Loe raamatut: «Hannah von Bredow»

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Reiner Möckelmann

Hannah von Bredow

Bismarcks furchtlose Enkelin gegen Hitler


Impressum

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Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

© 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Umschlaggestaltung: Harald Braun, Berlin

Umschlagabbildung: Leopold Bill v. Bredow/myheritage

Redaktion: Helga Gläser, Berlin

Satz: Melanie Jungels, scancomp GmbH, Wiesbaden

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3662-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-3743-6

eBook (epub): 978-3-8062-3744-3

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Inhalt

Prolog

Kindheit und Jugend in goldenen Zeiten

Ehe in Zeiten des Umbruchs

Der Seelenverwandte Sydney Jessen

Femina Politica

Die Nationalsozialisten früh im Blick

Im Visier der braunen Machthaber

Der Terrorstaat im Werden

Deutsche Frau und Mutter im „Dritten Reich“

Außenseiterin der Familie

Das Leben in der „falschen“ Gesellschaft

In der Wertegemeinschaft ‚Bekennende Kirche‘

Unter politisch Gleichgesinnten im Solf-Kreis

Im Umfeld der Attentäter des 20. Juli 1944

Sonderbehandlung einer Dissidentin

Der vierte Lebensabschnitt

Epilog

Gedanken über das Phänomen Angst – Hannah von Bredow, Basel, 26. Januar 1949

Stammbaum

Chronik

Anmerkungen

Bildnachweis

Literatur

Personenverzeichnis

Prolog

Am Abend des 31. Januar 1933, nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, notierte Hannah von Bredow in ihrem Tagebuch: „Die Welt ist aus den Fugen, und wir können nur abwarten, bis uns das Genick umgedreht wird. Schauerlich. Die Menschen sind alle toll.“ Zwei Monate später, am 30. März 1933, kommentiert sie nach einem Treffen mit Hitler, welches ihr Bruder arrangiert hatte: „Das Ekel Hitler […] Er ist ein Wahnsinniger.“ Wer war diese Frau, die mit derart deutlichen Worten gegen Hitlers Terrorregime kämpfte, unbeirrt? Die enge Kontakte zu hochkarätigen Politikern hatte und gleichzeitig zu Planern eines Hitler-Umsturzes? Die von der Gestapo überwacht wurde und doch immer wieder ihrer Verhaftung entging?

Es war im Frühsommer 1967, als die 74-jährige Hannah von Bredow ihrem jüngsten Sohn Leopold Bill aus ihrem Refugium im schweizerischen Les Diablerets ihr Leben schilderte, in der Form eines abenteuerlichen Parforceritts, unauflösbar verwoben mit der unseligen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts:

„‚Dies ater‘ – Unglückstag! 1914 war ich in Kiel als gefeierte ‚Täuferin‘ des H.A.P.A.G.-Schiffes ‚Bismarck‘, das nie auslief, sondern vom Dock ab den Engländern 1918 ausgehändigt und ‚Majestic‘ genannt wurde. Ein Admiral von Coerper sollte ein großes Gartenfest nach der letzten Regatta geben, für den Abend war der Ball im Palais Prinz Heinrich angesetzt, und um 16 Uhr kam statt all dieser geplanten Festlichkeiten die Nachricht vom Mord in Sarajewo. Und damit hörte der erste Teil meines Lebens auf; jäh und unvermittelt, wie mit einem Paukenschlag.“

Hannah von Bredow war am 22. November 1893 als Hannah Leopoldine Alice Gräfin von Bismarck-Schönhausen geboren worden, als älteste Tochter von Otto Fürst von Bismarcks Sohn Herbert und dessen Frau Marguerite, geb. Gräfin von Hoyos Freiin zu Stichsenstein.

Im Rückblick erzählt sie weiter: „Der zweite Teil begann mit meiner Hochzeit im Kriege und dauerte bis zur Hitlerei 1933 gleich nach Deiner Geburt. Damals war ich 39 Jahre alt, nur fünf Jahre älter als Du jetzt bist. Nach Papas Tod begann dann der dritte Teil, der in sausender Fahrt zum Abgrund für uns alle ging und dem für mich kein vierter Teil folgen wird.“

Für die älteste Enkelin Otto Fürst von Bismarcks, des Gründers und langjährigen Kanzlers des Deutschen Reichs, folgte bis zu ihrem Tod im Juni 1971 durchaus ein vierter Teil ihres Lebens, der allerdings weit unspektakulärer als die vorherigen drei war, besonders als derjenige in „der Hitlerei“.

Nur knapp einen Monat nachdem sie dem Sohn ihre Lebensphasen so skizziert hatte, vertraute Hannah von Bredow ihm im Juli 1967 an, dass sie ihre „vielerei Schreiberei“ sichten und ordnen wolle, da diese „für die Nachkommen informatorisch interessant sein“ könne. Hannah von Bredows unzählige, in gestochener Handschrift nahezu täglich an die engere und weitere Familie, an Freunde wie Bekannte verfassten Briefe sowie ihre seit dem frühen Jugendalter akribisch geführten Tagebücher füllen Regale; Gedichte und Essays kommen hinzu.

Präzise wiedergegebene Inhalte und weitsichtige Erkenntnisse aus Gesprächen, welche die Bismarck-Enkelin mit Prominenten der deutschen Gesellschaft der 1920er- und 1930er-Jahre führte, sollten nach ihren Vorstellungen nur das Interesse ihrer Nachkommen, also einer engeren Erinnerungsgemeinschaft, wecken. Tatsächlich aber kann der schriftliche Nachlass dieser scharfsinnigen politischen Denkerin Hannah von Bredow, die über exzellente Kontakte zu maßgeblichen Politikern der Weimarer Republik wie zu unterschiedlichen Gesellschaftskreisen im „Dritten Reich“ verfügte, der Nachwelt hoch interessante Einsichten in ein durch radikale Umbrüche und zwei Weltkriege geprägtes Jahrhundert bieten. Einsicht erhält die Nachwelt darüber hinaus in die konsequente Gegnerschaft einer mutigen und kämpferischen Frau zum Willkür- und Terrorregime des NS-Staates.

Tragende Säule ihres schriftlichen Gedankenaustausches war für Hannah von Bredow ihre Korrespondenz mit Sydney Jessen. Den Marineoffizier und promovierten Ökonomen hatte sie im Jahre 1924 als Privatsekretär ihres Bruders, des jungen Reichstagsabgeordneten Otto Christian Archibald Fürst von Bismarck, kennengelernt. Der Briefaustausch begann Anfang des Jahres 1925 und währte 40 Jahre bis zum Tod Jessens im Juni 1965. Ihr Briefpartner erhielt in unterschiedlichen Abständen und verschiedenem Umfang mehr als 2.000 Briefe von Hannah von Bredow, stets beginnend mit „Lieber Herr Jessen“. Mehrmals die Woche schrieb Hannah von Bredow bis zu 30 Briefseiten an Jessen; fast täglich auch in den Kriegsjahren, als er im Oberkommando der Marine in Berlin wirkte und für die Wochenenden ein Zimmer in ihrem Haus in Potsdam bewohnte.

Nahezu tägliche, wenn auch meist wesentlich kürzere Briefe schrieb Hannah von Bredow zudem bis zum Tod ihrer Mutter im Herbst 1945 nach Friedrichsruh; sie sind im dortigen Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung verwahrt. Einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Hinterlassenschaft bilden schließlich Briefe an ihren jüngsten Bruder Albrecht Edzard Heinrich Karl Graf von Bismarck-Schönhausen und an Helene Burckhardt-Schatzmann, die Mutter des Schweizer Historikers und Diplomaten Carl Jacob Burckhardt, durch den Hannah diese kennengelernt hatte.

Als überzeugtes Mitglied der vom NS-Regime verfolgten Bekennenden Kirche, als regelmäßige Teilnehmerin am regimekritischen Solf-Kreis, befreundet mit Angehörigen der Kriegsgegner und mit am Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 Beteiligten sowie als Helferin von Verfolgten war Hannah von Bredow seit Hitlers Machtübernahme nicht nur eine Kritikerin, sondern eine unbeirrte Opponentin des NS-Staates: Mit Recht darf man sie zum aktiven Kreis des Widerstands zählen.

Hannah von Bredow zeichneten geistige Unabhängigkeit, Lebensklugheit und Mut aus. Sie flüchtete nicht aus der Wirklichkeit. Unbeugsam, unkonventionell und allen Schicksalsschlägen zum Trotz verfolgte sie fühlend, beobachtend, urteilend und kämpfend ihren Weg. Ihre unbedingte Sorge für andere erstreckte sich auf einen tätigen Einsatz für durch das Regime Gefährdete und Verfolgte. In den dunklen NS-Jahren war sie weder ein Opfer, noch opferte sie sich auf – für beides war sie zu stark. Ihre nach einem aufreibenden Tagesablauf in nächtlicher Stunde geschriebenen Briefe verfasste sie nicht aus Lust an der puren Beschreibung oder der treffsicheren Benennung von Details, sondern zur Selbstvergewisserung, zur Reflexion und zur Erinnerung.

Besonders ihre Briefe an den Vertrauten Sydney Jessen verschafften Hannah von Bredow Halt, um die Kraft zurückzugewinnen, welche ihr der nationalsozialistische Terror und die Sorge um die Familie raubten. Bereits zu Beginn des NS-Regimes lastete nach dem Tod ihres Mannes Leopold von Bredow im Oktober 1933 die alleinige Verantwortung für die Erziehung der acht Kinder auf ihr. Jessen war ihr guter Geist, dem sie sich ohne Ängste und Vorbehalte anvertrauen konnte, der ihre Gedanken wie kein anderer verstand und der ihr beruhigend und stabilisierend ermöglichte, die Terrorjahre des „Dritten Reichs“ weitgehend unbeschadet zu überleben.

In ihrem zurückgezogenen Leben nach Ende der NS-Diktatur lag Hannah von Bredow wenig daran, ihre umfassenden Aufzeichnungen aus der NS-Zeit aufzuarbeiten und zu veröffentlichen. Nur ihre Nachkommen sollten Kenntnis davon erhalten. Ohnehin konzentrierten sich Veröffentlichungen über den Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland in den ersten beiden Dekaden der Nachkriegszeit schwerpunktmäßig auf den militärischen Widerstand in Verbindung mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944.

Andere Formen des Widerstands sowie das Schicksal von Frauen im Widerstand waren damals noch kein Thema. Eine Ausnahme bildete im Jahre 1947 die Autobiografie von Lina Haag „Eine Hand voll Staub – Widerstand einer Frau 1933 bis 1945“. Das Buch erschien in einem kleinen Verlag und fand seinerzeit weit weniger Beachtung als das 1962 aufgelegte Buch von Annedore Leber und Freya von Moltke „Für und wider. Entscheidungen in Deutschland. 1918–1945“. Dieses Buch schildert das Leben der beiden Frauen, welches sie im Wissen um die Aktionen ihrer Männer, der von den NS-Henkern hingerichteten Widerstandskämpfer des Kreisauer Kreises Julius Leber und James Graf von Moltke, aufs Spiel gesetzt hatten.

Erst in den 1980er-Jahren zeichneten Marion Gräfin Yorck von Wartenburg und Maria von Maltzan ihre eigenen Widerstandsaktionen auf. Den Widerstand der Elisabeth von Thadden schilderte Irmgard von der Lühe. Der Name Hannah von Bredows findet sich bis heute indessen ohne gebührende Würdigung ihres Wirkens nur in wenigen Veröffentlichungen.1 Ungeachtet der schwachen öffentlichen Wahrnehmung des Widerstands in der frühen Bundesrepublik Deutschland und der Mühen, ihre unzähligen Dokumente aufzuarbeiten, erlaubten es Hannah von Bredows Selbstverständnis, Selbstzweifel und wohl auch Rücksicht auf die Familie nicht, ihren Widerstand publik zu machen.

Hannah von Bredow zeigte einen hartnäckigen und wirkungsvollen Widerstand gegen das NS-Regime in der Weise, dass sie sich zwölf Jahre lang unter großen Opfern dem Absolutheitsanspruch des Staates entzog und damit dessen Ziele unterlief. Dank der mühevollen Sichtung ihres Nachlasses durch Leopold Bill von Bredow und seiner Tochter Vendeline von Bredow-Jory sowie der zeitraubenden Digitalisierung der handschriftlichen Aufzeichnungen durch Frau Cornelia Jobst kann der Verfasser es nun unternehmen, den Nachkommen wie der Nachwelt das Denken, Leben und Wirken einer außergewöhnlichen Frau im vergangenen Jahrhundert anhand authentischer Selbstzeugnisse zu vermitteln.

Der Dank des Verfassers gilt Leopold Bill von Bredow für den umfassenden Einblick in dem Nachlass seiner Mutter und die wertvollen Erläuterungen, Michael K. Bahr und Dr. Romedio Graf von Thun-Hohenstein für hilfreiche Auskünfte, Dokumente und Fotos, sowie Dr. Gabriele von Halem, Cornelia Jobst, Dr. Wolf Preuss und Erich Riedler für die kritische Durchsicht des Manuskripts.

Reiner Möckelmann

Berlin, Dezember 2017

Herbert Fürst von Bismarck und Ehefrau Marguerite Gräfin Hoyos Freiin von Stichsenstein 1892


Hannah von Bredow zur Weihnachtsfeier 1915 in Friedrichsruh


Hochzeit von Hannah Leopoldine Alice Gräfin von Bismarck-Schönhausen mit Rittmeister Leopold Waldemar von Bredow am 15. März 1915 in Friedrichsruh

Kindheit und Jugend im goldenen Zeitalter

„Sie loben freundlicherweise mein Wissen, das nicht mein Verdienst ist; ich verdanke es der Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, den Gesprächen, die ich angehört habe, den Menschen, die in Schönhausen und Friedrichsruh aus- und eingingen.“

(Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 193, Potsdam, den 29. Dezember 1932)

Hannah von Bredow kam als erstes Kind ihrer Eltern Herbert Fürst von Bismarck und seiner Frau Marguerite, geb. Gräfin Hoyos, am 22. November 1893 in Schönhausen im Elbe-Havel-Land zur Welt. Zur Enttäuschung der Eltern war sie als erstes Kind nicht der sehnlichst erwünschte männliche Stammhalter, wie Mutter Marguerite später gestand: „Bevor Du geboren wurdest, hatte ich die felsenfeste Überzeugung, dass Du nur ein Sohn sein könntest, und von der ersten Stunde der Gewissheit über meinen Zustand an bis zum Moment Deiner Geburt habe ich nichts weiter getan, als Dich mit Papa zu identifizieren. Ich las nur Bismarckiana und Carlyle.1 Ich zwang mich dazu, alle Zeitungen zu verfolgen, ich sah Dich als Held, Führer, als Staatsmann vom Format Deines Großvaters, und ich aß Unmengen von Kartoffeln, weil ich das ein männliches Gemüse fand. Wir nannten Dich nur Otto, wenn wir von Dir sprachen und dann kam der unvergessliche Bußtag, an dem Du alle unsere Berechnungen über den Haufen warfst.“

Der ebenfalls im Schloss Schönhausen geborene und mittlerweile auf dem Alterssitz in Friedrichsruh lebende Großvater Otto Fürst von Bismarck zeigte sich im Jahre 1893 nachsichtiger – sein Sohn Herbert, Hannahs Vater, war ebenfalls nicht der Erstgeborene seiner drei Kinder.

Herbert von Bismarck hatte die 22 Jahre jüngere Marguerite Gräfin Hoyos, die aus dem seinerzeit habsburgischen Fiume stammte, im Juni 1892 geheiratet. Er war bei der Eheschließung bereits 43 Jahre alt. Elf Jahre hatte er benötigt, um über die im Jahre 1881 beendete zweijährige Liaison mit der Fürstin Elisabeth Carolath, geb. Gräfin Hatzfeld-Trachenberg, hinwegzukommen. Vater Otto hatte seinen Sohn, der als Botschaftsrat in London wirkte, mit ultimativen Forderungen von seinen Heiratsplänen mit der zehn Jahre älteren, geschiedenen und zudem katholischen Fürstin abbringen müssen. Die „Affäre Elisabeth“ belastete Herbert von Bismarcks Ehefrau Marguerite lebenslang.

Kennengelernt hatten sich Hannahs Eltern Ende 1887 anlässlich einer Verlobung in Berlin. Marguerite lebte, 16-jährig, noch in Fiume, wo ihr Vater, zusammen mit seinem Schwiegervater Robert Whitehead, dem englischen Erfinder des Torpedos, Teilhaber der Firma Fiume Whitehead & Co war. Sie war sofort von Herbert von Bismarck eingenommen und schilderte ihrer Tochter die erste Begegnung: „Er hatte etwas sehr Warmes und Herzliches in seiner Art, seine Stimme war mächtig, sein Lachen von einer Herzlichkeit, die einen wärmte. Er erschien mir als eine überwältigende Persönlichkeit, absolut der Mittelpunkt jeder Gesellschaft.“ Die Ehe war harmonisch und glücklich, währte aber nur bis zum 18. September 1904, dem Todestag von Herbert von Bismarck.

Hannah von Bredow liebte und bewunderte ihren Vater, auch wenn er später in Friedrichsruh gegen Depressionen und den Alkohol zu kämpfen hatte, aufbrausend und jähzornig sein konnte und die Kinder bisweilen schlug. Sie wusste sich ihm eng verbunden: „Da die Gedankengänge, die Einstellung zu den Menschen, die Auffassung über all die ganz wichtigen Sachen im Leben sich vollkommen deckten, so deckten, dass ich schon als ganz kleines Kind genau wusste, wie er auf gewisse Sachen reagieren würde, ist es unmöglich zu verheimlichen, dass diese Erfassung aller Schattierungen aus Ähnlichkeiten stammt.“ Nur bis zu ihrem elften Lebensjahr erlebte Hannah ihren Vater. Sein unerwarteter Tod mit nur 55 Jahren war ihr unbegreiflich: „Er war weg, ausgelöscht, sein herzlich warmes Lachen, seine Witze, sein ganzes sonniges Wesen blieben unersetzlich.“

Im August 1904 hatte ihr Vater Hannah als einzigem Familienmitglied offenbart, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hatte. Ihrem Tagebuch vertraute die elfjährige Hannah am 6. August 1904 an: „Heute bin ich geritten. Heute hat Papa mich nach dem Essen gerufen: Ich werde es Dir sagen. In ein paar Wochen gehe ich von Euch. Ich kann nicht das erleben: Schande, Unehre für Deutschland. […] Oh Gott, Gott, bitte, bitte, bitte nicht.“

Herbert von Bismarck, ein unermüdlicher Verfechter enger deutsch-britischer Beziehungen, musste Anfang April 1904 erleben, dass die Bemühungen Großbritanniens um einen Bündnisvertrag mit dem Deutschen Reich gescheitert waren. England und Frankreich beendeten daraufhin ihre Spannungen mit der „Entente cordiale“, welche später um die Tripelentente mit Russland erweitert wurde. Mit Sorge verfolgte Herbert von Bismarck die deutsche Außenpolitik nach dem Rücktritt seines Vaters im März 1890. In den 1870er-Jahren hatte Herbert als Privatsekretär seines Vaters gewirkt und war 1885 zum Unterstaatssekretär sowie im folgenden Jahr zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts ernannt worden.

Verbittert stellte Herbert von Bismarck im Deutschen Reich politische Leichtfertigkeiten und Versäumnisse fest: Den russischen Antrag auf Verlängerung des Rückversicherungsvertrags wies die Reichsführung wenige Monate nach Otto von Bismarcks erzwungenem Rücktritt im Sommer 1890 zurück. Eine massive antibritische Propaganda des Deutschen Flottenvereins und des Alldeutschen Verbands setzte ein, und die neue Flottenpolitik Wilhelms II. stand ganz im Zeichen des Strebens nach Weltmacht. Bezeichnend war die Äußerung von Reichskanzler Bülow, der 1897 als Außenminister erklärte: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne.“

Die politische Einschätzung ihres Vaters übernahm die 17-jährige Hannah, als sie im Jahre 1911 ihrer Tante Lily von Reventlow-Criminil, geb. Hoyos, in Wien den Inhalt eines Gesprächs mit einem älteren, gräflichen Verehrer bildhaft darstellte: „Wir haben auf den Kaiser und seine Katastrophenpolitik geschimpft, und ich habe dem Grafen gesagt, dass wir in 10 Jahren hier eine ganz nette, ordentliche Revolution mit allem Zubehör haben werden, wenn nicht jemand Bethmann rechtzeitig entlässt, Tirpitz zum Teufel jagt und den edlen Willy nach der Osterinsel zum Studium der Götzenbilder verschickt.“

Hannahs Hoffnungen erfüllten sich nicht: Admiral Alfred von Tirpitz trat erst im März 1916 in den Ruhestand, und Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg wurde nicht eher als im Sommer 1917 zum Rücktritt gezwungen. Die Revolution dagegen kam drei Jahre früher, als Hannah gedacht hatte, und erst dann wurde Wilhelm II. ins holländische Doorn verbannt. Die ehrenvolle und hoch geschätzte Einladung des „edlen Willy“ zur Schiffstaufe in Hamburg und zur Kieler Woche im Jahre 1914 änderte nichts an Hannah von Bredows Einstellung zu ihm. Auf Landwirtschaftsvokabular zurückgreifend und mit Blick auf die drohende Machtübernahme Hitlers stellte sie am 27. Januar 1933 in wenig anerkennender Weise fest: „Emperor’s birthday – we owe him all this muck-heap.“

Zu England gab es in der Familie Bismarck nicht nur durch Marguerites Großeltern Whitehead enge familiäre Bindungen. Herbert von Bismarck verband auch eine vertraute, lebenslange Freundschaft mit Archibald Philip Primrose, dem 5. Earl of Rosebery. Der englische Staatsmann war Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre Außenminister sowie von 1894 bis 1895 Premierminister. Seine Frau Hannah, Tochter und Erbin des Barons Mayer Amschel de Rothschild, war im Jahre 1890 gestorben.

In Gedenken an den frühen Tod der Frau seines Freundes Archibald benannte Herbert von Bismarck seine Erstgeborene nach ihr. Hannah äußerte sich nur verhalten zu ihrer Namensgeberin, die als wenig attraktiv, geistlos und übergewichtig beschrieben wurde. Die Freundschaft Herbert von Bismarcks mit Randolph Churchill, dem Begründer der modernen konservativen Partei und Vater des späteren Premiers Winston Churchill, bemühte Hannah von Bredow andererseits im Juli 1945, um über diesen ihre Ausreise in die Schweiz zu erreichen.

Ihren Großvater Otto von Bismarck sah Hannah bis zu ihrem fünften Lebensjahr nur besuchsweise. Erst nach seinem Tod zog ihre Familie von Schönhausen nach Friedrichsruh um. Lebenslang beschäftigte Hannah sich aber mit dem Großvater und verfolgte alle Publikationen, die sich mit seinem Leben und Wirken befassten. Als Kind hatte die Enkelin sich, dem Familienbrauch folgend, mit ihrem sprachbegabten Großvater in Englisch oder in Französisch, der Sprache der Diplomatie, zu unterhalten. Dieser Tradition war Hannah insofern gewachsen, als sie bereits in früher Kindheit von einer englischen Nanny und französischen Demoiselle in diesen Sprachen unterrichtet worden war. Hannahs Eltern redeten mit ihr erst ab ihrem vierten Lebensjahr regelmäßig deutsch. Auch Auslandsaufenthalte in England und Frankreich trugen dazu bei, dass Hannah später die beiden Fremdsprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte. In der guten Tradition ihres Großvaters schrieb sie längere Passagen ihrer Briefe an Sydney Jessen in Englisch oder Französisch, bisweilen angereichert durch Zitate aus Werken von Shakespeare oder Racine.

Was das Lernen anging, erklärte Mutter Marguerite der erwachsenen Hannah von Bredow später: „Ich finde es nur gut, wenn ein Mädel viel lernt, besonders auch Latein und Griechisch, je mehr sie arbeitet, desto weniger neigt sie zu dummen Ideen. Ich habe ja auch rasend gelernt, aber leider, leider nicht die alten Sprachen, und Du ahnst nicht, wie das Latein z.B. mir an allen Ecken und Enden fehlt. Ich komme mir ganz verloren vor und beneide Dich um Deine Kenntnisse.“

Hannah von Bredow musste ihre Mutter allerdings daran erinnern, dass diese früher die humanistischen Interessen der Tochter abgelehnt hatte und sie „diese Lateinstunden Bitten gekostet“ hätten. Vorwurfsvoll ergänzte Hannah, dass sie „ganz allein ohne Hilfe Latein gelesen, übersetzt und geschrieben“ habe, weil „Du mich immer wieder hindertest, genau wie mit der Matura, die Du mir an meinem 12. Geburtstag fest versprochen hattest und unter dem Vorwande ‚a lady does not compete with the rabble‘ zu einem unerfüllten Traum werden ließest.“

Die unterschiedlichen Bildungsvorstellungen von Mutter und Tochter schildert Hannah von Bredow im Jahre 1929 ihrem vertrauten Briefpartner Sydney Jessen anhand eines bezeichnenden Dialogs mit ihrer Mutter: „Weißt Du noch, wie Du mir sagtest: ‚Wen liebst Du mehr, mich oder das dumme Examen?‘ Und ich antwortete: Das ist kein Vergleich, worauf Du mir sagtest: ‚Mit 17 1/2 Jahren muss man seine Weltstellung im Auge haben, wenn man eine Frau ist, und gebildete Mädeln sind beliebt, aber studierende basbleus verhasst. Lass’ es mir zu lieb.‘ Wusstest Du das noch? Und wie ich dann nach Wien fuhr und aus Bock nach den Bällen um 5 a.m. bei hellem Sonnenschein nicht ins Bett ging, sondern Virgils Aeneis lernte, just to show myself that I was a free agent, subject to nothing! Darauf lachte sie [die Mutter] und sagte: ‚Ja, jetzt wäre ich froh, wenn Du Deinen Willen durchgesetzt und studiert hättest, wer weiß, ob du dann nicht heute eine andere Position hättest.‘“

Genauso wenig wie im Jahre 1910 dürfte Marguerite von Bismarck jedoch auch im Jahre 1929 ernsthaft daran gedacht haben, dass ihre Tochter Hannah ihr beachtliches Talent für Klavierspiel und Gesang in einer künstlerischen Karriere ausleben oder angesichts ihrer ausgeprägten geschichtlich-politischen Interessen einen wissenschafts- oder politiknahen Beruf ergreifen könnte. Nach dem Tod ihres Mannes Herbert hatte Marguerite von Bismarck die 13-jährige Hannah bereits mit verantwortungsvollen Aufgaben in Haus und Hof betraut. Diese Erfahrung und Hannahs breite Bildung sollten ihr aus Sicht der Mutter eine „gute Heirat“ ermöglichen und die Grundlage für ein ausgefülltes Leben als Ehefrau und Familienmutter bieten.

Hannah von Bredow entsprach aber nicht dem Rollenbild, welches ihre Mutter einer adligen jungen Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuordnete. Für eine adlige weibliche Normalbiografie fehlten Hannah die idealen Eigenschaften einer bloßen Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame. Die Grundlagen für ihr nichtkonformes Wesen legten indessen aber gerade die Familien der Bismarcks und der Hoyos’, in denen Hannah „von Kindheit auf unter Leuten, denen gründliches Wissen auf möglichst vielen Gebieten als unerlässlich für eine sogenannte gute Erziehung galt,“ lebte.

Und weiterhin erklärt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Jessen im Jahre 1936 zu ihren prägenden Erfahrungen: „Sei es nun in Österreich oder in Deutschland, immer waren auf den paar Gütern, die ich besser kannte, im Sommer Gelehrte, Künstler oder Musiker zu Gast, immer wurde ‚schöne Konversation‘ gepflegt oder etwas ‚getrieben‘, von den städtischen Wintern ganz zu schweigen. Als ich 16 war, nahm meine Mutter zum ersten Mal wieder eine Wohnung in Berlin und widmete sich dem Problem unserer Allgemeinbildung. Dauernd kamen Leute, die man heutzutage ‚geistig prominent‘ nennen würde, zu den Mahlzeiten, dazu gesellten sich Vorträge an der Universität (so fürs Volk ohne Abitur), in Museen etc.“

So wusste Polly, Gräfin von Plessen-Cronstern, geb. Hoyos, ihrer Schwester Marguerite im Sommer 1911 über Gespräche der 18-jährigen Nichte Hannah in Wien mit ihrem Mann Ludwig zu berichten: „Ludwig und Hannah sind nur große Politik und sonst nichts. Die Debatten gehen stundenlang, Ludwig ist selig: ‚Ganz Herbert‘, meinte er neulich.“

Prägend für Hannahs Rolle als gesellschaftliche „Außenseiterin“ war auch der Umstand, dass die häufig kranke und bettlägerige Marguerite ihrer Ältesten nach dem frühen Tod von Herbert die Rolle des Familienoberhaupts übertrug. Wie erwähnt hatte Hannah schon mit 13 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben in Haus, Hof und Forst sowie für das Personal wahrzunehmen. Bereits in diesem Alter zeigte sie Selbstvertrauen und Resolutheit, obwohl weitere prägende Erfahrungen eher für Scheu und Zurückhaltung sprachen.

Von Geburt an war Hannah auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge hatte sie eine stark reduzierte Sehkraft. Aus kosmetischen Gründen entfernte man einen Star, der das rechte Auge bedeckte, als sie vier oder fünf Jahre alt war. Außerdem hatte sie ein auffälliges rotes Muttermal am linken Unterarm, welches im Alter von sieben Jahren beseitigt werden sollte. Das erschreckende Ergebnis war, dass „der ganze Arm mit dem Rasiermesser ohne Anästhesie geschält“ wurde und auf der gesamten Länge eine rote Narbe hinterließ.

Lebenslang trug die modebewusste und elegante Hannah von Bredow Handschuhe und langärmelige Kleider. Mit eisernem Willen machte sie das Beste aus ihren körperlichen Defiziten. Von Kindheit an war sie so erzogen worden, „dass das, was mich so sichtbar von allen anderen Menschen äußerlich unterschied, an sich belanglos sei und niemals eine Rolle in meinem Leben spielen würde.“ Frühzeitig wurde ihr gesagt, „dass man es, um keine unnützen Fragen zu erwecken, und um die Menschen nicht zu stören, immer soweit verstecken würde, wie das durch Kleidung unauffällig möglich sei. Auf Fragen sollte ich ungeniert Antwort geben, da es nichts Böses, Ansteckendes oder Krankhaftes sei.“ Ihre Sehschwäche brachte es mit sich, „dass ich notgedrungen nach Stimmen, Händedrücken, Bewegungen gehen muss, weil bei mir das Auge ausscheidet.“

Hannahs körperliche Schwächen waren häufig Gegenstand von familiärem und gesellschaftlichem Klatsch. Sie stellte sich bald darauf ein: „Im Gegensatz zu meinem Vater habe ich die dickste Haut, die je ein Mann, eine Frau oder ein Kind hatte. Wenn einem ein über Alles bewunderter Vater von jeher das ‚don’t show your feelings‘, oder ‚grin and bear it‘, oder ‚smile, while your heart is breaking‘, oder ‚where’s your grit?‘ als Grundlage aller Lebenshaltung bezeichnet, wenn diese Erziehung später eisern fortgesetzt wird, kann man nicht anders, als sie anerkennen.“

Angesichts ihrer Sehschwäche schärfte Hannah ihr Gehör und schulte ihr Gedächtnis. Beides gelang ihr in außergewöhnlichem Maße, sodass sie in der Lage war, in ihren Briefen lange Gesprächsdialoge wiederzugeben. Ein Rätsel bleibt dennoch, wie sie es schaffte, ihr tägliches Leben ohne Brille zu bewältigen und mit sehr eingeschränkter Sehkraft unzählige Briefe zu schreiben und auch noch zu reiten. Nur im Kino oder im Theater trug sie eine Brille.

Den Verlauf ihres ersten Lebensjahrzehnts beschreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen Ende des Jahres 1936 in knapper und plastischer Form: „Schönhausen – Berlin – Fiume-Sooß – Schönhausen – Berlin (immer im Winter bis auf 1903, wo wir in Fiume waren), Ende 1905 endgültiger Umzug nach Friedrichsruh, dessen Neubau vollendet war. Eine wohl ungewöhnlich glückliche, wenn auch wegen Misshandlungen durch Schweizerinnen ebenfalls ungewöhnlich gestörte Kindheit. Dazu eine tödliche Krankheit, weil die eine Démoiselle mir Gift gab (sie kam ins Irrenhaus, die berühmte Sadistin, der Clare Sheridan in ihrer „Nuda Veritas“ ein Denkmal setzte). Dazu auch ewige Behandlungen meiner Hand, meines Armes etc. und sehr, sehr viel Unterricht in drei Sprachen, ebenfalls sehr viel Reiten. Nothing could damp my joie de vivre.“