China – ein Lehrstück

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Der Kampf der USA

Natürlich ist der Gegensatz zwischen den USA und China nicht mit der „Neuen Seidenstraße“ in die Welt gekommen, ebenso wenig übrigens wie mit dem Amtsantritt von Donald Trump. Auch wenn alle journalistischen oder wissenschaftlichen Beobachter nichts vom Grund des Gegensatzes dieser Großmächte wissen wollen – die Konkurrenz um den Nutzen aus dem Welthandel ist, bei aller Verflechtung von „Chimerica“ und bei allem Geschwätz vom globalisierten Welthandel „zum Nutzen aller“, in der letzten Instanz ausschließend, feindlich, kriegsträchtig! –, haben inzwischen doch alle irgendwie mitgekriegt: Dieser Konflikt ist nicht auflösbar; er ist da und er wird, auch ohne Trump, bleiben (bis es kracht).

Schon vor Trump gab es diverse Anläufe der US-Präsidenten, den schnellen Aufstieg Chinas zu behindern: mit den Beitrittsverhandlungen zur und danach innerhalb der WTO; indem die USA im Zuge der Finanzkrise ein verstärktes Gewicht Chinas im IWF blockiert haben; mit der Konstruktion diverser Freihandelsabkommen, die sich gegen China richteten (TPP und TTIP). Dass einige außenpolitische US-Aktivitäten Staaten aufs Korn genommen und schwer geschädigt haben, die gute Handelsbeziehungen zu China unterhielten (Iran, Sudan, Libyen) ist sicher auch kein Zufall, sondern zumindest gewollter Kollateralschaden. Trump hat die Palette der US-Bemühungen dann erweitert: massive Schutzzölle, die chinesische Waren verteuern; Nötigung amerikanischer Unternehmen, ihre Investitionen in die US-Heimat (zurück) zu verlagern; ein Gesetz, das chinesische Firmenkäufe in den USA unter Aufsicht stellt; eine Neuauflage der Cocom-Liste, die im Kalten Krieg den Export militärisch nutzbarer Technologie verhindert hat. Er hat seine Experten eine Strategie des „Decoupling“ ausarbeiten lassen, um notfalls alle ökonomischen Beziehungen zum chinesischen Feindstaat zu unterbrechen. Und er bekämpft mit dem Technologiekonzern Huawei exemplarisch das modernste chinesische Kapital, das sich gerade angeschickt hat, viele westliche Staaten mit seiner 5-G-Technik auszurüsten, die für viele künftige Schritte bei der Digitalisierung von Produktion, Transport und Kommunikation gebraucht wird (Stichwort: Industrie 4.0) und als Schlüsselindustrie wie Herrschaftsinstrument in der künftigen Konkurrenz der Unternehmen wie Nationen deshalb unverzichtbar ist.

Die ersten Schritte des neuen US-Präsidenten Joe Biden machen deutlich, dass er die China-Politik seines „unmöglichen“ Vorgängers Trump konsequent weiterverfolgen wird.

Unmittelbar nach seiner Amtseinführung unterzeichnete Biden, der seine China-Politik unter das Motto „extremer Wettbewerb“ stellt, eine Verordnung, der zufolge US-Regierungsbehörden nur im eigenen Land erstellte Waren und Dienstleistungen kaufen sollen (dabei handelt es sich um einen Umfang von etwa 600 Mrd. Dollar). Der zulässige Anteil im Ausland hergestellter Bauteile wird gesenkt, Ausnahmegenehmigungen erschwert.42 Bemerkenswert an diesen Kämpfen der Weltmacht ist: Sie offenbaren, dass den USA ihr bisheriges Konkurrenzmittel abhandenkommt. Bisher waren sie die Macht, die auf Freiheit im Welthandel und dem Abbau aller (Zoll-)Schranken beharrt hat – weil sie als kapitalistisch produktivste Ökonomie auf diese Art und Weise überall in der Welt Geschäft machen oder finanzieren konnte, damit also sicher den meisten Profit erzielte. Bisher waren sie die Macht, die allen anderen Staaten modernste Technik verkaufen konnte – nun nötigen oder bestechen sie andere Nationen, nicht bei China zu kaufen. Die Vereinigten Staaten sind dabei durchaus in der Lage, einiges für diese Politik in die Waagschale zu werfen: Die Drohung mit ökonomischen Nachteilen ist für jedes Land dieser Welt eine heikle Frage angesichts dessen, was seine Kapitale und Banken in den USA erwirtschaften bzw. angesichts dessen, was ein eventueller Ausschluss vom internationalen Finanzmarkt bedeuten kann, auch wenn man gar nicht unmittelbar mit oder in den USA handelt.

Internationale Handels- und Investitionsabkommen

China versucht, mit dem Abschluss von internationalen Handels- und Investitionsabkommen dagegen zu halten. Mitte November 2020 wurde in Hanoi RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) unterzeichnet und damit die weltweit größte Freihandelszone begründet (2,2 Mrd. Menschen, rund 30 % des Welthandels). Zu den Unterzeichnern gehören die zehn ASEAN-Staaten, China, Japan, Südkorea sowie Australien und Neuseeland; Indien zog sich kurz vor Vertragsabschluss aus dem Projekt zurück, da es befürchtet, der chinesischen Konkurrenz in vielen Wirtschaftszweigen nicht gewachsen zu sein. Damit ist es China gelungen, die Staaten, die die USA zuvor in ihre transpazifische Partnerschaft gegen China einbinden wollten (TPP, das Donald Trump zu Beginn seiner Präsidentschaft abrupt gekündigt hat), nun seinerseits zu einer Freihandelszone zusammen zu schließen.

Ende Dezember 2020 haben die EU und China ein Investitionsabkommen unterzeichnet. In öffentlichen Stellungnahmen betont die chinesische Seite, dass der Vertrag das Interesse beider Parteien an weiter wachsenden Investitionen (bisher betragen die EU-Investitionen in China 180 Mrd. Dollar, die Chinas in die EU 138 Mrd. US-Dollar) auch gegen US-amerikanischen Druck zum Ausdruck bringe – das ist ein Zeichen, auf das die Volksrepublik zurzeit viel Wert legt.1 Tatsächlich wäre die EU und gerade Deutschland empfindlich getroffen, wenn „Decoupling“ ernsthaft durchgesetzt würde. Die Europäische Handelskammer in China hatte deshalb angesichts der ersten bereits eingeleiteten Maßnahmen auf US-amerikanischer Seite und den Reaktionen aus der Volksrepublik in einer Studie gewarnt: „Direkte Marktzugangshindernisse wie Negativlisten und nationale Sicherheitsmaßnahmen werden durch indirekte Hindernisse wie nationale Standards oder Lizenzanforderungen ergänzt. Die Studie, betonte EUCCC-Präsident Jörg Wuttke auf der Pressekonferenz, wolle auch darauf hinwirken, dass Administrationen in China und in den USA erkennen, wie schädlich Decoupling für die Wirtschaft sei.“2

Die EU ihrerseits lobt am Investitionsabkommen, dass sie durch harte, sieben Jahre dauernde Verhandlungen weitgehende Zugeständnisse erreicht habe (neue Regeln für den „Zwangstransfer“ von Technologie, Öffnung vieler Wirtschaftszweige, darunter „Fahrzeuge, Cloud- und Finanz-Dienstleistungen, Gesundheitsversorgung“). Es ist zu vermuten, dass die feindselige Haltung der USA gegenüber der Volksrepublik der EU Verhandlungsvorteile verschafft hat.

Mit dieser Politik untergraben die amerikanischen Politiker allerdings die Prinzipien der Weltordnung, die sie selbst nach Weltkrieg II eingerichtet haben: Souveräne Staaten, die in freier kapitalistischer Konkurrenz nach ihrem Vorteil streben.

Für dieses Prinzip steht inzwischen der chinesische Präsident Xi Jingping ein – ein deutlicher Ausdruck dessen, welche Nation im Augenblick den Nutzen aus dieser von den USA geschaffenen Weltordnung zieht …

Insofern hat der amerikanische Verteidigungsminister Mark Esper nicht überraschend auf der Münchener Sicherheitskonferenz des Jahres 2020 Bilanz gezogen und die Nato-Alliierten zu einer klaren Entscheidung gedrängt.43 Esper hat an den WTO-Beitritt Chinas vor 20 Jahren erinnert (den er mitverhandelt hat): Ein Teil der US-Delegation hätte gehofft, durch verstärkte ökonomische Liberalisierung auch die politische voranzutreiben und China zu einem „verantwortungsbewussten globalen Akteur“ zu machen. Nun sei zu konstatieren, dass unter Präsident Xi Jinping das Gegenteil eingetreten sei: „mehr interne Unterdrückung, räuberischere wirtschaftliche Praktiken, mehr Härte und – für mich am besorgniserregendsten – eine aggressivere militärische Haltung“. China habe sich „durch Diebstahl, Zwang und Ausnutzung freier Marktwirtschaften“ Vorteile verschafft und sinne darauf, das System „zu untergraben und zu zersetzen“, das ihm seinen Aufstieg ermöglicht hat. Es strebe überall auf der Welt „neue strategische Beziehungen“ an und übe „Druck auf kleinere Nationen“ aus. Das sagt allen Ernstes der Vertreter der Weltmacht USA – Kommentar überflüssig. Während die USA in konventionelle und moderne Raketenabwehrsysteme investieren, „um unser Heimatland, unsere Interessen und unsere Verbündeten zu schützen“, habe man es in der Volksrepublik mit einem Land zu tun, das „Langstreckenraketen entwickelt und bereitstellt, um Nachbarländer zu bedrohen“. Und so weiter und so fort – das Weltbild ist klar: Hier die Guten, die die Werte beschützen, dort die Bösen, die mit fiesen Methoden überall Unheil und Unterdrückung anrichten. Dann wörtlich: „Verstehen Sie mich nicht falsch, wir suchen den Konflikt mit China nicht. Das ist es nicht, was wir wollen – keineswegs. Wir streben vielmehr einen fairen und offenen ökonomischen Wettbewerb an. Und ganz allgemein verlangen wir von Peking nur das, was wir von jedem Land verlangen: sich an die Regeln zu halten, internationale Normen einzuhalten und die Rechte und die Souveränität anderer zu achten. Das US-Verteidigungsministerium leistet seinen Teil, um eine gerechte Basis wiederherzustellen. Wir konzentrieren uns darauf, von Fehlverhalten abzuschrecken, unsere Freunde und Verbündeten zu beruhigen und die globalen Gemeinschaftsgüter zu verteidigen. Um den Frieden durch Stärke zu wahren, setzen wir die Nationale Verteidigungsstrategie der Vereinigten Staaten um.“

Zum Glück sind die europäischen Verbündeten gegen Russland schon weitgehend auf Linie! Gerade deshalb müssen sie – so Esper – darauf achten, im Falle Chinas wegen seiner tückischen ökonomischen Nützlichkeit keine Fehler zu machen und sich rechtzeitig auf die richtige Seite zu stellen.

 

Chinas Aufrüstung und der „Inselstreit“ im südostasiatischen Meer

Chinas Rüstungsetat hat nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI im Jahr 2019 den russischen überholt, liegt allerdings noch weit hinter den USA.44 Das Ziel der chinesischen Führung besteht darin, eine von bisherigen Rüstungszulieferern (insbesondere Russland und Israel) unabhängige Rüstungsproduktion in allen Sparten auf die Beine zu stellen – von modernen Kampffliegern bis zu atomgetriebenen U-Booten und Flugzeugträgern. Besonderen Wert wird auf den Ausbau der Marine gelegt, denn China will die bis jetzt unangefochtene Monopolmacht der USA im Südpazifik bestreiten.

Chinas Marine

„Im jüngsten Bericht des Pentagons zur militärischen Rüstung der Volksrepublik China wird bestätigt, dass deren Marine zahlenmäßig die amerikanische Navy erstmals übertrifft. Sie wird Ende 2020 über 360 Kriegsschiffe verfügen, darunter 130 moderne Kreuzer, Zerstörer, Fregatten und Korvetten sowie 62 U-Boote, darunter 12 atomar betriebene. Zwei Flugzeugträger mit eingeschränktem Potenzial sind in Betrieb, sie dienen vor allem als Testplattformen. Der dritte steht im Bau und wird ein mit amerikanischen Flugzeugträgern vergleichbares Schiff mit Katapulten sein, das vermutlich 2024 einsatzbereit sein wird. Drei weitere Träger dieser Art werden bis in die Dreißigerjahre erwartet.

Im Inventar der Marine figurieren neuerdings große amphibische Helikopterträger, eigentliche Kopien der amerikanischen Wasp-Klasse. Diese und weitere moderne Docklandungsschiffe sind für das im Aufbau befindliche chinesische Marinekorps bestimmt, das dereinst bis zu 100.000 Mann umfassen soll.“1 Im Unterschied zur Darstellung der ökonomischen Potenzen lautet die Devise bei Militär und Aufrüstung offenbar, den chinesischen Gegner groß und gefährlich zu machen – eine aus dem Kalten Krieg und der Darstellung der sowjetischen Militärkräfte wohlbekannte Tradition. Die US-Navy verfügt nach eigenen Angaben zwar „nur“ über 280 Schiffe, allerdings über 11 Flugzeugträger und hat aktuell 340.000 Soldaten im Dienst.2 Zudem verfügen die USA nach offiziellen Angaben über 761 Stützpunkte auf der ganzen Welt – wobei nur die gezählt werden, auf denen aktuell US-Soldaten stationiert sind. Nimmt man die Anzahl der vertraglich vereinbarten und im Krisenfall nutzbaren, sind es nach Experten-Schätzungen etwa 1.000.

Bis jetzt gilt hier (wie auf der ganzen Welt), dass sich die US-Navy zur Schutzmacht der „Freiheit der Meere“ erklärt hat und sich selbst das Recht zuerkennt, diese Freiheit auf dem gesamten Planeten mit ihren Kriegsschiffen, Flugzeugträgern und Stützpunkten zu sichern. Diese Absicht trifft im südchinesischen Meer auf das Interesse der neuen Handels-Großmacht China. Deren Führung verlangt Sicherheit für ihre Im- und Exportrouten und will sich diese nicht durch eventuelle Boykott-Maßnahmen der USA stören lassen, wie sie aus vielen Fällen der jüngeren Geschichte bekannt sind und wie Chinas Strategen sie angesichts der zunehmenden Konkurrenz der beiden Mächte vorhersehen. Der Ausbau kontinentaler Verbindungswege im Zuge der BRI ist ein Teil des chinesischen Umgangs mit diesem Problem; der andere liegt in der Aufrüstung der Marine und dem Versuch, mit einer vorgelagerten Stützpunktpolitik zumindest einige Verteidigungslinien in relativer Nähe zu ziehen. Das ist der Kern des vor etwa zehn Jahren neu eröffneten „Inselstreits“, bei dem China einige völkerrechtlich umstrittene Inseln in Besitz genommen und militärisch ausgerüstet hat, wogegen diverse Nachbarstaaten (Japan, Vietnam, Philippinen) protestieren.45 Die USA „verteidigen“ in diesem Konflikt den Status quo, in dem sie ganz unangefochten die Oberhoheit haben, gegen den unangenehmen Aufsteiger, der zwar dasselbe macht wie sie, aber gerade deshalb ein Störenfried ihrer Ordnung ist.

In der Konsequenz ermuntern sie die Anrainerstaaten (Japan, Südkorea, Philippinen, Vietnam) in ihren Ansprüchen gegen China, was die Konflikte in der Region anheizt. Die Amerikaner vereinbaren, als dafür nötige Rückendeckung der „kleinen und schwachen“ Staaten, mit ihnen neue militärische Zusammenarbeit, zeigen mit ihren Aufklärungsflugzeugen Präsenz und traten auf der Shangrila-Konferenz 2015, einer regionalen (!) Sicherheitskonferenz, zu der die USA selbstverständlich dazu gehören (ebenso übrigens Deutschland, vertreten durch die damalige Verteidigungsministerin von der Leyen) mit harten Angriffen gegen China auf: „Push back“ schrieb die New York Times und fand eine kompromisslose Haltung der damaligen Obama-Regierung für unbedingt notwendig.

China war und ist nicht gewillt, in diesem Konflikt einzulenken – auch nicht um den Preis der angedrohten Verschlechterung der Beziehungen und einer eventuellen militärischen Konfrontation. Es machte zwar gewisse diplomatische Angebote, indem es den militärischen Charakter des Inselausbaus kleinredete und umweltpolitische Zielsetzungen betont hat, um die Situation von sich aus nicht zu verschärfen. In der Sache aber blieb es hart. China lässt sich keine Eindämmung von Ansprüchen bezüglich dieser Inseln bieten – nicht von seinen Nachbarn und auch nicht von der existierenden Weltmacht. Auch die Volksrepublik agiert in diesem Streitfall sehr prinzipiell. Sie exerziert daran exemplarisch ihr ungehindertes Recht auf ihren weiteren weltpolitischen Aufstieg und dessen militärische Absicherung durch und will dieses Vorgehen international anerkannt bekommen.

Letztes Update:

Die neue US-Regierung wiederum hat als eine ihrer ersten Amtshandlungen eine „Flugzeugträgergruppe“ unter Führung der „USS Theodor Roosevelt“ ins Südchinesische Meer geschickt, um dort das Manöver „Navigationsfreiheit“ abzuhalten.

So stehen auf beiden Seiten Rechte gegeneinander – und da entscheidet letztlich bekanntlich die Gewalt. Auch wenn momentan tatsächlich keine der Parteien die „große Auseinandersetzung“ will, ist das der sehr gewaltträchtige Kern ihres Verhältnisses (von dem es dann irgendwann wieder heißen wird, dass die Mächte in ihren Krieg „reingeschliddert“ sind ...).46

Fazit:

Erstens: China ist ein einzigartiger Sonderfall der Weltgeschichte. Die Volksrepublik, die sich immer noch sozialistisch nennt, hat geschafft, was die großen westlichen Staaten den „Entwicklungsländern“ immer so generös als Resultat ihres Einstiegs in den Weltmarkt verheißen hatten: Sich zu entwickeln, reich und mächtig zu werden und ihnen auf Augenhöhe entgegenzutreten! An den Reaktionen der „Etablierten“ ist abzulesen: Ein solches Resultat war und ist so nicht vorgesehen.

Zweitens: Das heutige China ist geradezu ein Lehrstück über den notwendigen Zusammenhang von Geschäft und Gewalt in der Weltordnung. Seine Führer haben ihre frühere sozialistische Planwirtschaft Stück für Stück und mit viel staatlicher Betreuung transformiert in eine kapitalistische Ökonomie. Die immanenten Notwendigkeiten des kapitalistischen Geschäfts bescheren ihnen inzwischen eine ganze Agenda an außenpolitischen Tätigkeiten. Ein bedauernswerter „Sachzwang“ der Globalisierung ist das keineswegs gewesen. Zunächst hatte der „freie Westen“ die Existenz eines kommunistischen Staatenblocks nicht hingenommen und mit einem Kalten Krieg darauf geantwortet, d. h. die sozialistische Staatenwelt mit seiner Aufrüstung zu enormen Rüstungsanstrengungen gezwungen, denen sie letztlich nicht gewachsen war. In diesem Konflikt hat China aus seinen nationalen Berechnungen heraus freiwillig die Seiten gewechselt, sich in die kapitalistische Konkurrenz gestellt und mit diesem Entschluss entscheidend dazu beigetragen, dass die Welt heute tatsächlich „globalisiert“ ist, sprich: dass überall die Freiheit des Kapitals herrscht.

Seitdem ist seine Regierung damit befasst, die „Eigengesetzlichkeiten“ eines erfolgreichen Kapitalismus machtvoll durchzusetzen. Denn wer sich einmal dafür entscheidet, auf die „kapitalistischen Produktivkräfte“ zu setzen, der muss die Wachstumsbedürfnisse des Kapitals a) respektieren und b) nach Kräften fördern, wenn die Sache Erfolg haben soll – ganz egal, wie „antiimperialistisch“ oder „friedliebend“ er bis gestern agiert hat. Dementsprechend sehen die Aktivitäten aus: Sie reichen von der Förderung des Warenexports bis zur militärischen Sicherung der Handelswege und sie schließen eine Verteidigung der – mit jedem Erfolg wachsenden – „vitalen Interessen“ ein, gegen Eindämmungsbestrebungen, die die herausgeforderte Weltmacht Amerika China selbstverständlich entgegensetzt. So geht es eben zu, wenn eine neue Macht in der Konkurrenz kapitalistischer Staaten aufsteigt – eine friedliche Angelegenheit ist das nicht.

Mit diesen Überlegungen sollten zugleich einige gängige Vorstellungen widerlegt sein:

Es ist sachlich falsch, Chinas außenwirtschaftliche oder -politische Konkurrenzpraktiken als besonders bösartig zu charakterisieren. Sie haben ihren Grund in den marktwirtschaftlichen Prinzipien des Umgangs mit Land und Leuten, die im Westen entwickelt, allen sozialistischen Ländern immerzu gepredigt wurden und die das asiatische Land nun eben auch bei sich installiert hat. Die erneute Rede von einer „gelben Gefahr“ drückt insofern zuallererst den umfassenden westlichen Anspruch auf diese Welt, ihre Ressourcen und den Nutzen aus dem globalen Handel aus.

Es ist ein unangebrachter Idealismus, zu glauben, man könne den Kapitalismus einsetzen zur Entwicklung von Technik und Produktion zum Segen für Land und Leute und seine hässlichen Seiten irgendwie außen vorhalten. Die Analyse von Chinas Ökonomie und seiner Außenpolitik, die zu dieser Ökonomie gehört und sich keineswegs jenseits, auf irgendwelchen luftleeren Feldern politologischer Kategorien von „Macht und Interesse“ abspielt, macht deutlich, dass der Kapitalismus „System“ hat bzw. eines ist.

C. Zur Feindschaft das Feindbild: Ein neues
„Reich des Bösen“

Mit den wachsenden Erfolgen Chinas kommt auch das Feindbild in großen Schritten voran. Aktuell vergeht kaum ein Monat, ohne dass ein neuer „Skandal“ in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wird: Chinas „neokoloniale Politik“ der „Neuen Seidenstraße“, Spionageaktivitäten seiner IT-Kapitale, die Behandlung der Protestbewegung in Hongkong, die angeblich in Konzentrationslagern internierten Uiguren, die vom Standpunkt westlicher Werte indiskutablen Methoden zur Eindämmung der Corona-Epidemie, die Verdächtigung, dass China überhaupt schuld sei am Corona-Virus und seinen Folgen usw. usf. Diese Art öffentlicher Feindbildpflege trifft nicht nur China – auch Russland und der Iran sind in dieser Hinsicht Dauerbrenner der westlichen Öffentlichkeit. Und sie ist natürlich auch nicht neu. Erinnern wir uns: In den Mao-Zeiten galt das damals noch sozialistische Land als „gelbe Gefahr“, und seine Einwohner firmierten als „blaue Ameisen“ – was heute vielleicht als „politisch inkorrekt“ gelten würde.

Die Wende der kommunistischen Staatspartei hin zum Kapitalismus wurde im Westen dann erleichtert bis euphorisch begrüßt. Deutsche Unternehmer und Politiker waren ganz vorne dabei, als es darum ging, Beziehungen zu knüpfen und erste Joint-Ventures zu gründen. Kaum aber stellte sich heraus, dass an diesen Geschäften auch chinesische Firmen verdienten und sich zu weltmarktfähigen Konkurrenten entwickelten, kaum wurde deutlich, dass Chinas Regierung sich keineswegs so behandeln ließ, wie man es von anderen „Dritte-Welt-Staaten“ gewohnt war, gingen die Beschwerden los.

Fangen wir – ganz jenseits der Attacken der Bildzeitung47 – mit den seriösen, wissenschaftlichen Veröffentlichungen an. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit hier zunächst einmal ein Blick auf die Titel einiger Publikationen zu China in den vergangenen 20 Jahren: „China – eine Weltmacht kehrt zurück“ (Konrad Seitz, 2000), „Herausforderung China“ (Wolfgang Hirn, 2005), „Das asiatische Jahrhundert“ (Karl Pilny, 2005), „Globale Rivalen – Chinas unheimlicher Aufstieg und die Ohnmacht des Westens“ (Eberhard Sandschneider, 2007) und natürlich die zeitweise im Jahresrhythmus veröffentlichten Bücher des Handelsblatt-Journalisten Frank Sieren wie zum Beispiel „Der China-Schock: Wie Peking sich die Welt gefügig macht“ (2008), „Zukunft? China!“ (2018). Gerade erschienen ist das Buch des Zeit-Korrespondenten Matthias Naß „Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet“ (2021). Dazu kommen die Specials der Wochenblätter: „China – Aufstieg zur Weltmacht“ (2004) bzw. „China, die unberechenbare Supermacht“ (2008) und „Chinas Welt – was will die neue Supermacht“ (2011) (alle Spiegel), „Chinas Wirtschaft – Bedrohung oder Chance?“ (Fondsmagazin) usw.

 

Eine fast endlose Reihe mit der immer gleichen Fragestellung: Was bedeutet das „neue China“ für Deutschland und seine Erfolge auf dem Weltmarkt bzw. in der Staatenkonkurrenz? Das ist die offenbar selbstverständliche Fragestellung, mit der sich deutsche Wissenschaftler und ihre populären Dolmetscher einer „Länderanalyse“ zuwenden. Diese Wahrnehmung Chinas als neuer und mächtiger Konkurrenz veranlasst sie einerseits zu viel Hochachtung. Beeindruckende Wachstumszahlen und Exporttabellen, die PISA-Ergebnisse der Shanghaier Schüler, die Summen chinesischer Universitätsabschlüsse sollen zeigen, dass sich das Land mit geradezu atemberaubender Geschwindigkeit zum neuen Zentrum des Weltkapitalismus entwickelt. Und seit es das chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ gibt, überschlagen sich die Berichte über die gigantischen Investitionssummen. Zugleich verraten die verwendeten Vokabeln allerdings vor allem die vorherrschende Sorge: „Herausforderung“, „unberechenbar“, „Bedrohung“, „Schock“. Das ist aufschlussreich.

Offensichtlich ist es – nicht einmal auf der Ebene der Berichterstattung und Länderkunde – so, dass sich die deutsche Politik, Presse und die Bevölkerung unbefangen freuen, wenn es einem Land gelingt, Armut und Unterentwicklung hinter sich zu lassen. Erinnern wir uns einmal kurz an die seit den Siebzigerjahren gern propagierte Vorstellung von den „Entwicklungsländern“. Die sah bekanntlich so aus, dass sich die aus dem Kolonialismus entlassenen bzw. befreiten Staaten in den Weltmarkt integrieren sollten, um sich dort – mit Unterstützung der erfolgreichen westlichen Nationen – „zu entwickeln“, mit dem Versprechen, ökonomisch und politisch zu ihnen aufzuschließen. Und gerade vom maoistischen China – dem weltgrößten „Entwicklungsland“ – hatte der Westen jahrzehntelang verlangt, es solle von seinen sozialistisch-spinösen Ideen lassen. Jetzt, da sich das Land zum Kapitalismus gewendet hat und nach den Kriterien dieser ihm immerzu ans Herz gelegten Produktionsweise offenbar ziemlich vieles richtig macht und entsprechende Erfolge feiert; jetzt, da man es im Westen mit einem (dem einzigen!) „Entwicklungsland“ zu tun bekommt, das tatsächlich ökonomisch aufgeholt hat und den Nutznießern dieser Weltordnung auf Augenhöhe gegenübertritt – was geschieht? Wird China als Vorzeigeland und Modell für jene Länder gefeiert, die es „noch nicht geschafft“ haben? Keineswegs, im Gegenteil.

Offensichtlich war die Rede von den „Entwicklungsländern“ ein Teil der westlichen Propaganda im Kalten Krieg, als in der „dritten Welt“ noch ein sozialistischer Block mitmischte und der Westen sich etwas mühen musste, die jungen Staaten in Afrika und Asien auf seine Seite zu bringen. Das ist heute lange vorbei, also werden auch die entsprechenden Ideologien angepasst. Zweitens aber – und das ist das gewichtigere Argument: Weil in dieser Welt der Marktwirtschaft und Staatenkonkurrenz jeder Erfolg des einen letztlich auf Kosten anderer erfolgt, gibt der chinesische Newcomer neben allen Geschäftsmöglichkeiten, die er anderen eröffnet, ganz offensichtlich auch Grund zur Sorge um die eigenen Erfolgsaussichten und damit zur immer auch latent feindseligen Stellung zu ihm (und beweist damit übrigens auch, wie die westlichen Länder es immer gemeint hatten mit ihrer Heuchelei von der „Entwicklung“).

Die in der hiesigen Öffentlichkeit lancierte Fragestellung lautet generell ungefähr so: Ist der Erfolg, den dieses Land vorzuweisen hat und dem man seinen Respekt nicht ganz versagen kann, eigentlich mit rechten Dingen zustande gekommen? Die Antwort lautet wenig überraschend: nein, natürlich nicht! Denn, so ist allenthalben zu lesen: Der Produktivitätsfortschritt, der Chinas Weltmarkterfolge möglich macht, beruht zum großen Teil auf Industriespionage und purer Ausbeutung (von Mensch und Natur). Die Waren, mit denen das Land seine Devisen verdient, sind nach allen Regeln der Kunst kopiert, gefälscht und vielleicht sogar vergiftet! Die Geschäftsmöglichkeiten, die das Land unseren Unternehmen bietet, sind so gestrickt, dass die chinesischen Partner stets viel besser dabei wegkommen. Auf Dauer haben sich die chinesischen Kapitalisten so nicht nur ihren heimischen Markt gesichert (dessen Eroberung „wir“ offenbar fest für „uns“ verbucht hatten), sondern kommen uns jetzt auf allen Märkten dieser Welt in die Quere (was offensichtlich nicht in Ordnung ist, da „unser“ Besitzstand!).

Allgemein zielen diese Berichte auf das Urteil: Chinas Aufstieg kommt mit unlauteren Mitteln zustande. Seine Geschäftsleute agieren nicht kapitalistisch, sondern – es folgen bedeutsame Differenzierungen – „brutal“, „früh-“ bzw. „manchester-“ oder wahlweise auch „staatskapitalistisch“. Zu solchen Formulierungen greift, wer das Prinzip aus gutem Grund ungeschoren lassen, aber einen Vorbehalt gegen den Konkurrenten vorbringen will, der es erfolgreich anwendet.

Vor allem aber wendet man sich in seinem Ärger gegen den chinesischen Staat und die Führung seiner Kommunistischen Partei (KP). Zwar ist klar, dass man es einzig und allein dieser KP zu verdanken hat, dass die westlichen Geschäftsleute und Staaten mit China einen für sie inzwischen unverzichtbaren Zuwachs ihres Weltgeschäfts bekommen haben. Das hindert aber keinen westlichen Journalisten, genau in dieser KP ein eigentlich unerträgliches Hindernis zu sehen und sie dauernd zu attackieren – und das sicher ein ganzes Stück fundamentalistischer als diejenigen, die tatsächlich ganz praktisch Geschäfte in China machen oder mit der Regierung in Beijing zu verhandeln haben. Mit süffisantem Unterton werfen hiesige Journalisten der chinesischen „Kommunistischen Partei“ vor, dass es in ihrem Land schlimmste Ausbeutung, Korruption und soziale Missstände aller Art gibt. Vorgetragen wird das von denselben Leuten, die ihren lohnabhängigen Lesern und Zuschauern in Deutschland so gerne vorhalten, dass ihr Lebensstandard zu hoch, ihre (Lebens-)Arbeitszeit zu kurz und überhaupt die sozialstaatliche „Vollkaskomentalität“ von gestern sei.

Der schlimmste Vorwurf, den man gegen die KP vorzubringen hat, ist allerdings der, dass diese Partei ihrem Volk das Wählen verweigert, also jene Veranstaltung gelebter Demokratie, bei der Figuren antreten, die sagen, was ohnehin feststeht: Die Geschäfte der Unternehmen und Banken müssen (wieder) laufen, die Wirtschaft muss wachsen, und dafür müssen die entsprechenden Opfer vom Volk erbracht werden. Weil es die bei uns übliche Konkurrenz um das Personal der in der Sache alternativlosen Machtausübung in China nicht gibt (stattdessen andere Formen der Ämterbesetzung, vgl. Teil 2, Kapitel 9), lasse sich – so der allgemeine Tenor – der ganze Staat dort auf eines zusammenkürzen: Er unterdrückt, er ist (was man hierzulande an keiner gleichgearteten Maßnahme entdecken will) Gewalt gegen seine Gesellschaft – und dieses ziemlich eindimensionale Urteil lässt sich natürlich wieder unterschiedlich illustrieren:

 Niemand braucht zu wissen, wie viele Zeitungen es in China gibt und schon gar nicht, was in ihnen drinsteht, um in einer Frage ganz sicher zu sein: In der Volksrepublik wird die Pressefreiheit mit Füßen getreten. (Umgekehrt wundert sich anscheinend niemand darüber, dass unsere freie Presse ganz ohne jede Zensur die immer gleichen Kommentare produziert – und das nicht nur zum Thema China.).

 Jeder weiß, dass China gemein mit seinen Oppositionellen verfährt, ob mit seinem Nobelpreisträger Liu Xiaobo, dem Künstler Ai Weiwei oder den Demonstranten in Hongkong. Ganz im Unterschied zu hiesigen Verhältnissen, wo erklärte Systemgegner bekanntlich als willkommene Bereicherung des Meinungsspektrums aufgefasst und in jede TV-Talkrunde eingeladen werden.48

 Während bei uns „islamische Fundamentalisten“ und ihre störenden Parallelgesellschaften völlig zu Recht ins Visier genommen, verfassungsrechtlich einwandfrei als Terroristen bekämpft und öffentlich diffamiert werden, stellen „wir“ uns in China ganz selbstverständlich auf die Seite der nationalen Minderheiten der Uiguren und Tibeter, deren separatistische Forderungen und gewaltsame Unruhen so eindeutig wie sonst nirgends auf der Welt gegen die böse Zentralgewalt sprechen.

Ökonomische Ausbeutung, rücksichtsloser Umgang mit der Natur, Korruption, ein ausgeprägtes staatliches Überwachungsbedürfnis und Repression gegenüber Oppositionellen und Separatisten, außenwirtschaftliche Expansion, militärische Aufrüstung (die ja nicht China erfunden hat, geschweige denn, dass es die größte Militärmacht ist) und geostrategische Positionierung, ja selbst die patriotische Begeisterung des Volks für seinen Staat (die man hier permanent einfordert) – im Falle China wird all das zum außerordentlichen Skandal stilisiert. Dabei weiß man selbstverständlich in den meisten Fällen sehr genau, dass es die genannten Hässlichkeiten in ähnlicher Form auch hierzulande gibt und Fälle offener Diskriminierung und politischer Unterdrückung spätestens bei den von Deutschland und der EU unterstützten „befreundeten Regierungen“ in Afrika, dem Nahen Osten und in Lateinamerika an der Tagesordnung sind. Doch das sind dann bloß „Ausnahmen“, korrigierbare Fehler, ist staatliches „Versagen“. In China dagegen desavouiert jeder einzelne Kritikpunkt ein für alle Mal „das System“ – zu verbessern ist da nichts, und „konstruktive Kritik“, die bei „uns“ ganz selbstverständlich jeder Form von Unzufriedenheit abverlangt wird, ist nicht angebracht.