Loe raamatut: «ZwischenWelten»
Originalausgabe
© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;
prverlag@hirnkost.de; http://www.hirnkost.de/
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage Januar 2021
Vertrieb für den Buchhandel:
Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de
Privatkunden und Mailorder:
Lektorat: Klaus Farin
Layout: www.benswerk.com
Alle Fotos: Olad Aden
Comics: Citénoir
ISBN:
PRINT: 978-3-948675-59-2
PDF: 978-3-948675-51-6
EPUB: 978-3-948675-50-9
eISBN: 978-3-948675-35-6
Dieses Buch gibt es auch als E-Book –
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ZwischenWelten wäre nicht möglich ohne die Förderung durch:
INHALT
Birgit Lang
Geschichten zwischen den Welten
Elvira Berndt
Für ein selbstbestimmtes Leben danach.
Root Leeb
Weg. Zum Glück?
Emanuela Pilolli
ZwischenWelten – Einblicke in neue Welten
CitéNoir
Comics
Herkunft – Ankunft
Heimat(en)
Lebenssplitter
Hinter Gittern
Zukunft?
Jasmin Gehrandt
Theaterproduktion mit biografischen Bezügen
Jasmin Gehrandt
Ressourcenorientierte Theaterarbeit
Emanuela Pilolli
Theaterprojekte in deutschen und italienischen Gefängnissen. Ein Vergleich.
Zevan Atroshi
Zwischen den Stühlen
Die Mitwirkenden
Gangway –
das ist Straßensozialarbeit
BIRGIT LANG
GESCHICHTEN ZWISCHEN DEN WELTEN
Zwischen Herkunft und Zukunft, zwischen Heimat und Fremde, zwischen Flucht und Sehnsucht, liegen Geschichten im Verborgenen. # Heimat
Ein scheinbar ganz normaler Klassenraum. Vier junge Männer sitzen an großen Schultischen vom Typ Holzimitat, jeweils eine Dozentin oder ein Dozent sitzen ihnen gegenüber. Auf den Tischen liegen große Flipchart-Plakate und dicke Stifte in verschiedenen Farben. Gebannt ruhen jeweils zwei Augenpaare auf einem von Hand gezogenen Strich, der sich mittig über das DIN A 1 große Papier zieht. Es ist eine Lebenslinie. Sie beginnt mit der Geburt und endet vorläufig mit dem aktuellen Datum. Im Gespräch suchen Teilnehmer und Dozent*in nach Spuren, die das Leben der Jugendlichen bisher geprägt und gestaltet haben, positiv oder negativ. Jedes Ereignis wird durch einen Punkt unterhalb oder oberhalb der Lebenslinie symbolisiert und mit Stichworten beschrieben. Die Atmosphäre im Raum ist konzentriert, die Gespräche sind persönlich und emotional, manchmal wird die Stimme des Erzählenden laut oder brüchig, mitunter fließen Tränen oder ein breites Lächeln lässt die Gesichter strahlen.
Die Szene beschreibt einen Workshop mit männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden in einem Berliner Gefängnis. Die Teilnehmer haben vieles gemeinsam: Sie haben überwiegend Migrationserfahrung, haben ihre ursprüngliche Heimat verlassen und sind in Deutschland mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie befinden sich altersbedingt in einer Suchbewegung, schauen sich nach Halt und Orientierung um und sind dabei für vermeintlich einfache Lösungen und Schwarz-Weiß-Denken empfänglich. Häufig haben sie Gewalt in ihren Heimatländern, in der Familie oder auf der Flucht erlebt, sind gelegentlich auch traumatisiert oder haben das Gefühl, in der Gesellschaft keine Anerkennung zu finden. Trotz ostentativ zur Schau gestellter Überlegenheit und Selbstsicherheit sind ihre Identitäten häufig angeknackst und zerbrechlich. In den letzten Monaten standen häufig ihre Fehler und Defizite im Vordergrund, und eine tiefe Frustration hat vom einen oder anderen Besitz ergriffen.
Mit den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln und der Unterstützung der Pädagog*innen fassen sie ihre Lebenswege in Worte und bringen sie zu Papier.
Ibrahim [die Namen wurden immer geändert] erzählt von seiner letzten Erinnerung, bevor er seine Heimat Somalia verlassen hat. Seine Mutter hat einen Rucksack für ihn gepackt. Darin waren Klamotten, Geld, eine goldene Kette, ein Armband – und die Hoffnung, dass ihr Sohn in Europa Fuß fasst und Geld verdient, mit dem er die Familie unterstützen kann. Sie haben das letzte Geld für die Schlepper ausgegeben, die versprechen, den Sohn ins Paradies nach Europa zu bringen.
Auf dem Mittelmeer fällt der Rucksack beim Klettern von einem Schlauchboot zum nächsten ins Wasser. Obwohl Ibrahim schwimmen kann, wagt er es nicht, ins Wasser zu springen und den Rucksack mit den Erinnerungen und dem Geld zu retten. Im hektischen Hin und Her hätte ihn niemand mehr ins Boot zurückgezogen, er wäre verloren gewesen.
Das Erzählen von Geschichten hat eine lange Tradition in fast allen Kulturen. Sie bildet das Herzstück des Projektes ZwischenWelten. Die Dozent*innen lassen die Jugendlichen frei reden; sie sollen selbst entscheiden, was sie für wichtig halten und mitteilen möchten. Das Nachdenken über die persönliche Lebensgeschichte gibt der eigenen Biographie Vielschichtigkeit, Bedeutung und Emotionen zurück. Die jungen Männer beginnen im Erzählen zu verstehen, was ihnen widerfahren ist, was sie aktuell erleben, und entwickeln geleitet durch die Fragen der Dozent*innen Pläne für die nächsten Schritte in die Zukunft.
Omar erzählt von seinem Vater, vor dem er zeitlebens Angst hatte. Er war der Grund dafür, dass er seine Heimat Nigeria verlassen hat. Er beschreibt ihn als cholerischen, aggressiven Menschen, der keinen Blick für seine Kinder und die Bedürfnisse seiner Frau hatte. Als die Mutter sich von ihm trennt und zu ihrer eigenen Familie zurückkehrt, übernimmt der Großvater eine zentrale Stellung in Omars Leben. Gemeinsam fliehen sie nach Italien, und dort beginnt der bisher glücklichste Abschnitt in Omars Kindheit. Er geht gerne zur Schule, liebt Geschichte und hasst Mathematik. Er spielt erfolgreich Fußball und übernimmt Verantwortung in der Familie. Erst als der Großvater stirbt und die Mutter mit den Kindern und der Berufstätigkeit überfordert ist, kommt das brüchige Glück ins Wanken. Er macht sich alleine auf den Weg nach Deutschland, ins Paradies, so glaubt er damals.
Wenn Omar erzählt, ist er kaum zu stoppen. Die Worte sprudeln mal in klaren Sätzen, mal völlig zusammenhanglos aus seinem Mund. Er nimmt die anderen Personen im Raum nicht mehr wahr, reagiert nicht auf Nachfragen. Wenn sein Redeschwall endet, seufzt er und schaut die Dozentin, die ihm gegenübersitzt, erwartungsvoll an.
Jetzt kommt es darauf an, dass die Dozent*innen das Zurückschauen strukturieren und stabile, anschlussfähige Phasen oder Erlebnisse im Leben der Jugendlichen aufgreifen. Durch die Rückbesinnung auf diese Ereignisse entsteht eine positive Atmosphäre. Sie ist die Grundlage dafür, frühe Erfahrungen zu erinnern und das zu entdecken und zu bewahren, was ein Schlüssel für die Bewältigung der Gegenwart sein kann. Welche Kompetenzen bringe ich mit? Welche Ressourcen schlummern in mir? Wer bin ich? Wer will ich sein? Was kann ich tun? Was hat mich zu der Person gemacht, die ich aktuell bin? Auf was kann ich stolz sein? Was möchte ich ändern?
Um den Prozess des Erzählens nicht zu unterbrechen, nutzen die Dozent*innen die Methode des stellvertretenden Schreibens. Sie versuchen also, möglichst unverfälscht mitzuschreiben oder in Stichworten zu notieren, was die Teilnehmer berichten. Nachdem sie ihre Notizen bearbeitet haben, werden die entstandenen Texte dem jeweiligen Teilnehmer vorgelesen, mit ihm besprochen und gegebenenfalls verändert oder ergänzt. Spannend ist die erste Frage, die ganz häufig voller Erstaunen gestellt wird: „Was, das habe ich erzählt? Cool!“ Diese Überraschung über die eigene Geschichte, die Freude über die eigenen Worte und der Stolz auf die eigenen Texte eröffnen neue Spielräume, um die Integrität der Identität wieder aufzubauen und den Selbstwert zu steigern.
Seinen Höhepunkt findet dieser Aspekt der Biographiearbeit in den Ausstellungen und Präsentationen des Projektes, also dann, wenn die Geschichten mit einem Publikum geteilt werden. Hier treffen die Teilnehmer auf Zuhörer*innen, die sich für das interessieren, was sie zu erzählen haben. Sie schenken ihnen Beifall für einen Ausschnitt aus ihrem Leben. Mit dem Applaus erleben sie, dass andere wertschätzen, dass sie sich kritisch und reflektiert mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, dass sie ihr Verhalten infrage stellen und ihr Ich Stück für Stück neu definieren. Das stiftet Sinn und ebnet den ersten Schritt auf der Brücke in eine straffreie Zukunft.
Mohammad, ein Teilnehmer des ersten Moduls von ZwischenWelten, besucht auch weiterhin in regelmäßigen Abständen die Workshops außerhalb des Gefängnisses. Stolz zieht er dann sein kleines schwarzes Notizbuch hervor, in dem er seine Texte sammelt. „Das habe ich von euch gelernt“, sagt er grinsend. „Es tut so gut, sich alles von der Seele zu schreiben, was einen fertig macht.“ Obwohl er mittlerweile zwei Jahre straffrei ist und sein Deutsch sehr gut geworden ist, hat er immer noch keine Möglichkeit, legal zu arbeiten. Er ist in seiner neuen Heimat geduldet, gehört aber nicht wirklich dazu.
Zwischen Traum und Realität,
zwischen Wunsch und Wirklichkeit,
zwischen dem Jetzt und morgen,
liegen Geschichten im Verborgenen.
# TraumHaft
ELVIRA BERNDT
FÜR EIN SELBSTBESTIMMTES LEBEN DANACH.
STREETWORK UND HAFT
Straßensozialarbeit folgt konsequent Prinzipien wie Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und Lebensweltorientierung. Auf den ersten Blick scheint dies nicht zusammenzupassen mit einer Arbeit innerhalb einer Jugendstrafanstalt. Schließlich ist ein Gefängnis ein Ort, der wie kein anderer von Unfreiwilligkeit geprägt ist.
Gangway gibt es jetzt 30 Jahre. Von Beginn an hatten Streetwork-Teams auch mit der Jugendstrafanstalt zu tun. Und wenn ich darüber so nachdenke, wie sich unsere Beziehung zur Jugendstrafanstalt in diesen drei Jahrzehnten entwickelt und gewandelt hat, fällt mir auf, dass man – mit einer leichten Überzeichnung – diese Entwicklung in diese Jahrzehnte aufteilen kann. Vermutlich sagt das, was sich in dieser Zeit in unserer Kooperation mit der Jugendstrafanstalt Berlin vollzogen hat, eine ganze Menge aus auch über die Entwicklung des Jugendstrafrechts bzw. die Vollstreckung von Jugendstrafen im vereinigten Deutschland.
Das hier vorliegende Buch mit wundervollen Texten von ebenso wundervollen, weil sich einlassenden und kreativ werdenden jugendlichen Insassen der Jugendstrafanstalt Berlin ist vielleicht der richtige Ort, sich diese drei Jahrzehnte aus der Sicht von Streetwork mal genauer anzuschauen.
Das erste Jahrzehnt – die 1990er Jahre
Zunächst waren es nur die ungeliebten Knastbesuche, um den Kontakt zu den Jugendlichen nicht zu verlieren, deren Taten letztlich in einen Gefängnisaufenthalt mündeten. Die Gedanken, die die Streetworker*innen dieser Zeit mit der Jugendstrafanstalt verbanden, waren vor allem:
• Wie bekomme ich einen Besuchstermin, ohne dass dieser der Familie des Jugendlichen abgezogen wird?
• Wie kann ich eine Gelegenheit abpassen, um mit meinem Jugendlichen im Vertrauen zu sprechen?
• Welche Grüße der Gruppe darf ich keinesfalls vergessen?
• Habe ich Zigaretten gekauft? (Die wichtigsten Mitbringsel, auf die alle besuchten Jugendlichen warteten.)
• Bekomme ich wirklich Einlass oder werde ich an der Pforte wieder weggeschickt? (Ein Grund dafür fand sich immer; Widerspruch erschien kaum möglich.)
Einen Dialog miteinander gab es im Prinzip nicht. Nachfragen, ja selbst Beschwerden versanken irgendwo im Nirwana. Selbst wenn wir „draußen“ mit aller Kraft darum gekämpft hatten, dass ein Jugendlicher seiner Aufforderung zum Haftantritt wirklich nachkam und nicht „abtauchte“ (was seiner Lebensperspektive letztlich ziemlich geschadet hätte), und der betreuende Kollege nach Tagen intensivster Einzelbetreuung und unermüdlicher Überzeugung mit dem Jugendlichen pünktlich vor dem Tor der JSA stand, konnte es passieren, dass er lapidar gesagt bekam: „Wir haben heute nun doch keinen Platz frei; kommen Sie in zwei Wochen wieder.“ Ein Satz, der wochenlange Arbeit zunichtemachen konnte. Interessiert hat das „drinnen“ kaum jemanden.
In der zweiten Hälfte dieses ersten Jahrzehnts gelang es uns mithilfe der Sozialpädagogischen Fortbildungsstätte des Landes Berlin (damals Haus am Rupenhorn), den damaligen Leiter der Jugendstrafanstalt Berlin in die Fortbildung der Streetwork-Teams zu locken. Damit begann in ganz vorsichtigen Schritten auch ein inhaltlicher Diskurs. Im Gedächtnis geblieben ist mir sein spontaner Stoßseufzer: „Hach, so ein Streetwork-Team, das nicht in die Hierarchien eingebunden und einfach für die Jugendlichen da ist, könnte ich in der Jugendstrafanstalt eigentlich auch gut gebrauchen.“
Tatsächlich bewegt hat sich noch wenig, aber um das Jahr 2000 herum war wenigstens ein Fenster etwas geöffnet – was auf ein Gefängnis bezogen zugegebenermaßen ein etwas unpassendes Bild ist.
Das zweite Jahrzehnt – die 2000er Jahre
Der begonnene Gesprächsfaden mit der JSA mündete relativ bald in Gespräche darüber, wie man die Weiterbetreuung junger Menschen durch die Streetwork-Teams während der Haftzeit erleichtern und verbessern kann und auch darüber, wie vielleicht in der Zeit der Jugendhaft eine Aktivierung Jugendlicher über ihre Interessen und jugendlichen Ausdrucksformen möglich wäre. Aus diesen Gesprächen ist mir ebenfalls ein Satz des damaligen Leiters der JSA im Gedächtnis geblieben: „Eher bekomme ich vom Abgeordnetenhaus ganz viel Geld für einen neuen Sicherheitszaun, als dass ich das Kleingeld für einen Tuschkasten bekäme.“
Ungeachtet dieser leider realistischen Erkenntnis bewegte sich einiges. Gangway wurde seitens der JSA als Partner ernster genommen. Das hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass die Straßensozialarbeit von Gangway in Berlin inzwischen etabliert und anerkannt war. Es könnte aber auch sein, dass wir davon profitiert haben, dass in den Zeiten der Bezirksfusionen (Berlin reduzierte2001 die 23 Bezirke auf die heutigen 12) und der Einführung der Sozialraumorientierung in den Berliner Jugendämtern (ab 2002) bei gleichzeitiger Reduzierung des Personals im Öffentlichen Dienst die Jugendgerichtshilfen personell und strukturell so beeinträchtigt waren, dass sie von der Justiz zeitweilig nicht mehr als verlässlicher Partner wahrgenommen wurden.
Mitte der 2000er Jahre, genauer gesagt auf der Party zum 15. Gangway-Geburtstag in der Treptower Arena, erreichte uns aus der JSA die Frage, ob wir nicht jemanden wüssten, der dort Rap-Workshops geben könnte. (Rap im Knast! Bis dahin einfach unvorstellbar!) Die Vernetzung der JSA mit einem geeigneten Künstler erfolgte noch vor Ort auf der Party; eine Verbindung, die übrigens bis heute gehalten hat. Irgendwie haben wir dies als Geburtsstunde der wirklich gemeinsamen Arbeit abgespeichert. Die Gruppe Gitta Spitta entstand in der JSA, und die jungen Männer waren vermutlich die ersten Rapper, die in der Jugendhaft eine von der Institution akzeptierte Karriere begannen. Als diese am Ende der 2000er Jahre aus der Haft entlassen wurden, war es schon selbstverständlich, dass die Streetworker von Gangway sie noch während der Haftzeit kennenlernen und nach der Entlassung mit ihnen draußen weiterarbeiten konnten. Mit der in dieser Zeit bei Gangway entstehenden Arbeit an den GangwayBeatz-Alben (um eine vollwertige Alternative zu GangstaRap-Phantasien zu etablieren), mit der Entstehung der BronxBerlinConnection (um die Wurzeln der HipHop-Kultur erlebbar zu machen) und Projekten wie der Kooperation mit Eastpak „Gangway goes fashion week“ gab es für die jungen Haftentlassenen attraktive Möglichkeiten, um neben der mühseligen Lösung von alltäglichen Lebensproblemen die eigene Kreativität zu entdecken und Talente zum Blühen zu bringen.
Auch auf der formalen Ebene tat sich einiges. Die Zutrittsbedingungen für die Streetwork-Teams wurden erleichtert, die Gesprächsmöglichkeit „ohne Beisein eines Beamten“ wurde vom Einzel- zum Regelfall, beginnend mit beruflicher Beratung konnte Streetwork-spezifische Beratung auch innerhalb der JSA etabliert werden, und der inzwischen neue Leiter der JSA brachte sich gemeinsam mit einigen seiner Kolleg*innen bei Gangway-Veranstaltungen außerhalb der JSA ein. Mit der Ausstellung „Grauzone Leben“ thematisierten Streetworker*innen und junge Haftentlassene gemeinsam all die Dinge, die für ein gutes Ankommen in einem Leben in Freiheit nicht förderlich sind – und bei diesem kritischen Feedback hörten die Kolleg*innen aus der JSA zu und kamen ins Gespräch, statt es – wie so oft vorher – zu bekämpfen.
Das dritte Jahrzehnt – die 2010er Jahre
Wir wussten gemeinsam, dass ein guter Übergang in die Freiheit auch für diejenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gebraucht wird, die den Streetwork-Teams nicht schon vor der Haft bekannt waren. Und auch die Jugendhilfe in Berlin erkannte, dass ihre Arbeit an der Schnittstelle zur Justiz intensiviert werden musste. Die Jugendgerichtshilfen hatten sich zwar wieder gefangen, aber auch sie erreichten mit ihren Angeboten nur einen Bruchteil der jungen Haftentlassenen. 2011 entstand so bei Gangway das Team Startpunkt; ein Streetwork-Team, das zu sogenannten Endstrafern (Jugendliche, welche die Haft bis zum letzten Tag absitzen und ohne weitere Betreuung entlassen werden) und zu Jugendlichen, die voraussichtlich aus der U-Haft entlassen werden, schon während der Haftzeit Kontakt und Vertrauen aufbaut, die Entlassung vorbereitet und die Jugendlichen nach der Entlassung mehrere Monate betreut und begleitet.
Intensiviert wurde auch die Kooperation mit der Schulabteilung der JSA (heute Helmuth-Hübener-Schule), wo mehr und mehr nicht nur schulische Curricula vermittelt, sondern auch kreative Prozesse in Gang gesetzt wurden. Mit dem Projekt ZwischenWelten wurde seit 2016 eine gemeinsame Möglichkeit aufgebaut, intensive Reflexionsprozesse mit Insassen zu gestalten, die von Gewalt- und Radikalisierungstendenzen betroffen sind und die vordem kaum eine adäquate Möglichkeit gefunden haben, ihre kreativen Ressourcen zu entdecken und zu entwickeln. Die mit dem Projekt beabsichtigte intensive Kommunikation zwischen „drinnen“ und „draußen“ wird durch die parallele Arbeit mit Insassen in der JSA und mit jungen Haftentlassenen außerhalb der JSA realisiert. Damit haben wir auch erreicht, dass sowohl die kreative Arbeit als auch die Unterstützung bei der Bewältigung handfester Lebensprobleme nach der Haftentlassung nahtlos weitergehen kann. Äußerst wichtig ist dabei aber auch, dass sich die Jugendlichen schon während ihrer Haftzeit „gesehen fühlen“ und durch diese beständige Kommunikation nicht nur unter sich bleiben.
Ein weiterer Dialog, nicht nur zwischen drinnen und draußen, sondern auch zwischen sehr verschiedenen Lebenswelten, wird durch die jährlich mindestens zwei bis dreimal stattfindenden Veranstaltungen zur Präsentation der Arbeitsergebnisse erreicht, die wechselnd innerhalb und außerhalb der JSA als Ausstellung oder Bühnenperformance stattfinden und immer Gesprächs- und Dialogräume beinhalten.
ZwischenWelten wird stetig weiterentwickelt. Im aktuellen Jahr 2020 – etwas gebeutelt durch Corona und die Folgen – haben wir den Diskurs zu gesellschaftspolitischen Themen, welche die Jugendlichen unmittelbar bewegen, in den Mittelpunkt gestellt und integrieren den Dialog mit Expert*innen aller Art „von draußen“ unmittelbar in die jeweiligen Workshop-Reihen. Beständig bleibt allerdings bei aller Weiterentwicklung unser Ansatz, alles Neue an die biografischen Erfahrungen der Jugendlichen anzuknüpfen und so gemeinsam kleine, aber nachhaltig wirkende Schritte zu gehen.
Und es geht weiter: Eine Kooperationsvereinbarung zwischen der Helmuth-Hübener-Schule in der JSA und dem Street College von Gangway eröffnet neue Bildungsperspektiven, indem auch hier eine personelle Kontinuität hergestellt wird zwischen den Bildungsansätzen innerhalb und außerhalb der Haft.
Diese drei Jahrzehnte sind natürlich nicht so glatt verlaufen, wie es in einem so kurzen Rückblick aussehen mag. Unsere Streetwork-Prinzipien wie Freiwilligkeit, Vertraulichkeit und Lebensweltorientierung sind für uns nicht verhandelbar; egal, in welcher Lebenswelt wir junge Menschen aufsuchen. Natürlich gab es – auch, aber nicht nur deshalb – auch Unverständnis, Rückschläge und Auseinandersetzungen. Diese Retrospektive ist auch nur die Streetwork-Perspektive – ein Rückblick aus Sicht der JSA würde sicher etwas anders aussehen, weil die Zwänge innerhalb einer Strafanstalt sich natürlich noch wesentlich komplexer darstellen. Aber wir sind uns sehr sicher, dass wir uns in dem Ziel einig sind, den straffällig gewordenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein selbstbestimmtes Leben nach der Haft zu ermöglichen und schon während der Haft dafür so viel wie nur irgendwie möglich in Gang zu setzen. Und wir finden, dass uns der Erfolg Recht gibt.