Loe raamatut: «Wörterbuch der Soziologie», lehekülg 22

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[151]Geschlecht als Rolle

Trotz einer breiten Kritik ist vor allem in der psychologischen und sozialpsychologischen Geschlechterforschung der Begriff der Geschlechterrollen weit verbreitet. Er beinhaltet die kulturell geteilten Überzeugungen und Normen hinsichtlich der für Frauen und Männer (bzw. Mädchen und Jungen) sozial geteilten typischen und angemessenen Fähigkeiten, Eigenschaften, Motive und Verhaltensweisen. Geschlecht ist demnach eine soziale Rolle, verstanden als Position innerhalb einer Gesellschaft, die mit spezifischen Erwartungen an die Rollenträger und -trägerinnen einhergeht. Diese Erwartungen haben normativen Charakter hinsichtlich der Ausprägungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, z. B. hinsichtlich Identität, Verhalten und Präsentation, und deren Verhältnis, die von beiden Geschlechtern geteilt werden und in der sozialen Praxis wirksam sind. Die Geschlechterrollen erhalten ihre normative Kraft durch Habitualisierung, Institutionalisierung und Inkorporation. Im Vergleich zu anderen spezifischeren und klarer definierten sozialen Rollen (z. B. Lehrerin bzw. Lehrer) gelten Geschlechterrollen als eher diffus, da sie ja für alle Mitglieder einer Gesellschaft gelten und für viele zwischenmenschliche Prozesse von Bedeutung sind.

Gemäß den Erwartungen an traditionell komplementäre Geschlechterrollen übernehmen aus rollentheoretischer Sicht Frauen gesellschaftlich die Rolle der Mutter und Hausfrau und regeln die familialen Innenbeziehungen, während Männer die Ernährerrolle übernehmen und die familialen Außenbeziehungen regeln. Dieses Rollenmodell, das die traditionelle geschlechtliche Arbeitsteilung abbildet und über den Sozialisationsprozess auf die nachfolgende Generation übertragen wird, wurde bereits in den 1950er Jahren von Talcott Parsons und Robert Freed Bales im Rahmen der Analyse von Interaktionsprozessen in der Familie beschrieben. Die soziale Geschlechterrollentheorie betont, dass Geschlechterrollen das gesellschaftlich vorherrschende Ungleichgewicht von Frauen und Männern in verschiedenen sozialen Rollen widerspiegeln. Neuere Ansätze aus den 2000er Jahren nehmen aber auch an, dass Geschlechterrollen dynamisch sind, insofern als sich Erwartungen an Frauen und Männer ändern können, wenn sich die Geschlechterverteilung in verschiedenen Lebensbereichen verändert.

Am Geschlechterrollenmodell kritisiert wird u. a., dass es an individuellen Einstellungen und Meinungen ansetzt und die Ungleichheitsstrukturen zwischen den Geschlechtern ignoriert. Zudem trennt dieses Modell strikt zwischen sex und gender, indem es davon ausgeht, dass die Geschlechterrolle situationsbezogen übernommen, aber auch abgelegt werden kann.

Herausforderungen der Geschlechterforschung

Eine Herausforderung der Geschlechterforschung entspringt der konstruktivistischen Sicht auf Geschlecht, denn hier wird Geschlecht als soziale, wenn auch wirkmächtige Konstruktion und nicht als soziale Tatsache angesehen. Aus dieser theoretischen Perspektive sieht sich die Geschlechterforschung folglich dem Vorwurf ausgesetzt, eine Geschlechterdifferenz entdecken, ja affirmieren, zu wollen, die selbst als sozial konstruiert zu dechiffrieren wäre. Hinzu kommt eine weitere Herausforderung, die die Arbeit der Geschlechterforschung an und mit der Kategorie Geschlecht bereits seit den 1970er Jahren zunehmend ergänzt um die Forderung nach Berücksichtigung weiterer Kategorien der Differenz und Ungleichheit, von denen vor allem Klasse bzw. Schicht und Milieu für die soziale Dimension und »Rasse« bzw. Ethnie für die kulturelle Dimension genannt werden. Erweitert werden diese Achsen der Differenz und Ungleichheit noch durch ebenfalls einflussreiche andere Kategorien wie Alter und sexuelle Orientierung. Das Zusammenwirken der Kategorie Geschlecht mit anderen Kategorien der Differenz und Ungleichheit wird in der Geschlechterforschung unter dem Stichwort Intersektionalität diskutiert. Diese Erweiterung und wachsende Komplexität der für die Geschlechterforschung originäre, an der Kategorie Geschlecht orientierte Erkenntnisperspektive geht erstens zurück auf kritische Einwürfe von Akteurinnen in diesem Wissensfeld, die die Eindimensionalität der Geschlechterforschung mit ihrer impliziten Orientierung am Weißsein, an der Mittelschichtzugehörigkeit und der Heterosexualität kritisier(t)en. Sie geht zweitens zurück auf Einflüsse aus angrenzenden Wissenschaftsgebieten wie beispielsweise den Cultural, Queer, Critical Whiteness und Postcolonial Studies, die das Zusammenwirken der verschiedenen Differenz- und Ungleichheitskategorien bereits länger in den Blick nehmen, ohne Geschlecht zentral zu setzen.

[152]In der Geschlechterforschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass durch diese Herausforderungen die Geschlechterforschung nicht obsolet wird. Sie weisen aber darauf hin, dass auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlecht kontingent ist und die Einflüsse anderer, insbesondere sich als kritisch verstehender, Wissenschaftsrichtungen aufzunehmen hat. Will die Geschlechterforschung nicht veralten und so ihr reflexives Potenzial schmälern oder gar einbüßen, ist sie weiterhin aufgefordert, die auf sie einwirkenden und durch sie ausgelösten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen wie die wachsende Komplexität ihres Gegenstands reflexiv zu verarbeiten.

Literatur

Athenstaedt, Ursula; Alfermann, Dorothee, 2011: Geschlechterrollen und ihre Folgen. Eine sozialpsychologische Betrachtung, Stuttgart. – Becker, Ruth; Kortendiek, Beate (Hg.), 2010: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie – Methoden – Empirie, 3. erw. und durchges. Aufl., Wiesbaden. – Degele, Nina, 2008: Gender/Queer Studies. Eine Einführung, München. – Hark, Sabine, 2005: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus, Frankfurt a. M. – Kahlert, Heike, 2005: Wissenschaftsentwicklung durch Inter- und Transdisziplinarität: Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung; in: Kahlert, Heike et al.(Hg.): Quer denken – Strukturen verändern. Gender Studies zwischen Disziplinen, Wiesbaden, 23–60. – Kahlert, Heike; Weinbach, Christine (Hg.), 2012: Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung – Einladung zum Dialog, Wiesbaden. – Lenz, Karl; Adler, Marina, 2010: Geschlechterverhältnisse. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung Bd. 1. Weinheim/München. – Lenz, Karl; Adler, Marina, 2011: Geschlechterbeziehungen. Einführung in die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung Bd. 2. Weinheim/München. – Lutz, Helma et al. (Hg.), 2010: Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, Wiesbaden. – Villa, Paula-Irene, 2009: Feministische und Geschlechtertheorien; in: Kneer, Georg; Schroer, Markus (Hg.): Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden, 111–132.

Heike Kahlert

Gesellschaft

Mit dem Begriff der Gesellschaft (engl. society) wird gemeinhin eine alle anderen sozialen Einheiten (Familie, Gemeinde, Unternehmen, etc.) einschließende Gesamtheit bezeichnet, in der Menschen, zumeist innerhalb eines abgegrenzten Raums, zusammenleben.

Die im 19. Jh. entstandene Soziologie, die mit diesem Begriff ihren eigenen Gegestand bezeichnete, steht damit in der auf Aristoteles zurückgehenden Tradition des Nachdenkens über die Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Sie verarbeitet jedoch auch den von Th. Hobbes (Leviathan, 1651), J.-J. Rousseau (Du contrat social, 1762), G. W.F. Hegel (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821) und anderen politischen Philosophen der europäischen Neuzeit vollzogenen Bedeutungswandel des Gesellschaftsbegriffs. Insbesondere greift sie die in den Theorien des Gesellschaftsvertrags artikulierte Vorstellung auf, dass sich die Welt – auch die soziale Welt – keiner festen gottgegebenen Ordnung fügt, sondern von Menschen gestaltet und verändert werden kann. Und ferner reflektiert sie die Erfahrungen von Wandel und Entzweiung der sozialen Welt, wie sie in der begrifflichen Scheidung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft artikuliert werden. In erfahrungswissenschaftlicher Wendung des politischphilosophischen Diskurses der Moderne versuchen die Gründungsväter der Soziologie die Frage zu beantworten, wie angesichts menschlicher Autonomie und Individualität und rapidem sozialen Wandel gesellschaftliche Ordnung überhaupt möglich ist.

Besonders E. Durkheim stellte den Begriff der Gesellschaft ins Zentrum seiner disziplinären Begründung der Soziologie. In kritischem Bezug auf die v. a. bei A. Comte und H. Spencer anzutreffende organizistische Metapher des Gesellschaftskörpers, seiner Differenzierung und seiner Integration, versuchte Durkheim nachzuweisen, dass auch die moderne, arbeitsteilige Gesellschaft durch soziale Solidarität, eine bindende Moral und, wie er im religionssoziologischen Spätwerk ausführte, kollektive Repräsentationen zusammengehalten werden kann. Indem er die »organische« Solidarität moderner, hochgradig arbeitsteiliger Gesellschaft von der »mechanischen« Solidarität vormoderner, segmentär organisierter Gesellschaft unterschied, formulierte er eine typologische Unterscheidung, die für die Soziologie insgesamt prägend war. Bei F. Tönnies (Gemeinschaft [153]und Gesellschaft, 1887) wird sie zur begrifflichen Gegenüberstellung von einer auf kollektivem »Wesenswillen« basierenden Gemeinschaft und einer auf individuellem »Kürwillen« basierenden Gesellschaft. M. Weber, der die prozessualen Begriffe von »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« einer statischen Begrifflichkeit vorzog, setzte andere Akzente. Er sah die Aufgabe der Soziologie weniger darin, eine umfassende Gesellschaftstheorie zu formulieren, sondern das soziale Handeln von Menschen in sozialen Beziehungen verstehend zu erklären. Nicht die Integration der Gesellschaft steht daher im Mittelpunkt seiner Soziologie, sondern die Analyse sozialer Ordnungen wie Wirtschaft, Herrschaft, Recht oder Religion und deren je eigenlogische Rationalisierung. Ging es Weber primär um das verstehende Erklären historisch bedeutsamer Vorgänge, insbesondere die Entstehung des okzidentalen Kapitalismus, so bestimmte G. Simmel die reinen (räumlichen, zeitlichen, zahlenmäßigen) Formen von Wechselwirkung und Vergesellschaftung als eigentlichen Gegenstand der Soziologie. In seiner neukantianischen Erkenntnistheorie der Gesellschaft beantwortet er die Frage »Wie ist Gesellschaft möglich?« durch die drei Apriori-Bedingungen der verallgemeinerten Wahrnehmung des Anderen, der lückenlosen Wechselwirkung und der Doppelstellung des Individuums in der Gesellschaft als Teil und Nicht-Teil zugleich. Mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen versuchen die soziologischen Klassiker zwischen Individuum und Gesellschaft, Handlungsund Ordnungstheorie zu vermitteln und damit die Extrempositionen vom Individuum ausgehender Vertragstheorien und des vom Kollektiv ausgehenden Organizismus zu vermeiden.

Die bis heute prominenteste Synthese der klassischen Soziologie und ihrer Überlegungen zum Begriff der Gesellschaft stammt von T. Parsons. Als Teil einer funktionalistischen Theorie sozialer Systeme definierte er Gesellschaft als das umfassendste selbstgenügsame Sozialsystem, das im Laufe der gesellschaftlichen Evolution einen Prozess der inneren Differenzierung durchlaufe, aber durch zunehmend generalisierte und von den Einzelnen internalisierte kulturelle Werte integriert werde. Die integrative Funktion des Gesellschaftssystems verortete er dabei im Subsystem der »gesellschaftlichen Gemeinschaft« (societal community), womit er die Tönnies’sche Begriffsopposition zu überwinden und die gemeinschaftlichen Elemente innerhalb der gesellschaftlichen Prozesse anderer Subsysteme, insbesondere Wirtschaft und Politik, herauszuarbeiten versuchte.

Mit dem Plausibilitätsverlust von Parsons‹ theoretischer Synthese seit den 1970er Jahren verlor auch das Projekt einer anspruchsvollen Gesellschaftstheorie an Aufmerksamkeit, vor allem in der zunehmend mikrosoziologisch und empirisch orientierten US-amerikanischen, aber auch in der europäischen Soziologie. Die Häufung zeitdiagnostisch zugespitzter Komposita-Begriffe (»Risiko-Gesellschaft«, »Multioptions-Gesellschaft« etc.) zeugt ebenso davon, wie die Renaissance der älteren politisch-philosophischen Begriffstradition der »Zivilgesellschaft«, die in den Bürgerrechtsbewegungen der staatssozialistischen Staaten Mitteleuropas eine wichtige Rolle gespielt hat. Prominente Ausnahmen sind die Gesellschaftstheorien von J. Habermas und N. Luhmann. Ersterer hält ausdrücklich an dem Anspruch fest, die Soziologie habe – anders als andere sozialwissenschaftliche Disziplinen wie etwa Politik- oder Wirtschaftswissenschaft – ihre theoretische Energie aufs Ganze der (modernen) Gesellschaft zu richten. Er formuliert eine sprachtheoretisch fundierte Theorie kommunikativen Handelns, auf deren Grundlage er die zunehmende Durchdringung der als Sprachgemeinschaft konzipierten Lebenswelt durch die gesellschaftlichen Systeme von bürokratischem Staat und kapitalistischer Wirtschaft analysiert. Reformuliert Habermas in kritischer Absicht die Tönnies’sche Begriffsopposition, so geht Luhmann, der soziale Systeme streng kommunikationstheoretisch bestimmt, andere Wege. Den Gesellschaftsbegriff definiert er als das umfassendste Sozialsystem, das den Horizont jeglicher anschlussfähiger Kommunikation darstellt und analytisch von mitgliedschaftsbasierten Organisationen und anwesenheitsbasierter Interaktion zu unterscheiden sei. Die Evolution der Gesellschaft sei durch den Wandel der Kommunikationsmedien sowie den Übergang von segmentärer, über stratifikatorische zu funktionaler Differenzierung gekennzeichnet, in dessen Folge die noch von Durkheim und Parsons geteilte Vorstellung normativer Integration an Plausibilität verliere. Die moderne Gesellschaft könne angesichts der Entwicklung elektronischer Verbreitungsmedien und angesichts der Eigenlogik funktional differenzierter Teilsysteme nur noch als »Weltgesellschaft« gedacht werden.

Mit dem zuletzt genannten Argument nimmt Luhmann jene gegenwärtig verbreitete Kritik vorweg, wonach die klassische Soziologie einem »methodologischen[154] Nationalismus« unterliegt. Damit ist gemeint, dass das allgemeine und teilweise auch das soziologische Nachdenken über Gesellschaft implizit deren Kongruenz mit dem in der europäischen Neuzeit entstandenen, territorial begrenzten Nationalstaat unterstellt. Der Einfluss dieser impliziten Annahme greift bis in die Organisation statistischer Daten und damit bis in die soziologische Forschungspraxis hinein, wenn Phänomene wie öffentliche Meinung, soziale Schichtung, Integration von Einwanderern etc. stets auf die Einheit einer nationalstaatlich gerahmten Gesellschaft bezogen werden. Angesichts gegenwärtiger Prozesse der Globalisierung und unter dem Eindruck der gewachsenen Sensibilität für die Bedeutung von Kolonialismus und Imperialismus für ein historisches Verständnis der Moderne, verliert diese implizite Unterstellung indessen an Plausibilität.

Kritiker des »methodologischen Nationalismus« plädieren daher für ein Begriffsinstrumentarium, das dezidiert quer zu nationalen Räumen steht und deren historische Entstehung daher besser zu erfassen vermag. Manche Soziologen, wie M. Albrow, U. Beck oder A. Giddens folgen dabei Webers Desinteresse an einem umfassenden Gesellschaftsbegriff und stellen auf die Analyse weltumspannender Ordnungen, transnationaler Figurationen und globaler Systeme ab. Andere hingegen versuchen den Begriff der Gesellschaft auf globaler Ebene anzusetzen: N. Luhmanns Gesellschaftstheorie ist hier ebenso zu nennen, wie die stärker empirisch gesättigte neo-institutionalistische Weltgesellschaftstheorie von John W. Meyer. Inwieweit Konzepte der Weltgesellschaft noch an den in der politisch-philosophischen Tradition mittransportierten Bedeutungsgehalt von Ordnung und Einheit anschlussfähig sind, ist offen. Dennoch signalisiert die Debatte um Weltgesellschaft ebenso wie die Diskussion um das Entstehen einer »europäischen Gesellschaft« eine Erfahrungslage, die zukünftige soziologische Forschung über Interdependenzen der Menschengesellschaft nicht ignorieren kann.

Literatur

Chernilo, Daniel, 2007: A Social Theory of the Nation-State, London. – Durkheim, Emile, 1984: Die Regeln der soziologischen Methode, 6. Aufl., Frankfurt a. M. (1885). – Elias; Norbert, 1999: Die Gesellschaft der Individuen, 4. Aufl., Frankfurt a. M. – Göbel, Andreas, 2003: Gesellschaft, Bielefeld. – Habermas, Jürgen, 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. – Ders.; Luhmann, Niklas, 1990: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. – Luhmann, Niklas, 1984: Soziale Systeme, 14. Aufl., Frankfurt a. M. – Ders., 1998: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 7. Aufl., Frankfurt a. M. – Meyer, John W., 2005: Weltkultur. Frankfurt a. M. – Nassehi, Armin, 2009: Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. – Parsons, Talcott, 1964: The Social System, New York (1951). – Ders., 2009: Das System moderner Gesellschaften, 7. Aufl., Weinheim (1971). – Ritsert, Jürgen, 2000: Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a. M./New York. – Schimank, Uwe, 2000: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 2. Aufl., Stuttgart. – Simmel, Georg, 1991: Soziologie, Frankfurt a. M. (1908). – Tönnies, Ferdinand, 2005: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt (1887). – Weber, Max, 1980: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen (1922). – Wobbe, Theresa, 2000: Weltgesellschaft, Bielefeld.

Dirk Kaesler/Matthias Koenig

Gewalt

Gewalt (engl. violence) ist eine physische oder psychische Verletzung oder deren Androhung. In der kaum noch zu übersehenden Literatur begegnet man den unterschiedlichsten Formen der Gewalt. So unterscheidet man z. B. legitime von illegitimer Gewalt, direkte von indirekter Gewalt, organisierte von spontaner Gewalt, Gewalt gegen Sachen von der Gewalt gegen Personen und personaler von struktureller Gewalt (Schönfeld 1993, Maurer 2004: 15 ff.). Gewalt ist vor allem ubiquitär. Sie hat es immer gegeben und wird es immer geben, was sich schon an dem Begriff der strukturellen Gewalt (Galtung 1975) zeigen lässt, nach der z. B. jede Form sozialer Ungleichheit als Gewalt bezeichnet werden kann. Absolute Gleichheit kann es aber nicht geben, wie schon Durkheim am Beispiel des Nonnenklosters expliziert hat. Trotz der Gelübde von Armut und Frömmigkeit werden doch einige Nonnen frommer sein als andere und sich daraus Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Weber 1972) bilden, die immer durch den Besitz und die Anwendung von Gewalt gekennzeichnet sind. Der Begriff »strukturelle Gewalt« ist so allgemein, dass man damit in der wissenschaftlichen Analyse nichts anfangen kann (Claessens 1995: 117).

Eine der wichtigsten Ursachen der Gewalt liegt in der Knappheit begehrenswerter Güter. Die Denkfigur, dass der Mensch des Menschen Wolf sei[155] (Hobbes), hat hier ihren Ursprung. Die »Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit« (Weber 1972: 519) war die notwendige Vorbedingung für die Errichtung des modernen Staates. Der Einsatz staatlicher Gewalt unterliegt wiederum rechtlichen Bindungen. Nur so lässt sich das Gewaltmonopol rechtfertigen. Wer aber kontrolliert den Staat? Ein Kennzeichen des modernen Rechtsstaates ist eine Trennung der staatlichen Gesamtgewalt in eine gesetzgebende (legislative), ausführende (exekutive) und in eine rechtsprechende (judikative) Gewalt, um so die gegenseitige Kontrolle zu erhöhen und einer Machtkonzentration entgegenzuwirken. Wann allerdings der Punkt erreicht ist, an dem die Legitimität staatlicher Machtanwendung fraglich ist und ein Widerstandsrecht reklamiert werden kann, ist umstritten. Die Geschichte kennt unterschiedliche Ausformungen. Sie reichen vom Tyrannenmord bis zum »aktiven Pazifismus« (Kobler 1928). Beispiele für die Bundesrepublik: Außerparlamentarische Opposition (APO), Sitzblockaden, Rote Armee Fraktion (RAF), Schottern. In der Entwicklung der Gewalt stellen Heitmeyer und Soeffner (2004: 13) Qualitätssprünge (11. September 2001, Amokläufe an Schulen) sowie eine Re-Theologisierung der Gewalt fest. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Staaten versucht man mit mäßigem Erfolg durch supranationale Organisationen zu vermeiden (Völkerbund, UNO). Die Sehnsüchte der »Menschen nach unverletzter Integrität« und nach einer friedfertigen Welt (Heitmeyer/Hagan 2002: 17) bleiben ungestillt.

Die Soziologie der Gewalt ist sehr ausdifferenziert und faktenreich, aber auch widersprüchlich, weil wenig theoriegeleitet. So ist es z. B. umstritten, ob die Gewalthäufigkeit insgesamt zugenommen hat. Eindeutiger postuliert man einen Anstieg der Jugendgewalt (Greve 1999) und dass rechte Gewalt in Ostdeutschland häufiger sei als in Westdeutschland. Thome und Birkel betten jedoch in ihrem Ländervergleich (Deutschland, England, Schweden) unter Rückgriff auf Durkheimsche Ideen ihre Fragestellungen in einen gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmen ein (2007).

Literatur

Claessens, Dieter, 1995: Macht und Herrschaft; in: Korte, Hermann; Schäfers, Bernhard (Hg.): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie, 3. Aufl., Opladen, 111–125. – Galtung, Johan, 1975: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek. – Greve, Werner, 1999: Kriminalität und Gewalt in Deutschland; in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 2–3, 95–110. – Heitmeyer, Wilhelm; Hagan, John (Hg.), 2002: Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden. – Heitmeyer, Wilhelm; Soeffner, Hans-Georg (Hg.), 2004: Gewalt, Frankfurt a. M. – Kobler, Franz (Hg.), 1928: Gewalt und Gewaltlosigkeit. Handbuch des aktiven Pazifismus, Zürich/Leipzig. – Schönfeld, Gerhard, 1993: Gewalt in der Gesellschaft, Bonn. – Thome, Helmut; Birkel, Christoph (Hg.), 2001: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität, Halle. – Trotha, Trutz von (Hg.), 1997: Soziologie der Gewalt, Opladen/Wiesbaden. – Weber, Max, 1972: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen.

Heinz Sahner

Gewohnheit

Gewohnheit (engl. habit) beschreibt die »automatisierte«, unreflektierte Verbindung zwischen Reizkonstellationen und Reaktionsformen auf kognitivem (Wahrnehmungshypothesen, Stereotypien, Vorurteile), affektivem (Angst, Phobien) und konativem (Handlungsmuster, Skripte, Etiketten) Gebiet. Neben dieser qualitativen Unterscheidung kann man auch eine quantitative vornehmen, die sich auf die unterschiedlichen Systemumfänge bezieht: Individual-, Mikro-(Kleingruppe), Meso- (konkrete Organisationseinheit) und Makrosystem (Kultur, Justiz etc. sowie die Gesamtgesellschaft). Man kann damit 3 x 4 = 12 unterschiedliche Gewohnheitsformen differenzieren, die auch alle in der Literatur vorkommen, nur manchmal wird der Gewohnheitsaspekt nicht besonders betont, wie z. B. bei der Betrachtung von Tradition, Sitte und Gebräuchen, aber auch bei Essgewohnheiten, Denkkollektiven (Fleck), kollektiven Repräsentationen nach Durkheim und sozialen Repräsentationen nach Moscovici. Die Gewohnheit ist wissenschaftlich nicht so sehr im Zentrum, weil man vor allem Veränderungen betrachtet, die auffälliger sind. Erst durch die Betrachtung von synchronen Unterschieden werden diese Konstanten, die in der Gewohnheit liegen, erkennbar (Verplanken/Aarts).

Die Gewohnheitsbildung hat mehrere Funktionen: individualsystemisch wirkt sie entlastend, aber macht auch unflexibel; mikrosystemisch ist sie strukturbildend, aber auch konformitätsfördernd; mesosystemisch ist sie kooperationsfördernd, aber[156] auch bürokratisch; und makrosystemisch fördert sie die Anpassung ohne Repression, aber verhindert auch Innovationen.

In der theoretischen Konstruktion finden wir die Gewohnheit auf individuellem Niveau im Behaviorismus als »habit«-Stärke sowie in der Wahrnehmungs- und Einstellungsforschung, z. B. in der Hypothesentheorie der Wahrnehmung und in der Drei-Komponenten-Theorie der Einstellung von Triandis. Dabei ist die Grundlage dieser Ansätze das individuelle Lernen durch Verstärkung. Im Mikrosystem kann man die Interaktionsstrukturen unter dem Aspekt der Gewohnheit betrachten. Die Grundlage ist ein Gesetz des geringsten Aufwandes, so dass sich in einer konkreten Gruppe eine Differenz der Redebeiträge einstellt und so beibehalten wird. Im Mesosystem kann man die Frage der Organisationskultur unter dieser Perspektive betrachten. Die Grundlagen sind Modelllernen und Verstärkungslernen. Unter dem Blickwinkel des Makrosystems kann man z. B. die Wertekonstanz von Gesellschaften und ihre Differenzen untereinander ins Zentrum rücken. Die Grundlagen sind implizites Lernen während der Sozialisation, indem durch Geschichten und Darstellungen Inhalte und Ansichten übernommen werden.

Literatur

Durkheim, Emile, 1976: Die Regeln der soziologischen Methode, Neuwied (1895). – Fleck, Ludwik, 1980: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a. M. (1935). – Moscovici, Serge, 1995: Geschichte und Aktualität sozialer Repräsentationen; in: Flick, Uwe (Hg.): Psychologie des Sozialen, Reinbek, 266–314. – Verplanken, Bas; Aarts, Henk, 1999: Habit, attitude, and planned behaviour; in: European Review of Social Psychology 10, 101–134. – Witte, Erich H., 1994: Lehrbuch Sozialpsychologie, 2. Aufl., Weinheim.

Erich H. Witte

Globalisierung

Globalisierung (engl. globalization) lässt sich als weltweite Vernetzung ökonomischer Aktivitäten bezeichnen. Globalisierung ist jedoch ein mehrdeutiger Begriff, mit dem sowohl ein Zustand als auch ein Prozess bezeichnet wird, oft sogar die Folgen der Globalisierung zum Bestandteil der Definition gemacht werden.

Vernetzt bzw. internationalisiert sind nicht nur Kapitalströme, sondern auch Arbeitsmärkte, Informationen, Rohmaterial, Management und Organisation. Andere Autoren betonen die Bedeutung von finanz- und unternehmensbezogenen Dienstleistungen, u. a. Versicherungen, Banken, Finanz-Dienstleistungen, Immobilien, Rechtsberatung, Wirtschaftsprüfung und professionelle Vereinigungen (Sassen 1988, 1991). Eine weitere Position ist, die Globalisierung über die Aktivitäten der transnationalen Unternehmen (transnational corporations, TNC) für den Prozess der Globalisierung zu bestimmen. Ihre Investitionen sind es vor allem, die weltweit unterschiedliche Märkte zusammenführen. Das geschieht durch die Verlagerung der Produktion, die Diversifizierung der Produkte und Dienstleistungen und durch Direktinvestitionen in zahlreichen Ländern (Dicken 2011).

Die beiden wichtigsten Ursachen sind: 1. die politische Deregulierung nationaler Wirtschaftsmärkte, beginnend mit dem Abkommen von Bretton Woods (1944) und dem GATT-Abkommen von 1947 sowie den folgenden GATT-Runden. Sie ermöglichten sowohl eine steigende internationale Verflechtung der Güter- und Finanzmärkte als auch eine höhere Mobilität des Kapitals; 2. die modernen Transport- und Kommunikationsmittel, die eine Übermittlung von Nachrichten praktisch in Echtzeit ermöglichen, ferner die historisch niedrigen Transportkosten.

Zu den wichtigsten Folgen der Globalisierung zählen: a) die Deregulierung nationaler Märkte; b) die Senkung von Lohn- und Lohnnebenkosten, was wiederum zu einer Verringerung wohlfahrtstaatlicher Leistungen führt; c) die Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Löhnen; d) die durch Fusion von Unternehmen und transnationale Unternehmen (TNU) steigende Tendenz zu Oligopolen; e) verstärkter Standortwettbewerb zwischen großen Städten; f) sinkender Handlungs- und Regulierungsspielraum nationaler Regierungen (»Denationalisierung«); g) steigender Druck, supranationale Institutionen zu schaffen, um den Wettbewerb zu regulieren; h) steigende Internationalisierung der Kultur und der Unterhaltungsindustrie, z. B. Filme, Bücher; i) veränderte persönliche Identitäten durch globale und lokale Zugehörigkeit (»Hybridkultur« und »Glokalisierung«); j) steigende Konzentration[157] unternehmensbezogener Dienstleistungen in wenigen Städten, den »global cities«.

Literatur

Altvater, Elmar; Mahnkopf, Brigitte, 1997: Grenzen der Globalisierung, Münster. – Dicken, Peter, 2011: Global Shift. The Internationalization of Economic Activity, 6. Aufl., New York/London. – Friedrichs, Jürgen, 1997: Globalisierung – Begriff und grundlegende Annahmen; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/34, 3–19. – Mayer, Tilman et al., 2011: Globalisierung im Fokus von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Wiesbaden. – Sassen, Saskia, 1988: The Mobility of Labor and Capital. A Study of International Investment and Labor Flow, Cambridge, MA. – Sassen, Saskia, 1991: The Global City, Princeton, NJ.

Jürgen Friedrichs

Grounded Theory

Die Grounded Theory oder Grounded Theory-Methodologie ist ein methodologischer Ansatz, zugleich eine Auswertungsmethode innerhalb der qualitativen Sozialforschung, die ab den 1960er Jahren von B. Glaser und A. Strauss (später von A. Strauss/J. Corbin) entwickelt wurde mit dem Ziel, empirische Forschung und in ihr gründende Theoriebildung (daher der Name) zu verknüpfen. Theorien werden also nicht aufgestellt und dann empirisch überprüft, sondern bereits die Theoriebildung wird mit empirischer Fundierung verschränkt.

Vorgehen der Grounded Theory:

 Vielfältige Formen der Datenerhebung

 Theoretisches Sampling

 Datenauswertung durch Kodieren: offen, axial, selektiv

 Erstellen von Konzepten/Kategorien durch Ver gleiche und Fragen, flankiert durch die Erstellung von Memos

 Theoretische Integration der Forschungsschritte

Zentrale Elemente

Ausdrücklich ist eine vielfältige Datenbasis erwünscht, z. B. Beobachtungsprotokolle, offene Interviews, Dokumente. Es werden jedoch nicht erst alle Daten erhoben und dann ausgewertet, sondern schon mit Hilfe der ersten Materialien formuliert der Forscher heuristische Hypothesen zu seiner Fragestellung, die ihn dann anleiten, weitere Situationen, Konstellationen etc. gezielt zu erheben, die die Hypothesen prüfen bzw. hinterfragen und erweitern können. Diese theoriegeleitete Fallauswahl bezeichnet man als Theoretisches Sampling. Die Hypothesenerstellung und ihre Prüfung auf Robustheit (am Fall und im Fallvergleich), damit ein Zusammenspiel von induktivem und deduktivem Vorgehen, erfolgen durch drei Formen des Kodierens, im Idealfall durch eine Gruppe von Forschern durchgeführt:

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