Loe raamatut: «Seitensprungkind», lehekülg 3

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Da meine Mami im Büro meines Papis mithalf, organisierten meine Eltern eine Haushaltshilfe. Diese kam mehrmals in der Woche, um den Haushalt in Ordnung zu halten und dazu noch mich zu betreuen. Jahre später traf ich diese liebenswürdige Frau wieder und sie erzählte mir spontan: „Weißt du, deine Mutter war extrem streng mit dir. Sie hatte mir verboten, dich aufzunehmen, wenn du geschrien hattest. Aber ich konnte es nicht ertragen, du hattest so laut geschrien, dass mir fast das Herz zerbrochen ist. So habe ich dich dann in die Arme genommen und nach kurzer Zeit musstest du ein ‚Görbschen‘ machen und danach warst du dann wieder ruhig.“

Ich bin ihr so dankbar, dass sie mich so liebevoll betreut hat. Trotz ihres höllischen Respekts vor meiner Mami hat sie den ganzen Mut zusammengenommen und ihr gebeichtet, dass sie mich regelmäßig vom Bettchen aufgehoben und dabei gemerkt habe, dass der Grund meines Schreiens Verdauungsprobleme waren. Sobald sie mich kurz in den Armen hielt, konnte ich auch wieder ruhig im Bettchen einschlafen.

Ja, das war meine Mami. Eine strenge Erzieherin, die es gut meinte, aber eindeutig zu wenig Empathie für ein Kleinkind hatte – und erst recht keine Vorstellung davon, wie viel zusätzliche Aufmerksamkeit ein traumatisiertes Adoptivkind gebraucht hätte, damit es nicht immer wieder an die erste schmerzliche Trennung erinnert würde.

Schon in meiner Kindheit entwickelte ich viele Ängste, die mich leider das Leben lang begleiteten. Meine Mami wollte, dass ich mich früh daran gewöhne, allein zu Hause zu sein. Sie meinte, es würde mich stärken, wenn ich abends immer wieder auf mich allein gestellt wäre. Heute weiß ich: Es hat genau das Gegenteil bewirkt und Verlustängste provoziert.

Das gehörte auch zu ihren Erzählungen: „Weißt du, ich wollte mit deinem Papi einmal pro Woche ins nahe gelegene Bistro gehen, um ein wenig fern zu sehen sowie um andere Menschen zu treffen. Und als wir dich ins Bett legten, verabschiedeten wir uns von dir und erklärten dir, dass wir ganz in der Nähe seien und ich keine Angst haben müsse, sie würden bald wieder nach Hause kommen.“

Diese Abende und die damit verbundenen heftigen Angstgefühle habe ich nie wieder vergessen und kann sie heute noch nachfühlen. Ich konnte nie einschlafen und hatte panische Angst vor Einbrechern und anderen bösen Gestalten. Jedes kleinste Geräusch versetzte mich in Angst und Schrecken. Ich versteckte mich unter der Decke und atmete kaum noch, so dass mich niemand hören und finden konnte. Es waren für mich unendliche Stunden, die Zeit schien stillzustehen. Erst als ich meine Eltern kommen hörte, konnte ich mich langsam beruhigen. Als sie dann bei mir ins Zimmer schauten, stellte ich mich immer schlafend. Ich wollte nicht, dass ich getadelt werde, weil ich immer noch wach lag. Und so musste ich immer wieder diese schrecklichen Gefühle des Verlassenwerdens von neuem erleben, die ständige Wiederholung der ersten traumatischen Gefühle in meinem Leben. Meine Eltern waren sich dessen offenbar nicht bewusst.

Ich bin klar der Meinung, dass man einem (adoptierten) Kind nie zu viel Liebe, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Empathie schenken kann. All diese Eigenschaften sind viel wichtiger als eine strenge und spartanische Erziehung.

Als ich 4 ½ Jahre alt war, im März 1963, verfasste meine Mami wieder einen Brief an die Adoptionsvermittlungsstelle:

„Liebes Fräulein, Jeder Tag geht vorüber, ohne dass ich meine guten Vorsätze, Ihnen zu schreiben, ausgeführt habe. Aber eben, die Zeit vergeht so schnell und nun ist unsere Regi schon 4 ½ Jahre alt. Je grösser sie wird, je mehr Freude macht sie uns. Regula ist wirklich ein lustiges, liebes, intelligentes Kind und für nichts in der Welt würden wir sie wieder hergeben. Anbei sende ich Ihnen ein Bildchen, wo Regula Schlittschuh läuft. Für diesen Sport hat sie einen eisernen Willen und bis sie jeweils vom Schlittschuhplatz wegkam, brauchte es immer etwas. Auch mit Skifahren geht’s schon ganz ordentlich und dieses Jahr in Mürren hat sie sich prächtig erholt und amüsiert. Es ist nur schade, dass Sie nie in das Tessin kommen, ich würde Ihnen Regula so gerne zeigen. Sie hat sofort mit allen Leuten schnell Freundschaft und alle haben sie gerne. In den Kindergarten geht sie immer fleissig und sie spricht jetzt Deutsch und Italienisch sehr gut. Auch diesen Sommer werden wir die meiste Zeit in Maloja verbringen. Ich kann nun auch besser profitieren, denn meine Büroarbeit habe ich ganz aufgegeben. Nun, ich hoffe trotzdem, dass Sie bald unsere Tochter persönlich kennen lernen und wünsche Ihnen indessen alles Gute. Liebe Grüsse sendet Ihnen Ihre H. Giacometti“.

All die Briefe, die meine Mami geschrieben hat, sind so berührend und hinterlassen mir jetzt im Erwachsenenalter ein sehr gutes Gefühl. Es ging mir wirklich gut bei den Giacomettis, meine Eltern hatten offenbar viel Freude an mir. Sie haben mir so viel geboten, wie zu jener Zeit sicher nicht jedes Kind erleben durfte. Für all dies bin ich meiner Mami und meinem Papi unendlich dankbar.

Kindheit

Im Tessin war es üblich – und es ist auch heute noch so –, dass man bereits im Alter von drei Jahren in den Kindergarten eintritt. Der Kindergarten war schon damals so gestaltet, dass die Kinder den ganzen Tag dort verbrachten: von 9 Uhr morgens bis 16 Uhr nachmittags. Alle Kinder aßen zusammen zu Mittag und machten dann im selben Raum ein Mittagsschläfchen. Der Kindergarten war eingerichtet für einen ganz normalen Tagesablauf. Es hatte einen großen Essensraum sowie Toiletten mit Waschbecken, wo man sich nach dem Essen die Zähne reinigen konnte. Die älteren Kinder halfen den jüngeren Kindern. Währenddessen räumten die Küchengehilfinnen die Tische beiseite und stellten kleine Bettchen (brandine) auf. Jedes Kind besaß einen eigenen Bettüberzug, der mit seinem eigenen Logo bestickt war. Vor dem Eintritt in den Kindergarten erhielt jedes Kind ein Symbol zugeteilt. Bei mir war es die Kastanie. Die Mütter mussten dann schließlich dieses Symbol auf den Kindergartenschurz, auf das Frottiertüchlein, auf das Turnsäckli und auf dem Bettüberzug sticken. So konnte jedes Kind auch sein Bettchen für den Mittagschlaf sowie die anderen Utensilien immer wiedererkennen und finden. Vor dem Schlafengehen erzählte die Kindergärtnerin eine Geschichte, bis alle still waren.

Ich weiß, ich bin sehr gerne in den Kindergarten gegangen und ich mochte meine Kindergartenlehrerin. Sie hieß „Signorina Pia“ (Fräulein Pia), so mussten wir sie nennen. Die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit, ich gehörte zu ihren Lieblingen. Als ich sie Jahre später zufällig in Lugano wiedergetroffen habe, war sie bereits schon längere Zeit pensioniert. Sie sagte zu mir: „Weißt du, in den über 40 Jahren, in denen ich am Kindergarten unterrichtet habe, habe ich hunderte von Kindern betreut. Aber nur ein paar wenige sind mir wirklich ganz gut in Erinnerung geblieben und eines davon bist DU.“

Ja, ich liebte meine Kindergartenlehrerin. Ich machte alles für sie. Vielleicht wusste sie von meinem schwierigen Start ins Leben und wollte mir deswegen eine besondere Aufmerksamkeit geben. Ich fühlte mich jedenfalls immer sehr wohl bei ihr.

Im Nachhinein betrachtet war es für mich ein Segen, schon mit drei Jahren den Kindergarten besuchen zu können, denn ich war den ganzen Tag weg von meiner eher ungeduldigen, kalten und gefühlslosen Mami.

Nach drei Jahren hieß es dann Abschied nehmen von der Kindergartenzeit, denn die Schule stand auf dem Programm. Im Tessin erfolgte die Einschulung bereits im Alter von sechs Jahren. Ich war traurig, meine Signorina Pia verabschieden zu müssen, aber ich war reif für den Schulunterricht.

Zu all dem Wechsel gab es in diesem Jahr auch noch eine große familiäre Veränderung: Meine Mami wurde schwanger. Am 1. Juli 1964 war es dann so weit, meine Adoptiveltern wurden Eltern eines Sohnes und ich bekam somit einen Bruder – Reto. Meine Großeltern kamen aus Bern angereist, um ihr Enkelkind zu bewundern, und nahmen mich dann mit nach Bern, damit ich ein paar Wochen Ferien bei ihnen verbringen konnte, während sich meine Mami im Spital von der schweren Geburt erholen konnte. Ich hatte gerade drei Monate Schul-Sommerferien und meine Eltern waren froh, dass ich ein wenig Abwechslung genießen konnte.

Ich war gern bei meinen Großeltern. Meine Großmutter war eine ganz liebenswürdige und fröhliche Person. Ich mochte ihre Art sehr. Mein Großvater war sehr autoritär. Da ich an Gehorsam gewohnt und ein sehr folgsames Kind war, kam ich aber nie in Konflikt mit ihm. Sie unternahmen viel mit mir, besuchten mit mir den Bärengraben, den Tierpark, das „Marzilibad“ an der Aare in Bern, und wir unternahmen diverse Ausflüge. Das gefiel mir sehr.

Eines Tages, nachdem wir einen schönen Ausflug mit Mittagessen auf den Gurten gemacht hatten, wurde mir plötzlich übel und ich musste mich heftig übergeben und bekam starke Bauchschmerzen. Nachdem sich am Tag danach mein Zustand zunehmend verschlimmerte, ließen meine Großeltern einen Arzt kommen. Ich hatte in der Zwischenzeit einen geschwollenen Bauch und die Bauchdecke fühlte sich hart an. Das beunruhigte den Arzt. Er wollte noch eine Nacht abwarten und ich durfte absolut nichts essen und nur ein wenig Salzwasser zu mir nehmen. Ich erinnere mich, wie ich nachts, als meine Großeltern schliefen, ins Bad schlich und Wasser aus dem Hahn trank. Ich hatte so immensen Durst – ein solch starkes Durstgefühl hatte ich nie mehr in meinem Leben!

Am nächsten Tag hatte sich mein Gesundheitszustand dermaßen verschlechtert, dass mich der Arzt sofort ins Inselspital einweisen ließ. Er hatte bereits den Verdacht auf einen Darmverschluss, was dann von den Spitalärzten auch bestätigt wurde. Es musste sofort operiert werden, dafür brauchte man aber noch die Einwilligung meiner Eltern. Die Ärzte riefen sie in Lugano an und erklärten die notfallmäßige Situation. Es war ein Schock für beide.

Die Operation dauerte ca. 6 Stunden, es war ein sehr schwieriger Eingriff. Da ich nach der Operation nichts essen durfte, wurde ich künstlich durch einen Schlauch im Arm ernährt. Sobald der Darm wieder seine normale Funktion aufnehmen würde, hätte ich wieder zur normalen Kost übergehen dürfen. Dies sollte eigentlich ein paar Tage nach der Operation erfolgen. Aber mein Darm streikte. Es vergingen Wochen, und die Ärzte wollten mich ein zweites Mal operieren, weil die Situation sehr kritisch war. Zum großen Glück hat drei Wochen nach dem Eingriff mein Darm seinen Streik aufgegeben und ich konnte langsam Schonkost zu mir nehmen. Ich war extrem abgemagert und schwach. Meine Eltern waren in der Zwischenzeit mit meinem kleinen Bruder von Lugano angereist und bangten um mein Leben. Der Hausarzt hatte ihnen gesagt, dass ein solch großer Eingriff in Lugano nicht hätte durchgeführt werden können, die Ärzte waren dazumal noch nicht so weit ausgebildet. Ich wäre vermutlich daran gestorben, wäre ich im Tessin bei meinen Eltern gewesen. Ich hatte also riesiges Glück, dass ich gerade in Bern war, wo es eine Universitätsklinik gab und die Ärzte einen solchen Darmverschluss behandeln konnten. Ich erinnere mich noch gut, wie sie mich in einem Rollstuhl in einen mit angehenden Ärzten vollgefüllten Audienzsaal brachten. Sie diskutierten gerade meinen Fall durch und ich wurde ihnen als Parade-Beispiel für eine Operation mit Komplikationen vorgeführt.

Ich hatte also gerade mein zweites Leben geschenkt bekommen. Heute ist mir klar, wenn ich die Sache analysiere, dass dieser Darmverschluss wahrscheinlich durch eine erneute große Verlustangst ausgelöst worden ist. Klar, zu jener Zeit wussten weder ich noch meine Eltern, dass dies im Zusammenhang mit der Geburt meines Bruders und meiner „Abschiebung“ zu den Großeltern nach Bern stehen könnte. Auch die behandelnden Ärzte haben diesen Zusammenhang nie im Kontext zu meinen Verlustängsten erwähnt. Der leibliche Sohn meiner Eltern war geboren. Und was war mit mir? Musste ich um meinen Platz bangen? Würde ich nicht mehr so viel Aufmerksamkeit erhalten? Oder würden sie mich vielleicht sogar wieder weggeben? Es ist schier unglaublich, welche Wege die menschliche Seele ausfindig macht, um zu überleben, und welchen Einfluss die Psyche auf den Körper ausüben kann. Heute ist mir zum Glück bewusst, wie sehr das Unterbewusstsein meinen Körper beeinflussen kann, weshalb ich auch viel mental trainiere.

Ende August wurde ich nach einem sechswöchigen Spitalaufenthalt wieder entlassen. Mein Großvater musste mich auf den Armen aus dem Spital tragen. Ich wog nur noch 12 Kilo und hatte keine Kraft mehr, selbstständig zu gehen.

Zwei Wochen später, Mitte September, hätte ich in die Schule eintreten sollen. Da ich noch so schwach war, empfahl der Hausarzt, dass ich vorerst noch eine Weile zu Hause bleiben und danach ein weiteres Jahr Kindergarten anhängen sollte. Ich erholte mich langsam und freute mich auf die vertraute Umgebung des Kindergartens. Es war ein besonderes Jahr. Ich war die Älteste und konnte meiner geliebten Kindergärtnerin zur Seite stehen und ihr dabei helfen, die Kleineren zu betreuen. Ich war sozusagen ihre Assistentin. Das genoss ich sehr, und ich glaube, es tat mir unheimlich gut, denn ich hatte bei ihr einen besonderen Platz eingenommen.

Dieses Jahr verging im Nu. Mit 7 Jahren wurde ich dann eingeschult. Ich besuchte die Schule sehr gern. Meine Lehrerin war bekannt als die strengste im Schulhaus. Doch Probleme hatte ich nie mit ihr. Ich lernte fleißig und war eine der besten Schülerinnen. Das gab mir viel Selbstvertrauen und stärkte auch mein Vertrauen ins Leben. Ich hatte mich auch an die Anwesenheit meines kleinen Bruders gewöhnt und alles verlief rund.

Als ich etwa 7 ½ Jahre alt war, verfasste meine Mami den wohl letzten Brief für die Adoptionsvermittlungsstelle und berichtete:

„Liebes Fräulein, Sie werden sicher erstaunt sein, ein Lebenzeichen aus Lugano zu erhalten. Man sagt zwar: Keine Nachrichten, gute Nachrichten. So ist es auch bei uns und unsere beiden Kinder entwickeln sich prächtig. Regula geht seit 6 ½ Monaten zur Schule und hat glücklicherweise gar keine Schwierigkeiten, obschon sie hier mit einem wahnsinnigen Tempo vorwärtsgehen. Sie ist immer noch ein braves, liebes Kind und wir haben unglaublich Freude an ihr. Momentan weilt sie für 2 Wochen in Bern bei ihrem Grosi. Unser Reto ist ein herziger Schatz, jedoch ein ganz grosser Schlingel. Ich kann ehrlich sagen, dass Regula uns nie so grosse Mühe machte wie er. Wenn er nicht schläft, dann stellt er irgendetwas an. Man muss ständig hinter ihm her sein und kann ihn nie aus den Augen verlieren. Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute und grüsse Sie freundlich. H. Giacometti“.

Meine Freizeit verbrachte ich mit vielen Freundinnen aus der Schule und Nachbarschaft, mit denen ich zum Teil jahrelang in Kontakt blieb. Wir spielten viel im Freien; Gummitwist oder Springseil und kurvten auch die Straße runter mit allerlei Vehikeln, da es zu jener Zeit noch fast keine Autos auf der Straße gab. Ich habe einen Tretroller geschenkt bekommen, hätte aber lieber ein Fahrrad gehabt. Aber unter uns Kindern haben wir dann öfter unsere Vehikel ausgetauscht und ich konnte des Öfteren auch Rad fahren.

In der Primarschule verlief alles bestens, obwohl ich viermal einen Lehrerwechsel hatte. Ich wurde aber immer von allen gemocht, war für mich das Wichtigste war. Wiederum schaffte ich es, der Liebling von meinem Turnlehrer und von meinem Musiklehrer zu sein. Ich weiß nicht, wie ich das immer anstellte. Es kam so weit, dass mich mein Musiklehrer unbedingt bei der Schulabschlussfeier ein Solo singen lassen wollte. Es war mir so peinlich, denn ich war der Meinung, dass ich nicht so gut singen konnte. Meine Mami behauptete sogar, dass ich falsch sang. Aber wie gesagt: Es tat mir unheimlich gut, so geschätzt zu werden. Es war Balsam für meine Seele.

Ich hatte erfahren, dass ich mit meinem Fleiß viel Akzeptanz erntete. Das spornte mich weiter an. Ich wollte dann instinktiv immer die Beste und der Liebling von allen sein. Was mich dazu trieb, war mir als Kind absolut unbewusst, aber heute ist mir alles klar, wenn ich Folgendes bei Dr. Bonus lese:

„Jeder Fehler, den es macht, und schlimmer, jeder seiner Fehler, den ein anderer bemerkt, weist das Kind nicht auf diesen betreffenden Fehler hin, sondern erinnert es sofort daran, dass es selbst ein Fehler in dieser Welt ist. Das bedeutet, mit den Augen des Kindes gesehen, dass es versucht, keinen Fehler mehr zu machen.“ (Bonus, 2008)

Es verlief alles gut, ich ging meinen Weg und wurde immer unabhängiger. In der Zwischenzeit hatte sich mein Bruder als ein sehr schwieriges Kind entpuppt und bündelte die volle Aufmerksamkeit meiner Eltern, die ich zwischenzeitlich nicht mehr so benötigte. Ich konnte mich in der Schule entfalten und verwirklichen, was mir eigentlich genügte. Zudem wurde ich immer als die brave und folgsame Tochter wahrgenommen, während Reto der böse Sohn war. Eigentlich habe ich es geschafft, auch in der Familie der Liebling zu sein, währenddessen der leibliche Sohn jeweils hintanstehen musste: Was wollte ich noch mehr?

Dann kam die Zeit, als sich die Übertrittsfrage bezüglich der oberen Schulstufe stellte. Mein Lehrer war klar der Meinung, dass ich unbedingt das Gymnasium besuchen sollte, da ich das Potenzial hätte, später einmal ein Studium anzugehen. So begann ich im Alter von 12 Jahren die erste Klasse des Gymnasiums, Abteilung Literarisch, da ich zusätzlich noch Latein belegte. Meine Begeisterung für das Lernen war immer noch vorhanden, aber die Anforderungen wurden immer größer und ich musste mir langsam überlegen, welches Ziel ich erreichen wollte. Was wollte ich später studieren?

Mein größter Wunsch war es damals, Tierärztin zu werden. Dies bedeutete aber, dass noch ein langer Weg vor mir lag und ich noch jahrelang studieren müsste. Langsam kamen Zweifel auf. Wollte ich wirklich so lange über den Büchern brüten? Wollte ich nicht schon früher unabhängig sein und meinen Weg gehen können?

Mein Papi wollte unbedingt, dass ich einmal studieren sollte. Er unterstützte mich auch sehr bei den Schulaufgaben und ermutigte mich immer wieder. Trotzdem, es wurde mir auf einmal zu viel. Aber was wollte ich werden bzw. erlernen? Ich wusste es nicht. Vielleicht sollte ich einen Beruf wählen, bei dem ich meine Sprachbegabung einsetzen konnte? Da kam mir ein Infoabend der Swissair gerade gelegen, bei dem der Beruf der Flugbegleiterin vorgestellt werden sollte. Voller Begeisterung besuchte ich den Vortrag, musste aber leider ernüchtert feststellen, dass die Hauptaufgabe der Stewardess darin bestand, den Passagieren auf dem Flug Essen und Getränke zu servieren und ihre Wünsche von den Lippen abzulesen. Nein, das war nicht das, was ich machen wollte. So stand ich da und ich wusste nicht weiter.

Da es nun klar war, dass ich nicht studieren wollte, begann ich mit 15 Jahren auf Empfehlung meiner Mami eine Handelsschule. Obwohl ich immer betont hatte, dass ich nie in einem Büro arbeiten möchte, ließ ich mich von ihr überreden. Es handelte sich um eine private Handelsschule mit sehr gutem Ruf und der damaligen Gewissheit, dass für alle diejenigen, die die Prüfungen bestanden, eine Stelle in einer Bank zugesichert sei.

Die Abschlussprüfungen habe ich schließlich mit dem Prädikat „sehr gut“ bestanden, sah mich jedoch nicht als Bankangestellte. Wie für viele Jugendliche, war auch für mich die Zeit der Berufswahl eine schwierige Zeit. Man weiß nicht, in welche Richtung man gehen soll, ob man dann auch die richtige Entscheidung trifft. Schließlich kennt man in diesem Alter die Zukunft noch nicht und weiß somit nicht, wofür man sich entscheiden soll. Zudem gab es in den Siebzigerjahren noch keine staatliche Berufsberatung, man war vollends auf sich selbst gestellt. Ich war nun 17 Jahre alt und stand an einem Wendepunkt in meinem Leben.

Die Pubertät:
Eine große Identitätskrise

Der Weg von der Kindheit in die Welt der Erwachsenen war für mich eine ziemlich schlimme Zeit. Die Pubertät manifestierte sich bei mir aufs Heftigste.

Niemand konnte mir eine Erklärung geben, was mit mir gerade passierte.

Ich war nun 17 Jahre alt und wusste immer noch nicht, in welche Richtung es beruflich gehen sollte. Daher drängte mich meine Mami, ich solle doch ein Welschlandjahr einschalten, das sei ihr damals auch gut bekommen. Durch den Aufenthalt in der französischsprachigen Schweiz könnte ich doch meine Sprachkenntnisse aufpolieren und wüsste vielleicht dann, welcher berufliche Weg der Richtige für mich wäre. So entschied ich mich, für ein Jahr nach Genf zu gehen. Ich konnte bei der Familie meiner Patin wohnen und im Haushalt mithelfen. Ganz begeistert war ich von dieser Idee nicht, musste ich mich doch von all meinen Freunden und Freundinnen für ein Jahr verabschieden. Wir hatten immer einen guten Zusammenhang, waren eine tolle Clique. Bei der Familie meiner Patin fühlte ich mich nicht richtig wohl. Sie war mit einem Amerikaner verheiratet, mit dem sie 5 Kinder hatte. Die Familie wohnte in einer riesigen Villa am Stadtrand von Genf und es wurde Französisch und Englisch gesprochen. Ich lernte, den Haushalt zu machen und auch meine Sprachkenntnisse konnte ich aufbessern. Aber meine Seele litt. Ich vermisste meinen lieben Papi und meine Freundschaften. Und so kam es, wie es kommen musste: Ich wurde immer unglücklicher, getraute dies aber nicht, meiner Mami mittzuteilen. Mein Papi kam mich einmal heimlich besuchen, als die Gastfamilie sich in Gstaad aufhielt und ich ganz allein in der Villa logierte. Ich genoss seine Anwesenheit. Er merkte, dass ich mich dort nicht wohl fühlte, meinte aber, dass ein Jahr ja schnell vorüber sei und ich dann wieder nach Lugano zurückkehren könne.

Noch bevor es so weit war, fiel ich in ein tiefes Loch. Ich wusste weder ein noch aus. So lief ich in einer Nacht davon. Ich wollte nur noch weg, denn ich fühlte mich dort viel zu einsam. Mein Ziel war es, zu meinem Papi nach Kilchberg zu fahren. Es war nämlich so, dass Lindt & Sprüngli kurz zuvor die Filiale in Lugano geschlossen hatte, ihm aber dafür eine Stelle in der deutschen Schweiz angeboten wurde. Mein Papi stand kurz vor der Pensionierung und er war genötigt, dieses Angebot anzunehmen. Auch er war nicht glücklich, die Wochen hindurch in Kilchberg zu wohnen und nur am Wochenende bei seiner Familie in Lugano sein zu können.

So war ich also mitten in der Nacht abgehauen. Am Bahnhof Genf angekommen, musste ich mich vorerst gedulden, bis der erste Zug am Morgen in Richtung Zürich fuhr. In Kilchberg angekommen, bin ich in die Arme meines Papis gerannt. Er war sehr erleichtert, als er mich sah. Es war mir nicht bewusst, welchen Schrecken ich meinen Eltern eingejagt hatte. Sie hatten sofort Alarm geschlagen, als mein Fehlen bemerkt wurde. Ob sie auch die Polizei involviert haben, weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich war glücklich, bei meinem allerliebsten Papi zu sein. Heute bin ich mir sicher, dass ich einfach noch zu jung war, um für ein Jahr von zu Hause wegzugehen. Und vielleicht haben auch die Trennungstraumata aus der Kindheit eine Rolle gespielt.

Ich blieb für ein paar Tage bei meinem Papi. Die Zeit, die ich mit ihm verbringen konnte, gehört für mich rückblickend zu einer der schönsten in meinem Leben. Mein Papi belegte während der Arbeitswoche nur ein kleines Zimmer. Ich schlief auf einer Notmatratze auf dem Boden neben seinem Bett. Ich erinnere mich gut, wie er mir immer die Hand hielt, bis ich einschlief. In diesen Tagen hatte ich meinen Papi ganz für mich alleine. Seine Liebenswürdigkeit erwärmte meine Seele.

Meine Mami wollte jedoch, dass ich so schnell wie möglich nach Lugano zurückkehre. Ich wäre am liebsten noch Wochen und Monate bei meinem Papi geblieben. Aber sie setzte sich wie immer durch und so musste ich wohl oder übel nach Lugano zurück und mir wieder Gedanken machen, wie es mit mir weitergehen sollte. Meine Mami war mit der Situation überfordert. Die stets liebe und folgsame Tochter ist einfach weggelaufen, das passte nicht in ihr Schema. Sie empfahl mir, einen Psychologen aufzusuchen. Es gab dazumal einen Schulpsychologen, der im Tessin sehr renommiert war. Er hielt Vorträge in den Schulen und an verschiedenen Orten im ganzen Kanton und wurde von allen Eltern bewundert und verehrt.

Zuerst lehnte ich ab. Doch ich fühlte mich nicht wohl, denn ich befand mich mitten in einer tiefen Identitätskrise. Ich fühlte mich desorientiert, mir fehlte eine Perspektive. Solche Empfindungen sind eigentlich völlig normal in der Pubertät. Vielleicht konnte mir dieser Psychologe doch Hilfe bieten? Er war schließlich auf Jugendliche spezialisiert. So vereinbarte meine Mami einen Termin mit ihm. Ich war nervös, weil ich noch nie bei einem Psychologen war, hoffte aber, dass er vielleicht doch meine Nöte erkennen und mir helfen könnte. Er erklärte mir, dass für junge Menschen die Pubertät eine sehr schwierige Zeit sei und dass in dieser Zeit vieles aus dem Gleichgewicht gerate. Ich erinnere mich jedoch nur, dass er das ganze Problem der Pubertät auf ein sexuelles Problem reduzierte. Er sprach die ganze Zeit nur über Sex und ich fühlte mich irgendwie nicht ganz wohl bei ihm. Wenn er mich nur schon anschaute, sei er erregt, sagte er plötzlich zu mir. Ich sollte beschreiben, wie groß sein erigierter Penis sei. Mir war es überpeinlich! Er erklärte auch, dass ich ihn bei seinen Vorträgen begleiten und wir dann anschließend miteinander schöne Momente erleben könnten. Ich ging mit einem seltsamen Gefühl nach Hause, erwähnte aber meinen Eltern gegenüber keine Details des Gespräches.

Beim zweiten Termin hat dieser Psychologe dann gesagt, er möchte mich spüren lassen, wie sehr ich ihn errege. Er geilte sich mit seinen Erzählungen selber auf. Mich ekelte es nur noch. Dann stand er auf. Hinter der Tür drückte er mich mit seiner geballten Männlichkeit ganz fest an sich, küsste mich so heftig, dass ich fast keine Luft mehr kriegte und schier ohnmächtig wurde. Ich wurde kreideweiß. Er erschrak und entschuldigte sich, brachte mir ein Glas Wasser und ließ mich zur Erholung auf der Couch liegen. Er bat mich, niemandem von diesem Vorfall zu erzählen. Niemand würde das verstehen, er wolle mir nur helfen. Obendrein machte er mit mir einen dritten Termin ab, aber innerlich hatte ich mir schon geschworen, nie mehr zu diesem Schwein in die Sprechstunde zu gehen.

Natürlich erzählte ich meiner Mami nichts über diesen Vorfall. Sie fragte dennoch, weshalb ich denn die Sitzungen abbrechen wolle. Wahrscheinlich schöpfte sie einen gewissen Verdacht. Ich antwortete, dass ich diese Therapie nicht mehr brauche, ich komme alleine zurecht. Darauf erzählte sie mir, dass in der Stadt Gerüchte herumgehen, dass dieser Psychologe schon mit mehreren jugendlichen Frauen sexuellen Kontakt gehabt hätte. Sie fragte mich, ob etwas in diese Richtung vorgefallen sei. Ich verneinte, weil ich wusste, dass meine Mami das ganz sicher geklärt haben wollte. Sie hätte ihn mit Sicherheit angerufen, hätte ihm die Leviten gelesen und ihn sogleich auch noch bei der Polizei angezeigt. In solchen Angelegenheiten war sie extrem konsequent. Aber ich wollte das ganze Theater nicht. Ich verstand einfach nicht, weshalb er mir das angetan hat, scheute aber zugleich den Konflikt. Wenn ich das jetzt so schreibe, sehe ich alles noch genau vor mir und weiß noch detailgetreu, was in dieser Praxis abgelaufen ist. Es ist unglaublich, wie präsent das noch immer ist, nach all den Jahren! Wenn ich die Augen schließe und mich in die Situation von damals hineinversetze, habe ich sogar seinen Geruch in der Nase. Solche Momente sind mit derart starken Emotionen verbunden, dass man sie nie vergisst! Erst jetzt realisiere ich, dass es sich damals um einen sexuellen Übergriff gehandelt hatte. Er, als Schul- und Jugendpsychologe, Professor nannten sie ihn, vom Staat bezahlt, hatte die Grenze eindeutig überschritten. Dieser Mann hat die Notsituation und die Abhängigkeit schamlos ausgenutzt. Mir war klar, dass ich nie mehr zu seinen Sprechstunden gehen wollte. Das sagte ich meiner Mami mit Bestimmtheit.

Es ist eine Schande, was damals vorgefallen ist. Als studierter Akademiker und Psychologe musste er wissen, dass gerade bei Adoptierten die Pubertät sehr heftig ausfallen kann. Er hätte mir das erklären müssen. Er hätte mir erklären können, dass ich mich in niemandem spiegeln kann und dadurch die Identitätsfindung besonders kompliziert sei. Ich musste erst erwachsen werden, um das alles selbst herauszufinden.

Gerade in letzter Zeit sind verschiedene Berichte und Bücher publiziert worden, in denen Erwachsene über sexuellen Missbrauch berichten, den sie im jugendlichen Alter erlebt und immer für sich behalten und verschwiegen haben. Jürg Jegge, ein renommierter Schweizer Pädagoge (öffentlich bekannt wurde sein Fall durch das Buch „Jürg Jegges dunkle Seite – Die Übergriffe des Musterpädagogen“, von Markus Zangger), der mehrere Kinder missbraucht hatte, versuchte sich kürzlich zu entschuldigen, mit der unglaublichen Rechtfertigung, dass dies der Zeitgeist von damals gewesen sei. Als wenn das, was dieser Mann und viele andere Vertrauenspersonen Heranwachsenden angetan haben, durch irgendetwas entschuldbar wäre!

Also stand ich weiterhin allein da mit meinen Ängsten und Sorgen, und konnte meine Gemütsverfassung nicht richtig fassen und nachvollziehen. Es kam mir vor, als wenn man krank ist und der Arzt keine Diagnose stellen kann. Es tut überall weh, man fühlt sich nicht wohl, aber man weiß nicht, was man hat.

Heute bin ich stolz, dass ich mich aus dieser Situation selber lösen konnte und dieser Mann mir keinen weiteren Schaden zufügen würde. Immer wieder, auch Jahre später, kamen mir diese Sitzungen in den Sinn. Und wenn ich in der Nähe dieses Gebäude war, hatte ich immer den Drang, es spontan zu betreten und diesem Psychologen meine Meinung zu sagen. Aber ich machte es nie. Ich befreie mich davon, indem ich es jetzt in diesem Buch niederschreibe, und es soll dann für immer versiegelt sein.

Tasuta katkend on lõppenud.