu kam eine ganz gehörige Erkältung von der Sturmfahrt her. Aber mit der Zeit lebtest Du ich gut ein, hattest Freude an Deinen Vettern und Kusinen und benahmst Dich entschieden gut. Änne sorgte wie ein Mütterchen für Dich: Fütterte Dir Deine Bröckchen, putzte – unter Deinem heftigen Protest – Deine Nase und wusch mit Begeisterung Deine Windeln, sogar die schmutzigen. Es war schön, dass Oma und Opa so auch ihr sechstes Enkelkind näher kennenlernten, und ich glaube, sie haben dich richtig lieb bekommen.

Du fühltest Dich so daheim in Quendorf, dass ich ohne Sorge losfahren konnte, um in Lingen nach unseren Habseligkeiten zu sehen. Das erste Mal kam ich erfolglos zurück: Man ließ mich nicht über die Haneken-Brücke. Aber am 23. April gelang es endlich. Lingen sah traurig zerschossen aus. Ich war erleichtert, wenigstens von weitem doch alle drei Kirchtürme zu erkennen, und froh war ich, als unser Haus noch stand. Frau Staedtke begrüßte mich: »Machen Sie sich auf das Schlimmste, das Allerschlimmste gefasst.« In unserem Haus hatten sie wie die Wilden gehaust: erst die SS, dann die Engländer, dann Fremdarbeiter (Polen, Holländer, Russen) und dann wohl auch Lingener Frauen. Es war ein unbeschreibliches Durcheinander: Alles war aus den Schränken und Schubladen gerissen, beschmutzt, zertrampelt, bewusst durcheinandergebracht. So stand z. B. unser hinteres Bett im Keller aufgeschlagen, Deine nicht gestohlene Wäsche lag auf den Kohlen, unsere Fotografien lagen zwischen zerschlagenen Eiern und ausgeschütteten Saftflaschen und Marmeladengläsern im Keller, Dein Kindermehl fand ich in Staedtkes Küchenschrank wieder, ein Teil unserer Teller stand im Unterrichtsraum usw. usw. Und sehr, sehr viel fehlte. Papa hat hier, wenn er heimkommt, nur noch einen Hut, einen Schlafanzug und ein paar Socken und einen schwarzen Schlips! Uhren, Radio, Fahrrad, Wäsche, Wolle, Kleider, Kleidchen und Strampelhöschen und Gummiunterlagen von Dir – alles gestohlen. Das Empfindlichste sind vielleicht die fehlenden Matratzenteile in Papas Bett. Fast alle Fensterscheiben sind entzwei, und Glas gibt’s nicht. So habe ich Holz, Pappe und Papier vor die Fenster genagelt. Im Wohnzimmer war keine andere Hilfe als größere Fensterflügel in die Füllung zu nageln, nun sind die Fenster aber auch ganz zu und können gar nicht geöffnet werden. Und das im Mai! Aber der Durchzug war zu schlimm, besonders für Dich.

Am 2. Mai bin ich wieder mit Dir hier angekommen. Du zogst, im Körbchen schlafend, in Lingen ein und wurdest mit ganz großem Hallo begrüßt. Das Schönste war, wie Du Dein Heim begrüßtest: mit Freude und Ausgelassenheit, die ich wohl noch nie an Dir sah. Du lachtest Frau Staedtke in einem fort an, krochst auf Almuths Krankenbett herum und quietschtest vor Freude. An Schlafen dachtest Du nicht, obwohl es schon 9 Uhr war.

Ja, nun sind wir wieder daheim und müssen erst einmal Ordnung schaffen. Wie gut, dass Haus und Möbel erhalten sind.

Vorgestern Abend wurde die Kapitulation der deutschen Truppen in Holland und Norddeutschland gemeldet. Wo unser Papa ist und wie’s ihm geht? Über einen Monat hörten wir nun nichts von ihm. Aller Verlust an schönen Dingen wiegt nichts – wenn er nur gesund heimkehrt.

Im Juli 1945 wurde Johann Tibbe aus englischer Gefangenschaft entlassen; dort hatte er bereits als Pastor gearbeitet. Ende September zog die Familie nach Hamburg-Altona in das oberste Stockwerk des Kirchengebäudes der evangelisch reformierten Gemeinde, in eine Wohnung, die zwar erhebliche Bombenschäden aufwies, aber auch einen weiten Blick über die Elbe und den Hafen.


Aus dem Tagebuch von Trudi Tibbe