Loe raamatut: «Wörterbuch der Soziologie», lehekülg 21

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Anna Baumert/Manfred Schmitt

Geschichte der Soziologie

Definition und Vorgehensweise

Die Geschichte der Soziologie (engl. history of sociology) beinhaltet den historischen Prozess, in dem sich das soziologische Denken über gesellschaftliche Zusammenhänge und menschliches Sozialverhalten herausgebildet hat. Bei der Geschichte der Soziologie geht es über die reine Ideengeschichte hinaus um die Institutionengeschichte, d. h. um die Formierung des soziologischen Denkens zu einer eigenständigen Fachdisziplin und deren organisatorische Verankerung im Wissenschaftssystem. Die Ideengeschichte lässt sich anhand der in der Soziologie paradigmatisch gewordenen Theorieansätze, empirischen Forschungsmethoden und Zeitdiagnosen nachvollziehen. Hierbei wird den soziologischen Klassikern eine innovative Rolle zugesprochen, da sie instruktive Problemstellungen und Lösungsansätze entwickelt haben, an die nachfolgende Soziologen bis heute anknüpfen (Kaesler 2006a). Wichtige Quellen für die Analyse solcher »hidden points of continuity« (Turner 1999, viii) sind die wissenschaftlichen Werke und persönlichen Aufzeichnungen der Klassiker und auf sie Bezug nehmenden Soziologen. Geht es um die soziologische Institutionengeschichte, wird stärker auf archivierte Dokumente inner- und außeruniversitärer Einrichtungen und für das Fach wichtige Publikationen, wie Fachzeitschriften, Lexika, Lehrbücher und Tagungsdokumentationen zurückgegriffen.

Die Geschichte der Soziologie wird von Wissenschaftshistorikern und Soziologen – hier oftmals als ein Gegenstandsbereich der Allgemeinen Soziologie – untersucht und ist inzwischen institutionalisiert. Seit Mitte der 1960er Jahre gibt es spezielle nationale und internationale Publikationsorgane, in denen Studien zur Geschichte der Soziologie regelmäßig veröffentlicht werden, wie der von der International Sociological Association (ISA) ab 1976 herausgegebene ›Research Committee on the History of Sociology‹ Newsletter, oder das ›Jahrbuch für Soziologiegeschichte‹, das in Deutschland seit 1990 erscheint.

Wie jede Geschichtsschreibung muss auch die Historiografie der Soziologie eine teleologische Verkürzung und idiosynkratische Verklärung der Vergangenheit systematisch vermeiden. Typische soziologiegeschichtliche Fehlinterpretationen sind die Annahmen einer Ideenkontinuität und eines kumulativen [145]Erkenntnisfortschritts. Sie resultieren in der Regel daraus, dass die Geschichte der Disziplin »von hinten aufgerollt wird«, d. h. dass Begriffe, Theoriekonzepte und Fragestellungen der Gegenwart als Projektionsfläche bei der Betrachtung der Vergangenheit benutzt werden. Neben diesem Präsentismus führt auch die Nichtbeachtung sozialer, kultureller und historischer Kontextbedingungen der Theorieproduktion zu systematischen Fehlinterpretationen der Geschichte der Soziologie (Merton 1967; Lepenies 1981). Fundierte Untersuchungen rekurrieren auf die wechselseitige Beeinflussung zwischen Ideenund Institutionengeschichte. In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Einflussnahme von Schulen innerhalb der Soziologie verwiesen. Die Schulen bündeln jeweils Anhänger einer bestimmten soziologischen Theorie bzw. eines Forschungsprogramms. Da sie untereinander um die Deutungshoheit innerhalb der Scientific Community konkurrieren, gestaltet sich die Entwicklung der Soziologie insgesamt als ein dynamischer, von Paradigmenwechseln geprägter Prozess. Angeregt durch Studien (beginnend mit Sorokin 1928) über soziologische Schulen setzt sich seit den 1970er Jahren eine wissenssoziologische Betrachtung der Geschichte der Soziologie durch. Auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind Gegenstand einer solchen Betrachtung. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Soziologie – anders als etwa die Physik oder Chemie – ein- und rückgebunden ist in ihren Untersuchungsgegenstand, d. h. in die von ihr beobachteten gesellschaftlichen Prozesse. Tatsächlich trat die Soziologie in der Vergangenheit häufig mit dem Anspruch auf, als Reflexions- und Krisenwissenschaft der modernen Gesellschaft die sozialen Veränderungen nicht nur adäquat widerzuspiegeln, sondern sie auch wissenschaftlich mitzugestalten. Rückblickend lässt sich konstatieren, dass die gesellschaftliche Reputation der Soziologie als Wissenschaft und die Nachfrage nach soziologischen Erkenntnissen gewissen Schwankungen unterworfen sind. Mal galt sie als moderne Leitwissenschaft und hatte ein sehr hohes Ansehen, mal hatte sie den Status einer Begleitwissenschaft von anderen Gesellschafts-, Sozial- und Humanwissenschaften.

Nimmt man das Prestige der Soziologie zum Maßstab, lässt sich ihre Ideen- und Institutionengeschichte durch drei historische Perioden grob nachzeichnen: Anfänge des soziologischen Denkens und Etablierung als Wissenschaft im 19. Jh.; Professionalisierung und Prestigezuwachs in den 1950er und 1960er Jahren; Soziologie als eine multiperspektivische Sozial- und Humanwissenschaft seit den 1970er Jahren.

Anfänge der Soziologie und Etablierung als Einzelwissenschaft

Bereits aus früheren Hochkulturen sind Gedanken über das menschliche Zusammenleben überliefert. Man findet sie beispielsweise im Babylonischen Gilgamesch-Epos um 2100–1800 v. Chr. ebenso wie in der Konfuzianischen Lehre aus dem alten China 500 v. Chr. oder der christlichen Bibel. Mit dem Brüchigwerden der traditionalen Feudalordnung in Europa kommt es seit dem 15. Jh. verstärkt zu systematischen Überlegungen zur Herrschaftsausübung (Machiavelli, Hobbes, Hume), zur Arbeitsteilung als Grundlage des gesellschaftlichen Reichtums (Smith), zum gesellschaftlichen Fortschritt (Montesquieu, Turgot, Saint-Simon) und zur Demografie (Quetelet). Soziologische Erkenntnisse im strengen Sinne werden jedoch erst seit Mitte des 19. Jh.s hervorgebracht. Der soziale Wandel (insb. Kapitalismus, Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, revolutionäre Bewegungen, Bildung von Nationalstaaten) lässt sich mit den Wissensbeständen der Geschichts- und Staatswissenschaften, der Ökonomie, Psychologie oder Philosophie nicht angemessen beschreiben und erklären. Die neu aufkommende Denkweise, für die Auguste Comte die Bezeichnung ›Soziologie‹ prägt, lenkt den Blick auf die Gesamtgesellschaft und ihre historischen Entwicklungsstadien. Neben Comte haben zu dieser Zeit auch Karl Marx mit seinem antagonistischen Klassenmodell und Herbert Spencer mit systemtheoretischen Überlegungen das soziologische Denken maßgeblich vorangetrieben. Die drei Theoretiker gelten als die frühen Klassiker der Soziologie. Während sie noch der Idee einer gesetzmäßigen und wissenschaftlich steuerbaren Höherentwicklung der Zivilisation anhängen, konzipieren Ende des 19. Jh.s bis zum 1. Weltkrieg Theoretiker wie Emile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel die Soziologie als Erfahrungswissenschaft auf der Grundlage einer eigenständigen Begriffs-, Methoden- und Theoriebildung. Die von ihnen untersuchten Phänomene der Individualisierung, gesellschaftlichen Desintegration, Rationalisierung und Geldwirtschaft deuten sie – getragen von einem pessimistischen Zeitgeist – als Krisensymptome der modernen Gesellschaft.

[146]In dieser Zeit etabliert sich die Soziologie als akademische Disziplin. Die ersten soziologischen Lehrstühle und Abteilungen an Universitäten werden in den 1890er Jahren in Frankreich und in den USA, etwas später auch in England und Deutschland eingerichtet. Es entstehen nationale Vereinigungen, wie die heute noch existierenden American Sociological Association (1905) und die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (1909). Forschungsprogrammatisch ist die Geschichte der Soziologie bis in die 1940er Jahre hinein stark von länderspezifischen Unterschieden geprägt. In Frankreich erlangt die positivistisch ausgerichtete Durkheim-Schule großen Einfluss, während in Deutschland die Soziologie stärker kulturwissenschaftlich und historisch orientiert ist, bis sie in der NS-Zeit politisch vereinnahmt wird und vollkommen an Bedeutung verliert. Viele jüdische Soziologen emigrieren ins Ausland, darunter die Vertreter der Frankfurter Schule. In den USA gehen wichtige Impulse von der Chicago School aus, die am Pragmatismus George H. Meads anknüpft und wegweisende empirische Untersuchungen zum urbanen Leben in der multiethnischen Großstadt durchführt.

Professionalisierung und Prestigezuwachs

Mit der 1949 gegründeten ISA wird eine organisatorische Struktur für einen besseren Austausch und eine dauerhafte Vernetzung zwischen den Soziologen aus verschiedenen Ländern geschaffen. Parallel zu dieser Transnationalisierung findet die Soziologie immer stärker Anerkennung als Normalwissenschaft. Talcott Parsons hat daran einen großen Anteil, indem er Ende der 1930er Jahre verschiedene Theorieströmungen der europäischen Soziologie konzeptionell zusammenführt und in der Folgezeit eine Sozialwissenschaft vorantreibt, die mit logisch verknüpften Axiomen (im Sinne eines theoretischen Systems) operiert. Der von ihm und seinen Schülern ausgearbeitete Strukturfunktionalismus wird nach dem 2. Weltkrieg bis in die frühen 1960er Jahre zum dominanten Paradigma innerhalb der Soziologie. Der wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundene Verbesserung der Lebensverhältnisse in den westlichen Nachkriegsgesellschaften wecken ebenso wie die Dekolonialisierung in vielen Regionen der Welt das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Planung und Steuerung der eingeleiteten Modernisierungsprozesse. Nicht nur die gesellschaftliche Nachfrage auch das in dieser Zeit vermehrte universitäre Lehrangebot für Soziologie einschließlich der aufgewerteten empirischen Datenerhebung und -analyse führen schließlich dazu, dass sich diese Wissenschaft zu einer stark professionalisierten, thematisch ausdifferenzierten Disziplin mit hohem Prestige in der akademischen Rangordnung entwickelt. Dies gilt allerdings nicht für die sozialistischen Länder, in denen die Soziologie im Schatten der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft steht.

Im Sog der 68er-Bewegung gewinnen marxistische Positionen an Einfluss innerhalb der Soziologie Westeuropas (insbesondere Deutschlands und Frankreichs) und – wenn auch in abgeschwächter Form – der USA. Eine entsprechende Politisierung des Faches macht sich Anfang der 1970er Jahre sowohl in der akademischen Diskurskultur bemerkbar als auch in Stellenbesetzungen und Lehrinhalten an Hochschulen und Universitäten.

In dieser Zeit entfaltet die Soziologie eine gewisse Außenwirkung. Ihre Erklärungsansätze und Untersuchungsmethoden werden verstärkt nachgefragt, wenn es um gesellschaftliche Krisenszenarien und soziale Probleme geht. Gemessen an den bereitgestellten Finanzmitteln kommt es zu einem deutlichen Forschungsboom. Die Ausstrahlung der Soziologie ist so groß, dass sich selbst benachbarte Disziplinen wie Linguistik, Kultur- und Geschichtswissenschaften, Psychologie und Kriminologie zu »soziologisieren« beginnen.

Soziologie als eine multiperspektivische Sozialund Humanwissenschaft

Obwohl einzelne Vertreter der Soziologie immer wieder eine Einheitswissenschaft anstreben, ist dieses Ideal bislang nicht verwirklicht worden. Selbst in der strukturfunktionalistischen Hochzeit und der politisch aufgeladenen Phase um 1970 firmieren unter dem Dach der Soziologie ein Vielzahl von Ansätzen, Schulen und Methodologien, die nicht immer miteinander kompatibel sind. Teilweise kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Vertretern, wie etwa beim Positivismusstreit Anfang der 1960er Jahre oder im Hinblick auf die seit den 1980er Jahren verstärkt diskutierte Frage, in welcher Moderne wir leben (Spät-, Post-, Zweite Moderne etc.).

Seit den späten 1970er Jahren gilt die Pluralität von Theorieschulen und -paradigmen, empirischen[147] Forschungsmethoden und Untersuchungsfeldern als ein Markenzeichen der Soziologie. Die Wissenschaft spreizt sich in viele Spezialisierungsrichtungen (»Bindestrich-Soziologien«, spezielle Soziologien) auf und deckt ein großes Spektrum an gesellschaftsrelevanten Themen ab. Stärker als in den Jahrzehnten zuvor wenden sich Soziologen Phänomenen der kulturellen bzw. symbolischen Sinnwelt, der Massenmedien und der alltäglichen Lebenswelt zu. Im Zuge dieses cultural turns gewinnt das interpretative Paradigma an Gewicht, werden elaborierte Methoden der qualitativen Sozialforschung entwickelt, und es entstehen neue Forschungsrichtungen wie bspw. die soziologischen gender oder science studies.

Weiterhin gibt es Versuche, die »multiple Paradigmatase« (Luhmann) in der soziologischen Theoriebildung durch grand theories zu überwinden. Zum einen gehen diesbezüglich wichtige Impulse von Theoretikern aus, die ihre jeweilige Konzeption als eine Synthese bestehender (oftmals gegensätzlicher) soziologischer Paradigmen entwickeln. Hierzu zählen vor allem Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns), Pierre Bourdieu (praxeologische Soziologie), Anthony Giddens (Strukturationstheorie) und Jeffrey Alexander (Neofunktionalismus). Andere Soziologen, wie James S. Coleman (Rational Choice Theory), Luhmann (Systemtheorie), Bruno Latour (Actor-Network Theory) grenzen sich schärfer von den Klassikern ab, um eine innovative Wende in der soziologischen Theoriebildung voranzutreiben. Ihr Anspruch ist es, ein Fächer und Disziplinen übergreifendes Forschungsprogramm auf den Weg zu bringen.

Es sind aber weniger die abstrakten Großtheorien als vielmehr die Zeitdiagnosen, durch die die Soziologie in den 1980er und 1990er Jahren öffentliche Aufmerksamkeit erlangt – nicht zuletzt die Diagnose der Risikogesellschaft (Ulrich Beck) oder der McDonaldisierung (George Ritzer). Die diagnostizierte Globalisierung wird in den Folgejahrzehnten zum beherrschenden Themenfeld für die Soziologie. Erkennbar wird dies u. a. daran, dass internationale und nationale Kongresse, die als Wegweiser für Forschungstrends fungieren, sehr stark auf Phänomene des globalen Wirtschafts- und Finanzmarktes, Transnationalität, Migration, Multikulturalität sowie massenmediale Kommunikation fokussiert sind.

In den letzten Jahrzehnten ist die Soziologie spürbar einer starken Konkurrenz benachbarter Disziplinen ausgesetzt, insbesondere der Wirtschafts-, Kultur- und Kommunikationswissenschaften. Auch die neu aufkommenden Life Sciences (Neurophysiologie, Hirnforschung, Genforschung, Demografie) fordern den Deutungs- und Erklärungsanspruch der Soziologie in Hinblick auf menschliche Verhaltensweisen heraus. Allerdings steht dem Prestigeverlust, den die Soziologie als akademisches Fach hinnehmen musste, eine verstärkte Nachfrage nach Soziologen und ihrem Know-how in der Politik-, Organisations- und Unternehmensberatung gegenüber.

Auf der institutionellen Ebene bleibt die Umstrukturierung der Studiengänge (Bologna-Prozess) nicht folgenlos für die Soziologie als akademisches Fach. An europäischen Universitäten kommt es zur Reduzierung von soziologischen Studiengängen und Instituten bzw. zur Zusammenlegung mit artverwandten Disziplinen. Inwiefern die Soziologie dadurch als akademische Disziplin insgesamt geschwächt ist, wird sich in der Zukunft zeigen.

Literatur

Bottomore, Tom; Nisbet, Robert (ed.), 1978: A History of Sociological Analysis, London. – Jonas, Friedrich, 1968: Geschichte der Soziologie, 2 Bde., Reinbek. – Kaesler, Dirk, 2006: Was sind und zu welchem Ende studiert man die Klassiker der Soziologie? In: Ders. (Hg.): Klassiker der Soziologie, Bd. 1, München, 11–38. – Lepenies, Wolf (Hg.), 1981: Geschichte der Soziologie, 4 Bde., Frankfurt a. M. – Merton, Robert K., 1967: On the History and Systematics of Sociological Theory; in: Ders.: On Theoretical Sociology, New York, 1–37. – Oberschall, Anthony (ed.), 1972: The Establishment of Empirical Sociology, New York. – Parsons, Talcott et al., 1975: Soziologie – autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entwicklung einer Wissenschaft, Stuttgart. – Sorokin, Pitirim A., 1928: Contemporary Sociological Theories, New York. – Turner, Bryan S., 1999: Classical Sociology, London. – Young, Robert M., 1966: Scholarship and the History of the Behavioral Sciences; in: History of Science 2, 1–41.

Uwe Krähnke

Geschlechterforschung

Definition und Charakteristika

Das Wissensfeld der Geschlechterforschung, zunehmend auch Genderforschung in Anlehnung an den englischen Begriff gender research (mit Schwerpunkt auf Lehre: gender studies), lässt sich durch mindestens drei Merkmale charakterisieren: kritische Reflexivität, die Befassung mit dem Gegenstand [148]Geschlecht bzw. Geschlechterordnung, und Inter- und Transdisziplinarität.

Die kritische Reflexivität der Geschlechterforschung besteht zum einen in ihrem Selbstverständnis als Wissenschaftskritik, die sich auf die Epistemologien, Theorien und Methodologien ihrer Herkunftsdisziplinen bezieht und dabei vor allem an die sich als kritisch verstehenden Ansätze anschließt wie Marxismus, Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Diese Kritiken sind inzwischen in die Produktion eigener Epistemologien, Theorien und Methodologien eingemündet. Zum anderen ist die Geschlechterforschung selbstreflexiv: Viele ihrer Protagonistinnen und Protagonisten reflektieren, dass und wie ihr wissenschaftliches Tun durch eine geschlechtshierarchische Gesellschaft und Kultur bedingt ist und welche Auswirkungen dies auf die daraus erwachsenden Epistemologien, Theorien und Methodologien hat.

Unverzichtbares Grundtheorem der Geschlechterforschung ist die Kategorie Geschlecht und daran anschließende Begrifflichkeiten. Geschlecht stellt dabei den zentralen Gegenstand der Geschlechterforschung und/oder ihre Erkenntnisperspektive dar. Der Gegenstand der Geschlechterforschung ist folglich die Bedeutung der Geschlechterunterscheidung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Die Anwendung von Geschlecht als Erkenntnisperspektive beinhaltet hingegen eine spezifische, durch die Kategorie Geschlecht geprägte Art und Weise zu forschen, die die Geschlechterunterscheidung als bedeutsam für den Erkenntnisprozess ansieht. Beide Ebenen können miteinander verbunden sein, müssen es aber nicht. Schließlich findet sich in der Geschlechterforschung auch eine Hochschätzung von Inter- und Transdisziplinarität, mittels der gegenüber der disziplinären Perspektive eine umfassendere Analyse und Kritik der Bedeutung von Geschlecht erreicht werden soll.

Der Begriff Geschlechterforschung wird seit den 1990er Jahren als Sammelbegriff für verschiedene Strömungen der Forschung zu geschlechterbezogenen Fragen verwendet. Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren wurde Geschlechterforschung als Frauenforschung bzw. women’s research (mit Schwerpunkt auf Lehre: women’s studies) verstanden, deren Gegenstand Frauen, ihre Lebenszusammenhänge und ihre Positionierung in der Geschlechterordnung sind. In Anlehnung an diese Anfänge der Geschlechterforschung und ihre starken Wurzeln in den Befreiungsbewegungen ist häufig auch die Rede von Frauen- und Geschlechterforschung. Feministische Forschung ist demgegenüber explizit normativ auf die Überwindung der Geschlechterhierarchie im Interesse einer Geschlechtergleichheit ausgerichtet und insofern politischen Zielsetzungen verhaftet, die bereits in den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jh.s entwickelt wurden. Die in den 1990er Jahren entstandene queer theory (mit Schwerpunkt auf der Lehre der queer studies) zielt in ihren kritischen Analysen auf normalisierende Praxen und Glaubenssätze rund um Geschlecht, Sexualität und andere »Normalitäten« wie etwa Weißsein oder Nichtbehinderung und begründet damit eine eigene Wissenschaftsrichtung.

Die verschiedenen Begriffe für geschlechterbezogene Forschung deuten auf die Heterogenität und Multiperspektivität des damit verbundenen Wissensfelds hin und sind ebenfalls Gegenstand der selbstreflexiven Auseinandersetzungen der Geschlechterforschung. Die theoretischen Auseinandersetzungen mit Geschlecht sind nicht auf einen Nenner zu bringen und werden in der Geschlechterforschung als eine ihrer Stärken gesehen.

Entstehungsgeschichte und Entwicklung

Die Entstehung und Professionalisierung der Geschlechterforschung ist eng mit der Geschichte der Frauenbewegungen verknüpft, als deren »akademischer Arm« sie häufig auch bezeichnet wird. In Deutschland kämpfte bereits der bürgerliche Flügel der ersten Frauenbewegung seit dem 19. Jh. für die Zulassung von Frauen zum akademischen Studium und zur Wissenschaft als Beruf von Frauen. Dieser Flügel war von intellektuellen Frauen dominiert und entwickelte auch erste Ansätze zur Frauenforschung. Doch erst in den 1970er Jahren, im Zuge der Studentenbewegung und dem Erstarken anderer sozialer Bewegungen, begann sich aus der quantitativ und qualitativ ausgerichteten Kritik der zweiten Frauenbewegungen an den Institutionen Wissenschaft und Hochschule, aber auch aus ihrer Gesellschaftskritik die Frauenforschung bzw. feministische Forschung herauszubilden. Aufgrund der Verknüpfung von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik schlug die neue Forschungsrichtung starke Wurzeln in den Sozialwissenschaften, aber auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Hinzu kam angestoßen durch die in den 1980er Jahren einsetzenden[149] Männerbewegungen und die an diese anschließende Männer- bzw. Männlichkeitsforschung (englisch men’s studies) die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Männerwelten. Wichtige Anstöße für die Entwicklung und Institutionalisierung der Geschlechterforschung in Form von Forschungsschwerpunkten, -zentren, Professuren und Studiengängen kamen und kommen aus den USA und den angelsächsischen Ländern.

Neben dieser in Selbstbeschreibungen der Geschlechterforschung dominierenden Sichtweise auf ihre Entstehung finden sich auch Stimmen, die darauf verweisen, dass die Bedeutung von Geschlecht und damit verbundener Phänomene seit den Anfängen der Sozialwissenschaften zu deren Gegenstandsbereich zählte, da diese Fächer untrennbar mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der Gesellschaftsordnung verknüpft sind. Eine besondere Rolle in der gesellschaftlichen Selbstthematisierung kommt hierbei der Soziologie und insofern auch der soziologischen Geschlechterforschung zu. Von den als Klassikern aus den Anfängen der Disziplin akzeptierten Soziologen beschäftigte sich insbesondere Georg Simmel ausführlich mit geschlechterbezogenen Fragestellungen.

Erkenntnisperspektive, disziplinärer Teilbereich oder eigene Disziplin?

Aus den verschiedenen Sichtweisen auf die Bedeutung von Geschlecht haben sich idealtypisch betrachtet drei Positionen zum disziplinären Status der Geschlechterforschung im Wissenschaftssystem ausgeprägt, die nebeneinander existieren.

Die erste Position beschreibt die Geschlechterforschung als geschlechterbezogene Erkenntnisperspektive innerhalb der bestehenden Wissenschaftsdisziplinen. Demzufolge ist Geschlecht in der Soziologie eine generelle Kategorie, die im Sinne eines Mainstreaming in allen disziplinären Gegenstandsbereichen Anwendung finden muss, also in der Allgemeinen Soziologie, in den diversen Speziellen Soziologien, in der soziologischen Theorienbildung und in der empirischen Sozialforschung. Die als verschieden voneinander und/oder als asymmetrisch angenommenen Lebensweisen und -lagen der Geschlechter begründen somit die Notwendigkeit, das Phänomen der Geschlechterdifferenz und/oder -hierarchie in allen soziologischen Erkenntnisprozessen zu berücksichtigen. Demnach wäre jegliche Soziologie, die Geschlecht als Erkenntnisperspektive berücksichtigt, soziologische Geschlechterforschung.

Die zweite Position beschreibt die Geschlechterforschung über ihren spezifischen Gegenstand und begründet so einen eigenständigen Teilbereich in der Soziologie, der beispielsweise Geschlechtersoziologie oder Soziologie der Geschlechterverhältnisse genannt wird. Demzufolge sind die Erforschung der Bedeutung von Geschlecht und die als verschieden voneinander und/oder als asymmetrisch angenommenen Lebensweisen und -lagen der Geschlechter ein ebenso spezieller soziologischer Gegenstand wie etwa Familie, Politik oder Migration, die in der disziplinären Systematik der Soziologie jeweils eigenständige Spezielle Soziologien begründen.

Die dritte Position schließlich versteht die Geschlechterforschung als autonom existierende Disziplin, die im Wissenschaftssystem neben der Soziologie und anderen Disziplinen besteht. Demzufolge ist der Gegenstandsbereich Geschlecht der Geschlechterforschung so umfassend, dass er die Herausbildung und Etablierung einer eigenen Disziplin mit einem eigenen Kommunikationszusammenhang, einer eigenen wissenschaftlichen Gemeinschaft und einer eigenen historischen Identität rechtfertigt.

Die Koexistenz dieser drei Positionen und die damit verbundenen spezifischen Verortungen der Geschlechterforschung im Wissenschaftssystem belegen die inzwischen hohe Ausdifferenzierung dieses Wissensfelds und verdeutlichen, dass es sich bei Geschlechterforschung nicht um ein einheitliches Paradigma oder etwa eine in sich geschlossene Wissenschaftsrichtung handelt.

Geschlecht als soziologische Kategorie

In der Geschlechterforschung finden sich idealtypisch gesehen drei Sichtweisen auf das Geschlecht als Kategorie: Geschlecht ist demnach eine Stratifikationskategorie, eine Strukturkategorie und eine Prozesskategorie. Je nach wissenschaftstheoretischem Standort der Forscherin bzw. des Forschers kommt die eine oder andere Sichtweise oder auch eine Verknüpfung der Sichtweisen auf das Geschlecht im wissenschaftlichen Handeln zum Einsatz.

In den Sozialwissenschaften wurde das Geschlecht schon vor dem Entstehen der Geschlechterforschung als sozialstatistische Variable bzw. Stratifikationskategorie beachtet und zwar in der Beschreibung [150]von Verteilungen nach Geschlecht in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen wie Arbeitsmarkt, Familie, Bildung, Kultur und Politik. Geschlecht wurde und wird in dieser Sichtweise weitgehend alltagsweltlich naiv als vermeintlich natürliche Unterscheidung zwischen Frauen und Männern verstanden und dient dem empirischen, i. d. R. quantifizierenden, Nachweis von Phänomenen sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Geschlechterdifferenz, verstanden als Zweigeschlechtlichkeit, steht in dieser Sichtweise nicht in Frage.

Neu unter dem Einfluss der Geschlechterforschung in den 1980er Jahren zu den sozialwissenschaftlichen Grundbegriffen hinzugekommen ist ein Verständnis von Geschlecht als sozialer Strukturkategorie. Hier verweist der Begriff von Geschlecht auf die konstitutive, historisch sedimentierte Verbindung zwischen dem Geschlechterverhältnis und der Gesellschaftsstruktur. Demnach begründet eine bestimmte Form des Geschlechterverhältnisses einen kapitalistisch verfassten Gesamtzusammenhang und wird zugleich durch diesen begründet. Dieser beruht auf einem spezifischen, hierarchischen und durch die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit bestimmten sozialen Verhältnis der Genusgruppen, in dem die private und unentgeltliche Erbringung von Versorgungsleistungen organisiert wird. Die Perspektive von Geschlecht als Strukturkategorie ermöglicht also, die historische Konstitution geschlechtsbezogener Herrschaftsverhältnisse zu analysieren. Die Geschlechterdifferenz gilt hier als gesellschaftlich, kulturell und historisch produziert, wird in ihrer soziokulturellen Ausprägung als Zweigeschlechtlichkeit zumeist aber nicht hinterfragt. Als problematisch gilt in dieser Sichtweise vor allem die mit der Geschlechterdifferenzierung verbundene gesellschaftliche Hierarchisierung der Geschlechter, derzufolge Frauen und Männern gesellschaftlich je unterschiedliche Plätze zugewiesen und durch Sozialisation wie auch entsprechende Institutionalisierungen reproduziert werden. Diese makrosoziologisch orientierte Sichtweise auf Geschlecht, die beispielsweise von Regina Becker-Schmidt, Ursula Beer und Gudrun-Axeli Knapp geprägt wurde, lehnt sich an marxistische Denkweisen an.

Neben dieser strukturtheoretischen Sicht findet sich in der Geschlechterforschung auch eine prozesstheoretische Sicht auf das Geschlecht. Der Begriff von Geschlecht als Prozesskategorie lehnt sich an sozialkonstruktivistische Denkweisen an, allen voran an die Ethnomethodologie, in der die Herstellung von Geschlecht und der Zweigeschlechtlichkeit bereits vor dem Aufkommen der zweiten Welle der Frauenbewegungen und der Frauenforschung analysiert wurde, beispielsweise von Harold Garfinkel oder Erving Goffman. Geschlecht ist demnach eine soziale Konstruktion, die in alltäglichen Interaktionen des doing gender immer wieder als unreflektierter Zuschreibungsprozess reproduziert und institutionalisiert wird. Die an diese Sichtweise anschließende mikrosoziologisch orientierte Geschlechterforschung, zu deren Hauptvertreterinnen Carol Hagemann-White, Regine Gildemeister und Angelika Wetterer gehören, setzt sich vor allem mit der Rekonstruktion des »Wie« der Geschlechterkonstruktionen auseinander. Gefragt wird hier auch, ob und inwiefern ein undoing gender möglich ist und ob mehr als zwei Geschlechter denkbar sind. In Anlehnung an die im angelsächsischen Sprachraum übliche Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, dem sozialen Geschlecht, wird in dieser Sichtweise bspw. von Judith Butler gezeigt, dass sex auch gender ist, also auch die Zweigeschlechtlichkeit eine soziokulturelle Konstruktion ist.

Diese auf verschiedene sozial- und geschlechtertheoretische Vorstellungen gründenden Sichtweisen existieren in der Geschlechterforschung nebeneinander. Ergänzend finden sich Versuche einer umfassenden Definition, etwa von Karl Lenz und Marina Adler, die über den herkömmlichen Gegensatz von Makro und Mikro hinausweisen und Geschlecht als Gefüge sozialer Beziehungen verstehen, als Komplex kultureller Leitvorstellungen und Zuschreibungen und als Komplex sozialer Praktiken, die allesamt Körperunterschiede aufgreifen und herausstellen, um eine Differenzierung der Lebensführung, einschließlich der Zuweisung ungleicher Lebenschancen und Ressourcen, zu generieren und zu legitimieren. In diesem Zusammenhang wird in der Geschlechterforschung auch der Begriff der Geschlechterordnung geprägt, der die Gesamtheit des Arrangements der Geschlechter erfasst und ein Stratifikationssystem umschreibt, in dem Frauen und Männer verschiedene Positionen einnehmen, und das die mit ihrem Geschlecht verbundenen Aufgaben und Verhaltensweisen unterschiedlich bewertet bzw. die Lebenschancen von Frauen und Männern beeinflusst.

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