ZNT - Zeitschrift für Neues Testament 24. Jahrgang, Heft 48 (2021)

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

6 Biblische Überblicksdarstellungen und Bibliographien

Für eine Annäherung an unser Thema gibt es zwei Hilfsmittel, die sich gegenseitig ergänzen: Arbeiten, die einen allgemeinen Überblick über das biblische Material und die zeitgenössische Forschung geben, und Bibliographien, die einzelne Beiträge vorstellen. Diese befassen sich häufig mit beiden Testamenten, eine Frucht des interdisziplinären Zusammenwirkens der exegetischen Fächer.

Julie Faith Parker u. a. und Julia M. OʼBrien u. a. (2014) haben eine kommentierte bibliographische Übersicht zu Arbeiten vorgelegt, die auch die Wirkungsgeschichte der Texte berücksichtigen.1 Ein wichtiger, relativ früher Sammelband, herausgegeben von Marcia J. Bunge (2008), präsentiert Studien zu zentralen biblischen Schriften und Themen, auch systematisch-theologisch.2 Die Monographie von Cornelia B. Horn und John W. Martens (2009) beschäftigt sich in ähnlicher Weise mit NT und frühem Christentum. Beide Studien bedienen sich u. a. sozialgeschichtlicher und gendertheoretischer Ansätze.3 James M. M. Francis gibt einen Überblick über Kindheitsmetaphern im NT und seinem historischen Kontext (2006). Candida R. Moss und Joel S. Baden thematisieren Fragen der Kinderlosigkeit (2015).4

Einige Online-Bibliografien stellen wichtige Beiträge zu Kindern und Kindheit in der biblischen und teilweise auch in der nachbiblischen Welt vor. Zwei davon, Julie Faith Parker (AT, 2016) und ich selbst (AT und NT, 2018) haben kommentierte Bibliographien vorgelegt.5 Beide sind teils nach Gruppen biblischer Schriften, teils nach Themen gegliedert und kommentieren eine beträchtliche Anzahl von Einzelstudien. Die Bibliografien von Ville Vuolanto u. a. und von Yiannis Panidis6 umfassen ein breites Spektrum von Werken aus verschiedenen Disziplinen, einschließlich der Bibelwissenschaft, und decken den Zeitraum vom 8. Jh. v. Chr. bis zum 8. Jh. n. Chr. ab, so dass auch viel anderes für die Bibelforschung relevantes Material zur Verfügung steht.

7 Forschungen zum Neuen Testament

Die christliche Bewegung und mit ihr das NT sind im Kontext des AT, des Judentums des Zweiten Tempels und der griechisch-römischen Welt entstanden. Wie bereits erwähnt, stand die Erforschung der Kindheit im NT hier von Anfang an in einem regen Austausch, beflügelt freilich von einem vergleichsweise weitaus größeren Interesse auf dem Gebiet des NT.

7.1 Überblick

Ein frühes Stadium markieren die Bände von Simon Légasse (1969), Gerhard Krause (1973) und Hans-Ruedi Weber (1979). Alle befassen sich mit den „Jesus und die Kinder“-Stellen in den Evangelien, aber sie unterscheiden sich etwas in ihrem jeweligen Schwerpunkt auf soziohistorischen, rezeptionsgeschichtlichen und hermeneutischen Fragen.1

Nach einer Phase relativ geringen Interesses in den späten 1970er und in den 1980er Jahren erfreute sich das Thema ab Anfang der 1990er erneuter Aufmerksamkeit. Grundlage und Ausgangspunkt war in den 1980er Jahren die Erforschung der griechisch-römischen und frühchristlichen, insbesondere familialen Sozialbeziehungen. Diese Perspektive ist bis heute zentral.

Zwei wichtige und bahnbrechende Werke in dieser Phase waren die Monographien von Peter Müller (1992) und William Strange (1996).2 Erstere ist eine detaillierte wissenschaftliche Analyse des Wortfeldes „Kind“ im Neuen Testament und seinem Kontext, während letztere eine populäre Übersicht über die Vorstellungen von Kindheit in der griechisch-römischen Welt, den Evangelien und dem frühen Christentum darstellt. Beiden gemeinsam ist das Interesse an der Sozialgeschichte und an hermeneutischen Fragen. Dies sind auch Anliegen, die sich wie ein roter Faden durch viele spätere Studien ziehen.

Ein besonderes, wenn auch etwas isoliertes Forschungsfeld ist der historische Jesus, sowohl seine Einstellung zu Kindern als auch seine eigene Kindheit. Nach den Arbeiten ab den späten 1960er Jahren taucht das Interesse an Jesu Einstellung zu Kindern in den Artikeln von Judith M. Gundry-Volf (2000/2008) und Bettina Eltrop (2002) wieder auf.3 Der wichtigste und aktuellste Beitrag zu diesem Thema stammt von A. James Murphy (2013), der einen dekonstruktiven literarischen Ansatz auf die Evangelien anwendet.4 Murphy kritisiert die Vorstellung, Jesus sei besonders kinderfreundlich gewesen, und vertritt die Ansicht, dass die eschatologische Jesus-Bewegung Spannungen innerhalb der Familien zum Nachteil der Kinder verursachte. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Martin Ebner (2002).5 Ein bemerkenswerter Beitrag zur Kindheit des historischen Jesus stammt von Andries van Aarde (2001), der unter Berücksichtigung psychologischer und sozialer Aspekte behauptet, dass Jesus vaterlos aufgewachsen ist und dass sich diese Erfahrung in seiner Betonung Gottes als seines Vaters und in seinem eigenen Mitgefühl für die sozial Ausgegrenzten widerspiegelt.6

Im 21. Jh. hat sich die Forschung auf bestimmte Textgruppen (z. B. die Evangelien und die Paulusbriefe), einzelne Schriften (z. B. ein Evangelium), einzelne Perikopen (z. B. Markus 10,13–16) oder auf bestimmte Unterthemen konzentriert. Viel Aufmerksamkeit wurde der Frage der Eltern-Kind-Beziehungen gewidmet,7 u. a. in der Monographie von Peter Balla zu den Eltern-Kind-Beziehungen im NT und seinen griechisch-römischen und jüdischen Kontexten, wobei der Schwerpunkt auf den Rechten und Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern liegt.8

Wichtig waren in den letzten zehn Jahren Überlegungen zur Methodik. Hier wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um spezifische kindzentrierte Ansätze für das biblische Material zu entwickeln. In den drei von Julie Faith Parker und Sharon Betsworth (2019), von Shawn W. Flynn (2019) und von Kristine Henriksen Garroway und John W. Martens (2020) herausgegebenen Bänden sind dies zentrale Anliegen, insbesondere im Band von Garroway/Martens.9 Die Sammelbände spiegeln die enge Zusammenarbeit zwischen den exegetischen Disziplinen wider. In einer kürzlich von Parker und Garroway herausgegebenen Sonderausgabe einer Zeitschrift befassen sich mehrere Beiträge auch mit methodischen Fragen.10 Im Folgenden werde ich näher auf die Frage der Methodik eingehen.

7.2 Evangelien und die Apostelgeschichte

In dem von Marcia J. Bunge herausgegebenen Band von 2008 finden sich Beiträge zu den einzelnen Evangelien, ebenso in einigen Aufsätzen in verschiedenen Monografien. Die umfangreichste und systematischste Darstellung hat Sharon Betsworth vorgelegt (2015), mit Kapiteln zu jedem der kanonischen Evangelien.1 Sie betrachtet die Evangelien aus soziohistorischer, redaktionskritischer, literarischer und gendertheoretischer Perspektive.2

Bislang sind drei Monographien zu den synoptischen Evangelien erschienen, die früheste von Bettina Eltrop über Matthäus (1996) zu sämtlichen mt. Passagen, die von Kindern handeln, detailliert zu 18,1–5 und 19,13–15.3 Ihr Ansatz ist soziohistorisch und feministisch, mit hermeneutischen Überlegungen. Die feministische Perspektive auf Matthäus wird außerdem von Sharon Betsworth in einem Buchkapitel weiterverfolgt.4

Die zweite von Betsworth vorgelegte Monografie,5 nun zum MkEv (2010), konzentriert sich auf die Rolle der Töchter, vergleicht die Texte mit den Einstellungen gegenüber Mädchen in griechisch-römischen Quellen und in der Septuaginta und zeigt, dass Markus damit teils übereinstimmt, teils auch davon abweicht, und zwar auf eine Weise, die dazu dient, seine Vorstellungen über das Reich Gottes zu pointieren. Die Artikel von Melanie A. Howard und Anna Rebecca Solevåg befassen sich mit Kindern in Wundergeschichten bei Markus, einem Jungen (9,14–29) und einem Mädchen (7,24–30). Beide analysieren die Texte aus der Perspektive der disabilitiy studies.6

Das dritte und jüngste Buch (2019) zum LkEv hat Amy Lindeman Allen publiziert. Sie liest die Texte eingehend aus einer kindzentrierten und kindlichen Perspektive, auch mit einem hermeneutischen Interesse an den vielfältigen und aktiven Rollen von Kinder im Evangelium, etwa als Jünger Jesu und als Hörer und Täter von Gottes Wort.7 John T. Carroll gibt einen Überblick über das lukanische Material, und Nils Krückemeier und Bradly S. Billings konzentrieren sich auf die Passagen über den Jesusknaben im Tempel (2,41–52), mit besonderem Augenmerk auf den literarischen und soziohistorischen Kontext.8 Die Wahrnehmung von Kindern im synoptischen Spruchgut (Q) wurde außerdem in einer Reihe von Artikeln von A. James Murphy diskutiert.9

Angesichts der fast unsichtbaren Stellung von Kindern im Johannesevangelium ist es nicht verwunderlich, dass hierüber nur wenig geschrieben wurde. Eine Ausnahme bilden die Aufsätze von Marianne Meye Thompson und Joachim Kügler, jedoch mit Blick auf den metaphorischen Rekurs auf „Kinder“ bei Johannes.10 Zur Apostelgeschichte liegen nur wenig Studien vor, obwohl Kinder dort einen sichtbareren Platz einnehmen als bei Johannes, freilich weniger als im LkEv. Joel B. Green gibt immerhin einen Überblick über die relevanten Passagen und erörtert die Relevanz des Materials für eine Theologie der Kindheit.11 Gelegentlich geht auch Diane G. Chen in ihrer Analyse von Gott als Vater in der Apostelgeschichte auf Kinder ein, sei es in einem realen oder metaphorischen Sinn.12

7.3 Briefe und Offenbarung

Die Paulusbriefe und die Briefe der paulinischen Tradition sind relativ ausführlich behandelt worden, vor allem aus theologischer und soziohistorischer Sicht. Von Beverly Roberts Gaventa und mir selbst gibt es kurze Übersichten und Diskussionen über die sieben unbestrittenen Paulusbriefe. Gaventas Beitrag befasst sich mit der modernen Relevanz, der meinige mit der rhetorischen Funktion.1 Beide untersuchen u. a. Paulus‘ Verwendung von einschlägigen Metaphern, ein Thema, das die Forschung auch sonst beschäftigt.

 

Christine Gerber (2005) und Trevor J. Burke (2003) behandeln in monographischem Umfang Eltern-Kind-Metaphern, Gerber in eingehenden Analysen von Passagen aus verschiedenen Briefen, Burke speziell zu 1Thess.2 Ebenfalls monographisch befassen sich Gaventa (2007) und Jenifer Houston McNeel (2014) mit Mutter-Kind-Metaphern, erstere bei Paulus, letztere zu 1Thess.3 Alle diese Studien bedienen sich metapherntheoretischer und soziohistorischer Ansätze, wobei sie der rhetorischen und theologischen Funktion des Materials große Aufmerksamkeit widmen. Viele von ihnen konzentrieren sich auch auf den hierarchischen Charakter der Eltern-Kind-Beziehung. Im Vergleich zu den umfangreichen Forschungen zu paulinischen Familien- und Kindheitsmetaphern ist die Forschung zur Stellung der Kinder bei Paulus und in seinen Gemeinden eher dürftig. Der Mangel an solchen Studien ist wahrscheinlich der marginalen Rolle von Kindern in den Paulusbriefen geschuldet, mit 1Kor 7,14 als der einzigen ausdrücklichen Erwähnung ist, und dies auch nur am Rande; in einem Buchkapitel befasst sich Judith M. Gundry immerhin mit dieser Stelle.4

Ganz anders als in den sieben authentischen Briefen werden Kinder in den deuteropaulinischen Briefen (Eph, Kol und 2Thess) und den Pastoralbriefen (1–2Tim und Titus) an vorderster Stelle genannt, vor allem in den Haustafeln (z. B. Kol 3,18–4,1; Eph 5,21–6,9) und ähnlichen Texten, aber auch in verstreuten Ermahnungen zum verantwortungsvollen Umgang mit Kindern (z. B. 1Tim 5; Tit 2,4). Margaret Y. MacDonald hat die umfangreichste und systematischste Analyse dieses Materials vorgenommen (2014).5 Ihr Schwerpunkt liegt auf der Wahrnehmung von Kindern und Kindheit sowie auf den sozialen und religiösen Funktionen von Kindern in der Familie und in den Hauskirchen. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Identitätskonstruktion und -bildung und zeigt die komplexen familiären und gesellschaftlichen Muster auf, in die Kinder eingebettet waren. Carolyn A. Osiek, Janet H. Tulloch und Margaret Y. MacDonald befassen sich in ihrem Band über Frauen im frühen Christentum (2006) ebenfalls mit diesem Material und widmen Kindern, insbesondere Mädchen, besondere Aufmerksamkeit.6

In den katholischen Briefen (Jak; 1–2 Petr; 1–3 Joh; Judas) und im Hebräerbrief geht es um Kinder vor allem in metaphorischer Sprache, wenn die Gläubigen als Kinder angesprochen oder als Kinder Gottes charakterisiert werden, oder wenn Bilder aus dem Bereich der Kindheit Verwendung finden (z. B. Hebr 5,13; 1Petr 1,14; 1Joh 2; 2Joh 1). James M.M. Francis sowie Horn und Martens haben sich neben anderen kurz mit diesem Thema beschäftigt.7

Für die Offenbarung des Johannes, in der Kinder und Kindheit nur eine marginale Rolle zu spielen scheinen, gibt es nur wenige Arbeiten, mit Ausnahme eines Artikels, in dem Betsworth die Offenbarung aus der Perspektive von Kindern betrachtet.8

7.4 Einige weiterführende Überlegungen

In den letzten zwei Jahrzehnten ist die Forschung über Kinder und Kindheit im Neuen Testament recht umfangreich geworden. Die Forschungen sind jedoch sehr ungleichmäßig verteilt, wobei den synoptischen Evangelien und den Briefen des Paulus und der paulinischen Tradition die größte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Das Johannesevangelium, die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe sind nur in begrenztem Umfang erforscht worden, die Offenbarung des Johannes nur sehr wenig. Der Schwerpunkt lag häufig auf der Familie, den Generationenhierarchien und der bildhaften Familiensprache, und zwar zunehmend mit einer Perspektive „von unten“. Eine Vielzahl von Methoden wurde auf das Material angewendet: sozio-historische, feministische/geschlechtsspezifische, metapherntheoretische und begrenzt auch lingusitische Lektüren. Auch andere Ansätze gewinnen zunehmend an Bedeutung, wie im Folgenden erläutert wird.

Einige bisher wenig beachtete Bereiche sind hier zu notieren. So sollte beispielsweise die Einstellung des historischen Jesus zu Kindern und zur Kindheit näher untersucht werden. Die traditionelle und weit verbreitete Vorstellung, Jesus sei besonders kinderfreundlich gewesen, ist bisher kaum diskutiert oder gar problematisiert worden, mit Ausnahme des genannten Buches von Murphy. Das Thema ist sowohl historisch, theologisch und hermeneutisch von Bedeutung: Zum einen kann es Auswirkungen auf die vielfach hohe Wertschätzung von Kindern im christlichen Denken haben, zum anderen aber auch auf etablierte Vorstellungen von Jesus. Ein nicht so kinderfreundlicher Jesus könnte aus christologischer Sicht durchaus beunruhigend wirken.

Ein weiterer Bereich, dem bisher keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist das Material aus Q und den vorsynoptischen Sondergutbeständen: Ist ein Unterschied zwischen diesen Stoffen und den Evangelien, in die sie Eingang gefunden haben, festzustellen? Ein letzter Bereich, der hier zu erwähnen ist, sind die ntl. Schriften, in denen Kinder wenig oder gar keine Rolle zu spielen scheinen: Bedeutet dies zwangsläufig, dass das Thema für das Material irrelevant ist? Oder sollte es umgekehrt als Herausforderung dienen, danach zu fragen, wie Lesarten aus der Perspektive von Kindern für diese Quellen relevant sein können – ähnlich wie es in feministischen Interpretationen geschehen ist?

8 Methodologisches

Das Methodenspektrum der Arbeiten zu Kindern und Kindheit in der biblischen Welt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich erweitert. Die Forschung hat sich interdisziplinär entwickelt, wie in vielen der oben erwähnten Studien zu sehen ist; Beispiele für eine solche Interdisziplinarität sind bibelwissenschaftliche Kooperationen mit Archäologie, Medizin, Kunstgeschichte und Kulturanthropologie.1 Freilich war dieses Forschungsthema von Anfang an methodologisch breit aufgestellt. In den unter 7.1 genannten Bänden werden sowohl etablierte wie auch einige neuere Ansätze vorgestellt, diskutiert und an konkreten Texten ausprobiert.2 Die Autorinnen und Autoren veranschaulichen, wie solche Ansätze auf die Kindheitsforschung im Allgemeinen mit Blick auf das NT im Besonderen angewendet werden können. Beispiele sind die Kapitel über feministische Studien von Kathleen Gallagher Elkins, über disability studies von Anna Rebecca Solevåg, über Dekonstruktivismus von Murphy und über ritual studies von Betsworth und Martens.3

Einige andere Ansätze sind in ihrer besonderen Eignung für unser Thema ebenfalls erwähnenswert, etwa die Mikrogeschichte, die es ermöglicht, Alltagssituationen im Leben der Kinder zu konzeptualisieren. Durch das Zusammenfügen von Materialfragmenten aus unterschiedlichen Quellen lassen sich Szenarien entwerfen, die zum Teil fiktiv sind, sich aber dennoch als historisch eindeutig plausibel erweisen.4 Beispiele hierfür bietet H. Sivan in ihrem Band über Kindheit in jüdischen Kontexten.5

Von besonderem Interesse ist auch das Paradigma der Intersektionalität im Blick auf das Zusammentreffen von Alter, Klasse, Geschlecht, Status und anderen Faktoren im Leben von Kindern. Dieser Ansatz wird zum Beispiel von M.Y. MacDonald und Marianne Bjelland Kartzow auf das biblische Material angewendet.6 Mit „Gedächtnis“ bzw. „Erinnerung“ und „Mündlichkeit“ sind weitere Ansätze benannt, die für die historische Kindheitsforschung von offenkundiger Bedeutung sind, bisher jedoch nur wenig Beachtung gefunden haben. Das Gleiche gilt für die Männlichkeitsforschung.7 Gelegentlich haben sich Forschende dem biblischen Material über Kinder aus einer psychologischen Perspektive genähert, aber nur sehr vereinzelt geht es um das Neue Testament.8

Im Laufe der Jahre hat die Forschung über Kinder und Kindheit in der biblischen Welt selbst zu neuen Entwicklungen in der Methodik beigetragen. Diese lassen sich in zwei Haupttypen einteilen, einen systematisch-synthetischen und einen historisch-analytischen Typ. Ersterer ist enger mit der Hermeneutik verbunden, letzterer mit der Exegese. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sie in einem engen und kontinuierlichen Austausch miteinander stehen.

Der erste, traditionellere Typus besteht in der kritischen Reflexion über den Platz der Kinder in der Welt der Bibel, über den historischen Einfluss der Bibel auf das Leben von Kindern und über die Bedeutung und den Wert der Bibel für Kinder. Im Dialog mit der systematischen Theologie wurden im Laufe der Jahre Konzepte einer „Theologie der Kindheit“ entwickelt. Ein älteres Buch von Hans Urs von Balthasar (1988) ist in erster Linie forschungsgeschichtlich von Bedeutung, sofern es das Interesse an der Reflexion über Kinder in der Bibel geweckt hat.9 Ein neuerer Aufsatz von Walter Brüggemann (2008) verfolgt ein ähnliches Ziel und dient als Anregung, die Sorge um die Kinder auf ein biblisches Verständnis von Gott zu gründen.10 In einer Monographie entwickelt David Hadley Jensen (2005) eine Theologie der Kindheit auf der Grundlage des Kindes als „nach dem Bilde Gottes“ geschaffen.11 Kennzeichnend für die meisten dieser Beiträge ist, dass sie sich mit der Bibel als Ganzer befassen und dass sie sich den Quellen meist aus der Perspektive der Erwachsenen nähern. Etwas anders verhält es sich bei Francis Landy (1997), Danna Nolan Fewell (2003) und Kristin Herzog (2005), die sich kritisch mit dem Material aus der Perspektive moderner Kinder und ihrer Bedürfnisse und Interessen auseinandersetzen.12 Joyce Mercer (2005) verbindet eine Theologie der Kindheit mit biblischer Exegese und wendet diese in einem modernen sozialen und religiösen Kontext an.13

Während Ansätze einer „Theologie der Kindheit“ mindestens seit Anfang der 1990er Jahre entwickelt wurden, hat die „kindliche (childist) Auslegung“ oder „kindliche (childist) Interpretationen“ biblischer und anderer antiker, auch nicht-kanonischer Quellen, erst im letzten Jahrzehnt an Boden gewonnen.14 Dies ist das Ergebnis von Impulsen vor allem aus der allgemeinen Kindheitsforschung und den feministischen Studien, aber auch von Ansätzen innerhalb der Bibelwissenschaften selbst, wie der Redaktionskritik. Mehr noch als den Theologien der Kindheit liegt dieser Richtung daran, in enger Fühlung mit den Texten die Welt aus der Perspektive der Kinder selbst zu betrachten. Eine Monographie von Joseph Colle Grassi ist ein früher Beitrag (1991) hierzu.15 In jüngerer Zeit haben Julie Faith Parker (2013) und auch Sharon Betsworth (2015) Verfahren für eine kindgemäße Auslegung von Bibelstellen entwickelt.16 So entwickelt Parker beispielsweise ein spezifisches sechsstufiges exegetisches Verfahren für eine solche Auslegung. In einleitenden Artikeln geben Parker und Kathleen Gallagher Elkins sowie Kristine Henriksen Garroway und John W. Martens einen Überblick über diese Ansätze.17 Darüber hinaus analysiert Danna Nolan Fewell in ihrer Monographie (2003) das biblische Material aus der Perspektive der Handlungsfähigkeit von Kindern, und ich selbst entwickele in einem Kapitel spezifische Kriterien, um sich der Lebenswirklichkeit und dem kulturellen Umfeld von Kindern in der Antike anzunähern.18 Mehrere Kapitel in einem von Christian Laes und Ville Vuolanto herausgegebenen Band enthalten ebenfalls Ansätze, die zur Entwicklung kindlicher Interpretationen beitragen.19 Erkennbar beziehen sich Theologien der Kindheit und kindertheologische Konzepte nicht auf spezifische, klar definierte Konzepte; vielmehr dienen sie als Überbegriffe für Ansätze, die auf unterschiedliche Weise Kinder und ihre Lebensbedingungen, Rollen, Funktionen und Handlungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt stellen. In Anbetracht der vielen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte ist die Zeit vielleicht reif für eine systematischere Reflexion und auch für Versuche einer theologischen Synthese des Denkens über Kinder und Kindheit in der Bibel und insbesondere im NT.