Loe raamatut: «Seitensprungkind», lehekülg 2

Font:

Die Entscheidung war getroffen

„Nach reiflicher Überlegung bin ich doch zum Schluss gekommen, dass für Helga die Adoption das einzig Richtige ist. Da es für mich ein schwerer Entschluss ist, lege ich Ihnen die gute Wahl der künftigen Eltern Helgas besonders ans Herz. Auf jeden Fall will ich Helga allein im Kinderheim abholen und sie nachher mit Ihnen nach Rapperswil bringen“, schrieb meine leibliche Mutter an die Adoptionsvermittlungsstelle.

Zu jenem Zeitpunkt erhielt ich einen Vormund, der von nun an auch über das Schicksal meiner Platzierung zu entscheiden hatte. Er gab die Einwilligung zur Durchgangspflege bei einer Familie in Brunnen, bei welcher ich für zirka zwei Wochen untergebracht war. Ich war damals noch zu klein, um mich an diese Familie zu erinnern. Erst vor einem Jahr, als ich alle meine Akten zum ersten Mal sichten konnte, erfuhr ich von diesem Detail. Die Adoptionsvermittlungsstelle hatte dem Vormund als künftige Adoptiveltern eine Familie Giacometti aus Lugano vorgeschlagen. „Wir glauben, dass das dunkelhaarige rassige Maiteli sehr gut in den Tessin passen würde“, schrieb die Adoptionsvermittlungsstelle dem Vormund. Ich musste wirklich schmunzeln, als ich das vor einem Jahr zum ersten Mal las. Nota bene: Ich war zu jenem Zeitpunkt vier Wochen alt!

Meine künftigen Adoptiveltern hatten sich im März 1958 bei der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch gemeldet und im Juni des gleichen Jahres sind sie zu einem Gespräch nach Rapperswil gereist, das folgendermaßen protokolliert wurde:

„Herr und Frau Giacometti interessieren sich sehr dafür, ein Kindlein zu erhalten. Ihr Wunsch geht eindeutig darauf hin, ein Meiteli aufzunehmen, und zwar ein kleines. Frau Giacometti ist eine junge, ausgesprochen hübsche Frau, blond mit blauen Augen, sehr gepflegt. Trotz ihrer grossen Jugendlichkeit, auch im Aussehen, scheint sie recht tüchtig. Sie hilft ihrem Mann, der eine Filiale der Lindt & Sprüngli, Kilchberg, leitet, im Büro. Sie kann das gut neben ihrem Haushalt machen und macht es auch sehr gerne. Sie hat ihren Mann bei Lindt & Sprüngli, wo sie als Sekretärin arbeitet, kennengelernt. Herr Giacometti scheint zuerst ein typischer Tessiner, ist in Rom aufgewachsen, kommt aber aus einer sehr alt eingesessenen Bergellerfamilie. Er selbst möchte nicht ein Kindlein, das aus italienischer Abstammung kommt, oder den südländischen Typus hat. Für sein Alter scheint Herr Giacometti sehr jung. Man spürt dass er seine Frau sehr gerne hat und wünscht auch baldmöglichst ein Kindlein aufzunehmen. Schon wegen seines Alters meint er, sei es wichtig, dass sie nicht solange warten müssen. Bereits sein sie zwei Jahre verheirate und nach ärztlicher Auffassung, besteht nicht eine grosse Möglichkeit, dass sie ein Kind bekommen. Würde trotzdem eines eintreten, könnte sie dieses eine Kind niemals hergeben. Herr Giacometti orientiert sich auch über die Rechtsfragen und ist froh, dass er bald adoptieren könnte.“*

Im August 1958 folgte dann ein Hausbesuch in Lugano. Durch die Akten erfuhr ich folgendes darüber:

„Die Ehegatten Giacometti wohnen am Fusse des Monte Bré. Die Wohnung ist sehr geräumig, grosse Zimmer. Neubau. Helle, mit grossen Fenstern versehene Räume, die recht deutschweizerisch eingerichtet sind. Frau Giacometti erklärt, dass sie im Tessin nichts gefunden hätte, das ihr zugesagt habe. Die Wohnung ist blitzblank sauber und in sehr guter Ordnung. Doch hat man gar nicht das Gefühl, Frau Giacometti verbringe ihre ganze Zeit auf so prosaische Weise. Sie ist sehr aufgeschlossen und lebhaft, gesprächig. Herr Giacometti kommt von der Arbeit. Das Depot befindet sich gerade gegenüber. Auch er macht gleich einen sehr freundlichen Eindruck, ist lebhaft, nimmt gleich regen Anteil am Gespräch mit seinem gebrochenen Deutsch. Man kann sich die beiden sehr gut als Eltern vorstellen.“

Noch im selben Monat wurde meinen späteren Adoptiveltern ein „entzückendes Kindlein“ aus Aarau vorgeschlagen. Wie mir meine Mami später erzählte, fühlte sie sich überrumpelt. Es ging ihr alles zu schnell und sie war noch nicht so weit eingerichtet, um ein kleines Kind aufzunehmen. Aus diesem Grund lehnte sie das Angebot ab. Wenn man bedenkt, dass heutige Adoptiveltern Jahre warten müssen, bis ihnen ein Kind zugesprochen wird! Bereits zwei Monate später wurde meinen künftigen Adoptiveltern erneut ein Kind vorgeschlagen: Das war ich! Innerhalb kürzester Zeit kam die Einwilligung der Amtsvormundschaft Wil:

„Sehr geehrte Fürsorgerin. Ich bin im Besitze Ihrer Zuschrift vom 24.11.1958 und beziehe mich auf den gestrigen telefonischen Anruf. Ich möchte mit diesem, und nach Einsicht der Unterlagen bestätigen, dass ich mit der vorgesehenen Unterbringung des a. e. Kindes Helga Oertli in die Familie Giacometti Lugano-Cassarate, mit der Absicht einer späteren Adoption einverstanden bin. Ich nehme an, es handle sich um eine unentgeltliche Uebernahme der Pflege und Erziehung des Kindes und dass hierüber eine schriftliche Vereinbarung mit den Pflegeeltern über das Pflegeverhältnis getroffen wird, worin auch die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Adoption im Sinne des Art. 267 ZGB erwähnt werden. Ich sende Ihnen die mir übersandten Unterlagen mitfolgend zurück und verbinde damit meinen besten Dank für Ihre Bemühungen“,

schrieb der Amtsvormund im November 1958. Bei der Auswahl der Adoptiveltern war wohl damals das wichtigste Kriterium, dass sie sich in einer guten finanziellen Lage befanden. Die Gemeinde wollte nicht mehr für dieses Kind aufkommen müssen.

So rasch und oberflächlich wurden damals die Abklärungen betreffend einer Eignung zur Adoption getroffen. In meinem Dossier fand ich noch zwei Empfehlungsschreiben von Bekannten und sowie vom Arbeitgeber meiner zukünftigen Adoptiveltern. Innerhalb von nur zwei Monaten waren die Vorabklärungen abgeschlossen. Sicher gab es zu jener Zeit viel mehr Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden als heute, aber es scheint ganz so, als wären die Adoptiveltern nur rudimentär auf ihre Eignung geprüft worden. Da stellen sich mir etliche Fragen: War es den zukünftigen Adoptiveltern damals bewusst, dass es nicht dasselbe sein wird, ein „fremdes“ Kind anzunehmen, wie sein eigenes Kind großzuziehen? Waren sie psychisch in der Lage, sich um ein eventuell traumatisiertes Kind zu kümmern? Hatten sie die Fähigkeit, für ein Pflegekind die richtige Betreuung, das Verständnis und die Geduld aufzubringen? Hatten sie genügend Feingefühl und Empathie, um auch schwierige Zeiten zu überstehen? Waren sie genügend charakterlich gefestigt? Wussten sie, was es bedeutet, ein Kind aufzunehmen, dessen Anlagen man nicht kennt? Und was tun, wenn es in der Schule völlig versagen würde oder in der Pubertät einen riesigen Absturz erleiden würde? Das sind alles Ereignisse, die bei einem Adoptivkind häufig auftreten können, häufiger als bei leiblichen Kinder. In dieser Hinsicht wurde offensichtlich viel zu wenig abgeklärt. Aber das gehörte zu jener Zeit, die Adoptionsverfahren und die Erkenntnisse über die Psychologie eines Adoptivkindes und damit verbundene Schwierigkeiten haben sich über die Jahre erst entwickelt. Zudem gab es in den 1960er-Jahren noch nicht so detaillierte Ratgeber zum Thema Kindererziehung, keine über Pflegekinder. Zu jener Zeit wurden Kinder noch autoritär und mit eiserner Disziplin erzogen, auch wenn mittlerweile Stimmen pro antiautoritären Erziehungsstil lauter wurden. Es war nicht üblich, sich als Erwachsene in die fragile Seele eines heranwachsenden Lebens hineinzuversetzen. Empathie gehörte nicht zu den expliziten Erziehungszielen.

Heute müssen sich willige Adoptiveltern auf einer langen Liste von wartenden Eltern hintanstellen und sich über Jahre darum bemühen, ein Kind zu bekommen. Immer wieder folgen für die zukünftigen Adoptiveltern zahlreiche Tests und Gespräche, zudem ist durch sie schriftlich genau zu begründen, weshalb sie ein Kind aufnehmen möchten. Entsprechende Kurse sind auch Pflicht.

Mitte November 1958, als ich etwa sechs Wochen alt war, teilte meine leibliche Mutter der Adoptionsvermittlungsstelle telefonisch mit, dass sie froh wäre, wenn das Kind durch die Mitarbeiter abgeholt werde und bat darum, das dem Kinderheim entsprechend zu berichten. Eigentlich hatte meine Mutter zuerst gesagt, dass es ihr wichtig gewesen wäre, mich persönlich abzuholen. Was war wohl der Grund dieses Wandels? Brachte sie es nicht übers Herz, mich nochmals zu sehen und dann wegzugeben? Das wissen nur die Sterne. So holte mich die Fürsorgerin in St. Gallen ab und protokollierte:

„Helga scheint ein dunkelhaariges, nicht unsympathisches Kindlein zu sein. Seine Äugelein zeigt es allerdings auf dem ganzen Weg nicht und schläft immer. Es hat eher ein rundes Gesichtlein, und ein tiefes Grübchen im Kinn. Sie soll ein sehr liebes Kind sein, nur wenn ihr etwas nicht passt, schreie sie los, wie kein zweites.“

Aus den Akten erfahre ich ein letztes Mal etwas über meine leibliche Mutter:

„Sie erkundigt sich, wie es der Kleinen geht und ob sie eventuell ein Bildchen erhalten könne, sie habe selber noch fotografieren wollen, sei aber nicht dazu gekommen.“

Ich kann nur schwer hoffen, dass ihr dieser Wunsch erfüllt wurde.

Am 1. Dezember 1958, ich war knapp zwei Monate alt, traf ich in Lugano ein und wurde nun vorerst die Pflegetochter meiner Mami und meines Papi. Am 11. Dezember unterschrieben die beiden die Erklärung, in der sie sich verpflichteten, „in gesunden und kranken Tagen“ für mich finanziell aufzukommen, mich eine Schul- und Berufsausbildung genießen zu lassen und mich wie ihr eigenes Kind zu behandeln. All dies haben mein Mami und Papi in ihrer wunderbaren Art erfüllt.

Die rechtlichen Bestimmungen, die zu jener Zeit maßgebend waren

Als ich dann im Jahre 1960 definitiv adoptiert wurde, waren noch die alten Bestimmungen des Zivilgesetzbuches (ZGB) vom 1. Januar 1912 in Kraft. Hier ein Auszug aus der „Aktennotiz“ des EJPD vom 13.02.2014:

„Das alte Recht erkannte unter dem Titel ‚Kindesannahme‘ einer solchen Annahme nur beschränkte Wirkungen zu. Die Kindesannahme betraf vor allem den Familiennamen, die Unterhaltspflicht, die elterliche Gewalt und das Erbrecht, das jedoch stark eingeschränkt werden konnte. Hingegen konnte das Schweizerische Bürgerrecht (somit auch das Heimatrecht) durch die Annahme nicht erworben werden und das angestammte Kindesverhältnis zu den leiblichen Eltern dauerte fort: Das Kind gehörte mit der Kindesannahme somit zwei Familien an, was sich auch darin äusserte, dass die leiblichen Eltern ein Besuchsrecht beanspruchen konnten, das ursprünglich auch durch Vertrag nicht wegbedungen und nur durch die zuständige Behörde selbst entzogen werden konnte. Zudem bestand weiterhin eine gegenseitige Unterstützungspflicht zwischen leiblichen Eltern und dem angenommenen Kind. Dieses behielt überdies sein Erbrecht gegenüber seinen leiblichen Eltern; das Kindesverhältnis wurde nicht aufgelöst. Dies führte unter anderem dazu, dass bei einem allfälligen Tod der oder des Annehmenden die leiblichen Eltern wieder sämtliche Rechte, die mit der Kindesannahme an die Adoptiveltern übertragen wurden, zurückerhielten und das Kind auch wieder seinen ursprünglichen Namen annehmen musste.

Fazit: Die Ausgestaltung der Kindesannahme mit den Wirkungen einer einfachen oder schwachen Adoption entsprach den Anschauungen der Entstehungszeit des ZGB. Damals ging man im Übrigen nicht davon aus, dass von diesem Institut häufig Gebrauch gemacht werden würde. Das alte Recht der Kindesannahme kannte kein Adoptionsgeheimnis; angesichts der beschränkten Wirkungen der Annahme und der Tatsache, dass das adoptierte Kind weiterhin seiner angestammten Familie angehörte, ja dass die leiblichen Eltern sogar ein Besuchsrecht hatten, hätte ein solches Geheimnis auch wenig Sinn gemacht.“

Am 1. April 1973 trat das neue Adoptionsrecht in Kraft, welches sich wesentlich vom alten Recht unterscheidet. Das ZGB sieht nun die Volladoption vor:

Der Adoptierte begründet zu den Adoptiveltern ein Kindesverhältnis mit der Verwandtschaftswirkung, als ob er ein leibliches Kind der Adoptiveltern wäre. Die bisherigen Kindesverhältnisse erlöschen. Das adoptierte Kind erhält den Nachnamen der Adoptiveltern. Zudem dürfen ihm diese einen neuen Vornamen geben, sofern dies mit dem Kindeswohl vereinbar ist. Der Adoptierte erhält das Kantons- und Gemeindebürgerrecht desjenigen Adoptivelternteils, dessen Namen es trägt. Die Adoption ist unauflöslich und die Wirkungen endgültig.

Erste Lebensjahre

Es war an einem verschneiten Tag Anfang Dezember, ich war acht Wochen alt, als meine Mami mich bei der Adoptionsvermittlungsstelle in Rapperswil abholte. Von Lugano kommend, hatte sie eine lange Reise mit dem Zug hinter sich. Es war offenbar eine rasche und fast formlose Übergabe. Wie genau diese vor sich ging, habe ich nie erfahren, darüber stand auch nichts in den Akten. So schnell ging das, ein Kind zu platzieren! Was wohl in mir vorging? Habe ich mich gefragt, wer mich jetzt in einer Tragetasche mit sich trägt? Was passiert mit mir? Wie habe ich dieses ständige lärmige Geräusch auf der Zugfahrt empfunden? Habe ich während der ganzen Zugfahrt geschrien? Irgendwann bin ich sicher vor Erschöpfung eingeschlafen.

Ich wusste nicht, ob ich jetzt wieder an einen neuen Platz kam, der für längere Zeit mein neues Zuhause sein würde. Wie konnte ich das als Baby auch erkennen? So brachte mich meine Mami in ihre Wohnung, und schon bald wurde ich auch von meinem Papi in Empfang genommen. Seine erste Reaktion war nicht gerade die tollste, die man sich wünscht: „Bring das hässliche Kind zurück, ich will das nicht!“, waren seine ersten Worte, als er mich zum ersten Mal sah, hat mir meine Mami immer wieder erzählt. Und sie gab auch zu, dass es in erster Linie ihr Wunsch war, ein Kind aufzunehmen. Mein Papi war eher skeptisch. Sie hatte sich – wie immer – durchgesetzt, und mein Papi hatte aus Liebe zur ihr sein Einverständnis gegeben. Aber ich habe meinem Adoptivvater längst verziehen, weil er mit seiner großen Liebe zu mir alles wieder gutgemacht hat. Meine Mami fügte immer wieder dazu: „Weißt du, nach einer Woche hätte er dich um keinen Preis mehr zurückgegeben!“

Als mich meine Adoptiveltern zum ersten Mal in den Armen hielten, sah ich wirklich hässlich aus. Mein ganzes Gesicht war mit Krusten übersäht. Ich litt an einer starken Neurodermitis. Aus heutiger Sicht betrachtet waren das sicher Zeichen einer Stressreaktion des Körpers, hervorgerufen durch die seelischen Strapazen.

So war ich nun in Lugano angekommen. Das rassige, dunkle Maiteli war nun in einer lateinischen Umgebung zuhause und konnte sich endlich entfalten. Es war sicher auch für meine Adoptiveltern eine riesige Umstellung, plötzlich ein Baby bei sich zu haben, für das man rund um die Uhr Verantwortung übernehmen muss. Es fehlte die neunmonatige Schwangerschaft, in der meine Adoptiveltern sich schon voll auf das Kind im Bauch vorbereiten und zu ihm eine natürliche Beziehung aufbauen konnten. Seit ihrer Anmeldung bei der Adoptionsvermittlungsstelle waren zwar auch bei ihnen schon genau 9 Monate vergangen, aber meine Eltern hatten keine Möglichkeit, mich zu fühlen oder eine Bindung zu mir aufzubauen. Ich wuchs nicht in meiner Mami heran, sie hat nicht spüren können, wie ich ihren Bauch immer mehr wölbte und in ihr strampelte. Nie konnten sie sich die Frage stellen: Wird es wohl dem Vater oder der Mutter ähnlich sein?

Diese letzte Frage trifft bei mir nicht zu, hatte ich doch unbekannte Erbanlagen. Ich war jedoch eher der südländische Typ und hatte somit eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit meinem Papi.

Am 11. Dezember 1958 schrieb meine Mami der privaten Kindervorsorge in Rapperswil:

„Liebes Fräulein, Unsere Regula (sie heisst jetzt so) hat sich bei uns schon gut eingelebt und wir haben viel Freude an ihr. Sie wird jeden Tag hübscher und lebhafter und der Ausschlag im Gesichtchen ist vollständig weg. Gestern war ich mit Regula beim Doktor. Er war sehr zufrieden mit ihr. Sie ist nun 9 Wochen alt und wiegt schon 4 700 kg, sie hat aber auch immer einen guten Appetit!“

Es schien alles gut zu laufen, ich hatte mich in der neuen Familie offensichtlich bereits nach kurzer Zeit eingelebt, denn am 24. Februar 1959 verfasste meine Mami ihren zweiten Brief für Rapperswil:

„Endlich kommt wieder einmal eine Nachricht von unserer Regula. Ich lege Ihnen ein Phöteli bei, damit Sie sehen, wie unsere Tochter sich gemacht hat. Sie können sich kaum vorstellen, welche Freude wir an diesem ‚Chrötli‘ haben. Sie ist ein liebes, fröhliches Meiteli und bis jetzt entwickelt sie sich sehr gut. Regula wiegt schon 6,6 kg und vor 3 Wochen hat sie die erste Krankheit gehabt. Sie war stark erkältet und hustete viel und dazu kam noch Durchfall – also alles zusammen. Ich bin wirklich froh, dass diese anstrengenden Tage und fast schlaflosen Nächte vorbei sind. Auch mit dem Hautausschlag geht’s besser; es gibt Tage, wo man überhaupt nichts sieht, und plötzlich ist das Gesichtlein wieder ganz voll. Aber der Arzt sagt, dass dies mit der Zeit vollkommen weg geht. Regula ist ein ganz hübsches Meiteli geworden (die Haare sind zwar bald alle weg) und sie wird von ganz Cassarate bewundert. Sie hat immer einen guten Appetit und am Mittag isst Regula schon viel Gemüse. Entschuldigen Sie bitte meine Schrift, denn Regula sitzt bei mir und fuchtelt mit ihren Händchen immer nach dem Papier und gibt mir hie und da einen Stoss. Nach Ostern werde ich mit Regula für ca. 10 Tage nach Bern fahren. Im Fall Sie unser Meiteli eventuell sehen möchten, kann ich Ihnen noch genau berichten, wann ich in Arth-Goldau vorbeifahre. Ich wünsche Ihnen schöne Ostertage und alles Gute, Ihre Hedi Giacometti“.

Am 30. April 1959, da war ich seit knapp 5 Monaten in der Familie Giacometti und bald 7 Monate alt, informierte meine Mami wiederum die Adoptionsvermittlungsstelle über den Verlauf:

„Endlich kommen wieder einmal zwei Phöteli von unserer Regula. Nicht wahr, sie ist ein herziges Schätzeli geworden? Letzte Woche bekam sie ihre zwei ersten Zähnchen (unten), zum Glück ohne Schmerzen. Bald, bald kann sie allein sitzen und im ‚Yompa-la‘ springt sie rückwärts schon durch die ganze Wohnung. Regula wiegt nun 7,8 kg und für ihr Alter ist sie sehr lang. Jeden Tag macht sie nun grosse Fortschritte; sie lacht und jauchzt den ganzen Tag. An diesem Kindlein haben wir wirklich riesige Freude. Durch ihre sonnige Art hat sie sich schon zum Liebling von ganz Cassarate gemacht! Indem ich Ihnen alles Gute wünsche, grüsse ich Sie herzlich.“

Es war für mich sehr rührend, als ich diese Briefe im Alter von 57 Jahren zum ersten Mal las. Tränen rollten über meine Wangen. Ich schien von meinen Adoptiveltern voll akzeptiert worden zu sein und sie hatten große Freude an mir. Aber wie fühlte ich mich bei ihnen? Wie sah es in meiner Seele aus? Was verdeckte mein Lachen und Jauchzen den ganzen Tag? Auf jeden Fall sah es von außen so aus, dass es mir gut ging, und ich möchte auch nicht daran zweifeln.

Kurz nach meinem ersten Geburtstag folgte im November 1959 ein weiterer Brief von meiner Mami an die Adoptionsvermittlungsstelle:

„Schon seit einiger Zeit haben Sie nicht mehr von uns gehört. Wie Sie auf den Phöteli sehen können, wird unsere Regula immer herziger und sie kann jetzt schon laufen. Sie macht jeden Tag Fortschritte und wir haben grosse Freude an unsere Regula. Vor sechs Wochen hatte Regeli hohes Fieber und Halsweh und seit da schläft sie in der Nacht sehr schlecht. Es kann sein, dass es vom Penicillin ist, welches in der Medizin war und ev. hat auch die Kinderlähmungs-Einspritzung eine nachteilige Wirkung. Sie wurde vom Arzt gründlich untersucht, aber es scheint nur eine vorübergehende Störung zu sein. Bis jetzt konnte ich mich ja wirklich nicht beklagen, denn ausser dieser Schlaflosigkeit war Regula ein ganz liebes, braves Meiteli. Bestimmt wird auch diese Zeit bald vorbeigehen und dann werde ich mein Schlafmanko wieder gründlich aufholen. Regeli hat nun schon sieben Zähnli, drei unten und vier oben, und sie wiegt 10 kg. Für 13 Monate ist sie sehr gross. Auch die Haare werden langsam länger und wie Sie auf dem Photo sehen können, bekommt Regeli herzige ‚Chruseli‘. Ich finde wirklich, dass es kein hübscheres Meiteli gibt als meine Tochter! Ihrem Unternehmen wünsche ich weiterhin alles Gute und grüsse Sie alle herzlich, Ihre Hedi Giacometti“.

Ich war oft krank und hatte massive Schlafstörungen. Meine Mami hat mir viel von jener Zeit berichtet. Sie sagte mir, ich schlief praktisch nie, den ganzen Tag und die ganze Nacht blieb ich wach. Meine Mami und mein Papi erzählten mir, dass sie im Turnus während der Nacht wach geblieben sind: bis 2 Uhr morgens wachte mein Papi über mich, dann übernahm meine Mami. Es war eine herausfordernde und nervenaufreibende Situation. Sie suchten Rat beim Hausarzt, doch auch er konnte sich die Ursache offenbar nicht genau erklären. Auch nach einer gründlichen Untersuchung konnte er keine ersichtliche Krankheit feststellen. Die Vermutung lag nahe, dass es eine Reaktion auf das Penicillin war oder eventuell durch die Kinderlähmungsimpfung ausgelöst worden sei. Der Arzt war der Meinung, dass es sich sicher bald wieder normalisieren würde. Doch er sollte nicht recht behalten: Dieser Zustand dauerte etwa 9 Monate an und meine Eltern erzählten mir immer wieder, dass ich während dieser Zeit nie geschlafen hätte. Als sie erneut den Hausarzt aufsuchten, glaubte er ihnen nicht. Er sagte: „Kein Mensch überlebt so lange Zeit ohne zu schlafen.“ Und so fühlten sich meine Adoptiveltern alleingelassen. Es war wirklich eine schreckliche Zeit für sie.

Durch die ständige Unruhe entwickelte meine Mami in dieser Zeit eine Schlafstörung, und sie erhielt vom Arzt dann die ersten Schlafmittel, die auf dem Markt zu haben waren. Was damals noch nicht bekannt war: Diese Tabletten machten abhängig, und auch meine Mami wurde ihr Opfer und kam ein Leben lang nicht von diesen Medikamenten los. Tragisch. Sie sagte dann immer zu mir, dass ich daran schuld wäre, dass sie mit diesem Zeug angefangen hätte. Ich nehme ihr diese Vorwürfe nicht übel und weiß, sie wollte mich damit nicht verletzen und suchte nur nach einer Entschuldigung für ihre lebenslange Medikamentenabhängigkeit.

Am 8. März 1960 wurde ich von meinem Papi mit gerichtlicher Urkunde und Adoptionsvertrag adoptiert und habe seinen Familiennamen angenommen. Der Heimatort blieb noch der alte, so wie das Gesetz es damals vorsah. Die Behörden stellten mir aber einen neuen Geburtsschein aus, auf dem ich als Regula Giacometti eingetragen war. Ich war nun in meine neue Familie „wiedergeboren“, mit neuer Identität und einer neuen Identifizierung durch eine neue Geburtsurkunde – als ob ich in die Familie Giacometti hineingeboren worden wäre.

Am 6. Mai 1960, als ich bereits 1 ½ Jahre alt war, schrieb meine Mami Folgendes an die Adoptionsvermittlungsstelle:

„Schon lange Zeit haben Sie nichts mehr von uns gehört, dies will ich nun schnellstens nachholen. Wie Sie wahrscheinlich gehört haben, ist Regula inzwischen ein ‚Giacometteli‘ geworden und wir sind natürlich glücklich, dass Regeli nun ganz uns gehört. Sie ist immer noch ein liebes, herziges Meiteli und sie macht uns wirklich viel Freude. Leider schläft sie immer noch nicht, wie sie sollte; in der Nacht erwacht sie öfters und schreit, dass die ganze Nachbarschaft Konzert hat. Ich weiss nun nicht, ob dies mit den Zähnen zusammenhängt und ich hoffe sehr, dass Regula bald wieder besser schläft. Auch hat sie zwei schlimme Anginas gehabt; dies ist der schwache Punkt von unserer Tochter, denn, wie der Doktor sagt, hat sie schon jetzt schlimme Mandeln. Auf Rat vom Doktor, werden wir im Juni Regula nach Silvaplana geben, ein privates Kinderheim (sie nehmen nur 3–4 Kinder), während wir dann am Meer Ferien machen werden. Im Juli nehme ich sie dann mit mir nach Maloja, wo wir einen Monat Ferien machen. Ich wünsche Ihnen alles Gute und grüsse Sie freundlich, H. Giacometti“.

Ich hatte immer noch Schlafstörungen und war des Öfteren krank, was sicher auch bei nicht adoptierten Kindern in diesem Alter der Fall sein kann. Ich erwachte viel in der Nacht und schrie laut. Wollte ich vielleicht meine Adoptiveltern testen, ob sie wirklich immer kommen und für mich da sind, wenn ich mich nicht wohl fühle oder Angst habe? Das Schreien in der Nacht zwang meine Eltern, mich aus dem Bettchen zu nehmen und mich zu beruhigen, da ich sonst die ganze Nachbarschaft aufgeweckt hätte.

Weil ich so oft Angina hatte, wurde ich auf Rat des Hausarztes für vier Wochen in ein privates Kinderheim in Silvaplana gebracht. Offenbar waren meine Adoptiveltern mit mir überfordert. Ich war erst 1 ½ Jahre alt, und schon wieder stand mir eine Trennung bevor. Was ging wohl in mir vor, als sich meine Adoptiveltern von mir verabschiedeten und ich mich erneut an eine neue Umgebung und an neue Bezugspersonen gewöhnen musste? Oder war etwa mein ständiges nächtliches Weinen der Grund, dass ich hierher versetzt wurde? Brauchten meine Adoptiveltern eine Auszeit, um sich von meinen Schlafstörungen beziehungsweise ihrer ständigen Pflege aufgrund meiner Krankheiten zu erholen? Meine Eltern fuhren in dieser Zeit ans Meer. Hätte mir die Meeresluft nicht auch gutgetan? Ich hatte als Kleinkind wieder keine Chance, die erneute Trennung irgendwie einzuordnen oder mich dagegen zu wehren. Würden meine Mami und mein Papi mich auch wieder abholen oder musste ich jetzt für immer hier bleiben? Wie war die Betreuung in diesem Kinderheim? Wusste man von all den Trennungen, die ich schon durchgemacht hatte?

Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass leider auch der Hausarzt keine Ahnung hatte, was eine erneute Trennung für ein so kleines Adoptivkind bedeutet und welche Auswirkungen diese haben kann. Wenn ich das schreibe, macht es mich sehr traurig. Ich hätte meinen Sohn in diesem Alter niemals für so lange Zeit in fremde Betreuung geben können! Und so kam es, wie es kommen musste: Als mich meine Adoptiveltern vier Wochen später wieder abholten, erkannte ich sie nicht wieder. Aus Erzählungen meiner Mami weiß ich, dass ich nicht mit ihnen weggehen wollte und wie am Spieß schrie.

Heutzutage ist es so, dass sogar bei kurzen Spitalaufenthalten die Eltern aufgefordert werden, einen großen Teil des Tages, und falls nötig auch die Nacht, beim Kind zu verbringen, um das Getrenntsein auf ein Minimum zu reduzieren, denn heute weiß man, dass eine lange Trennung zu einem seelischen Langzeittrauma führen kann und noch schwerwiegendere Störungen als meine sowieso schon vorhandenen Krankheiten hervorrufen kann.

„Auch bei leiblichen Kindern, die von der Mutter getrennt werden und bis dahin seelisch und körperlich gesund waren, können diese Kinder, je jünger sie sind, desto stärker, plötzlich körperlich und seelisch erkranken und sogar lebensgefährliche Erkrankungen entwickeln, woran sie schlimmstenfalls auch sterben können. Ihre Lebenskräfte sind durch den Weggang der Mutter geschwunden, die ihnen bisher, beginnend in der Schwangerschaft, als Kraftquelle diente.“ (Hellbrügge, 2003)

Meine Mami war eine sehr lebhafte und kontaktfreudige Person. Sie war bestrebt, dass ich immer mit vielen Kindern spielen konnte. In der warmen Jahreszeit ging sie täglich mit mir in einen kleinen Park am See (auf dem Coverbild sieht man mich in diesem Park), wo ich im Sandkasten mit gleichaltrigen Kindern spielen konnte. In den Wintermonaten sorgte sie dafür, dass öfter Kinder zu uns zu Besuch kamen. Ich hatte viele liebe Menschen um mich, viele Aktivitätsmöglichkeiten, und ich konnte mich dadurch gut entfalten.

Aber krank war ich nach wie vor sehr oft. Angina hatte ich zwar keine mehr, da mir im Alter von 2 Jahren die Mandeln operiert wurden. Dafür erlitt ich einen heftigen Keuchhusten, wie es im Medizinbuch steht. Die Hustenattacken dauerten über Monate – und wieder kämpfen meine Adoptiveltern mit vielen schlaflosen Nächten. Im Brief meiner Mamis vom Dezember 1960 an die Adoptionsvermittlungsstelle liest man Folgendes:

„Liebes Fräulein, Anbei sende ich Ihnen einen Gepäckempfangsschein, mit welchem Sie auf dem Bahnhof Rapperswil einen Kinderwagen abholen können. Im Fall der Wagen beschädigt sein sollte, ist er versichert und Sie können dementsprechend reklamieren. Ich hoffe, einem kleinen Pflegling einen Dienst zu erweisen; bestimmt können Sie immer alle gut gebrauchen. Wir freuen uns sehr, mit unserem Regeli Weihnachten zu feiern und sie wartet mit grosser Ungeduld aufs Christkind, von welchem sie viele Geschenkli erwartet. Regula hat seit anfangs November den Keuchhusten, leider ziemlich stark, und ich habe wieder viele schlaflose Nächte hinter mir. Nun geht’s allerdings bedeutend besser und am 2. Januar 1961 werden wir für 4 Wochen nach Mürren gehen, dann wird bestimmt dieser langwierige Husten ganz verschwinden. Es ist wirklich schade, dass Sie Regula nicht sehen können! Ihr Mündchen plappert den ganzen Tag. Sie hat nun zwei herzige Zöpfli und so sieht sie schon wie ein grosses Meiteli aus. Wir haben unglaublich viel Freude mit ihr. Ich wünsche Ihnen und dem ganzen Unternehmen alles Gute für 1961 und allen frohe Weihnachten. Liebe Grüsse H. Giacometti + Familie“.

Meine Mami erzählte mir, dass jede zweite Woche der Hausarzt bei uns zu Hause war. So kam es dann auch, dass ich, als ich ca. 2 ½ Jahre alt war, wegen starken undefinierbaren Bauchschmerzen am Blinddarm operiert werden musste. Davon trage ich jetzt noch eine 10 cm lange Narbe. Es stellte sich danach heraus, dass der Blinddarm eigentlich gar nicht entzündet war, sondern es sich um eine Bauchfellentzündung gehandelt hätte. Diese Operation war demnach vergebens.

Ich war nun zweijährig und ständig krank. Im Nachhinein denke ich, hatten diese Krankheiten eher psychosomatische Ursachen, hervorgerufen durch die häufigen Trennungen, wurden aber nicht als solche erkannt. Meine Adoptiveltern schrieben der Adoptionsvermittlungsstelle immer wieder, sie hätten riesige Freude an mir und könnten sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen. Aber ich glaube auch, dass es eine sehr schwierige Zeit für sie war. Ich schrie viel, raubte ihnen den Schlaf und forderte durch meine Krankheiten ihre ständige und volle Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich wollte ich sichergehen, dass sie sich immer um meine Bedürfnisse kümmerten. Meine Mami gab später aber zu, dass sie mich nicht immer aufgenommen hat, wenn ich im Bettlein schrie. Sie war der Meinung, dass man Babys nicht zu fest verwöhnen soll, sonst beherrschten sie einen. Und so ließ sie mich am Tag – in der Nacht konnte sie es wegen der Nachbarschaft nicht – für längere Zeit schreien.