Loe raamatut: «Tod in der Viamala», lehekülg 4

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«Trotzdem», beharrte Herr Christoffel. «Er stieg erstaunlich rasch vom italienischen Bauarbeiter zum Chef Bauten in der Firma der noblen Thusner Geschäftsherren auf, finden Sie nicht?»

«Doch», musste Emanuele zugeben.

Ein paar Kinder, die auf Rollschuhen auf Herrn Christoffel zustürmten, liessen ihn erschrocken und so rasch es eben ging zur Seite treten. Auch wenn nichts passierte und die Kinder vermutlich gar nicht realisierten, was sie ausgelöst hatten, liess ihn der Schreck erneut um Atem ringen. Zitternd wischte er sich mit seinem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Er verlor den Faden und verabschiedete sich bald.

Emanuele blieb grübelnd am Gartenzaun stehen. War es tatsächlich rätselhaft, dass Mazzotta damals in der Süsswarenfirma rasch aufstieg? Er war ehrgeizig gewesen, hatte die harte Arbeit auf dem Bau hinter sich lassen und Karriere machen wollen. Allerdings war er nicht der Einzige, manch einer hatte die Gelegenheit gepackt, der Maurerarbeit den Rücken zu kehren, wenn sie sich bot. Warum die Firmengründer gerade ihn zum Chef Bauten erkoren hatten, hatte damals niemand unter den Gastarbeitern hinterfragt. Mazzotta mochte mit den Bauvorhaben und später mit der Immobilienbewirtschaftung ein gutes Händchen gehabt haben, überlegte Emanuele, allerdings wohl kaum mit der Mitarbeiterführung. Dass er ein guter Vorgesetzter gewesen war, konnte er sich nicht vorstellen.

Bereits lagen zwei Zigarettenstummel im Aschenbecher vor Riccardo Tataranni, der in der Abendsonne auf der Terrasse seiner Wohnung sass. Seine ältere Schwester Graziella, die in Süditalien Oliven pflanzte und Zimmer an Touristen vermietete, war zuletzt an Weihnachten in der Schweiz gewesen. Die jüngste der drei Geschwister, Luisa, wohnte im Berner Oberland, was die Reise zu ihr nicht wesentlich kürzer machte als jene zu Graziella. So sahen sie sich kaum öfter als ein Mal pro Jahr, standen aber in regem Kontakt über WhatsApp. Die aktuelle Konversation hatte er selbst eröffnet, weil er seinen Schwestern ein paar Fragen stellen wollte. Bisher war er allerdings nicht dazu gekommen, denn der Austausch aller Neuigkeiten über Partner, Kinder, kürzliche Anschaffungen und geplante Unternehmungen zog sich in die Länge.

Er zündete sich die dritte Zigarette an und unterbrach das Geplänkel. «Gerardo Mazzotta ist kürzlich gestorben. Ich war an der Beerdigung», schrieb er.

«Wer?», fragte Graziella.

Riccardo rauchte in aller Ruhe weiter, während Luisa erklärte und Graziella zurückfragte, bis sie die ganzen Familienverhältnisse der Mazzottas wieder präsent hatte: die geschiedenen Eltern, die Tochter Silvia Häberli-Mazzotta, den verstorbenen Sohn.

«Mamma war nicht an der Beerdigung», berichtete er. Auch ohne die sofortigen Fragen hätte er weitergeschrieben, seine Schwestern tippten lediglich schneller als er. «Sie sagt, er sei es nicht wert, er sei ein böser Mensch gewesen.» Geduldig wartete er ab, bis der Sturm der Meldungen seiner Schwestern etwas nachliess, dann fuhr er fort: «Sie hat dreiundvierzig Jahre lang nicht mit ihm gesprochen. Wisst ihr warum?»

Es dauerte länger als gewohnt, bis die nächsten Beiträge auftauchten, was ihm zeigte, dass seine Schwestern verblüfft waren und tatsächlich nachdachten. Dann berichtete zuerst Luisa von Erinnerungsfetzen, die den seinen glichen: Wie seine Mutter beharrlich ausgewichen war, um Mazzotta auf der Strasse nicht grüssen zu müssen. Ihr verächtliches Schnauben oder ihr zur Maske erstarrtes Gesicht, wenn von ihm die Rede war. Graziella erinnerte sich ebenfalls an Vorkommnisse dieser Art, hatte indessen damals wie heute keine Erklärung dafür. Zu dritt versuchten sie, das Verhalten ihrer Mutter zu ergründen. Am Schluss waren sie kein bisschen schlauer als zuvor.

Peter Wasescha schaute auf die Uhr und nickte befriedigt. Seine Planung hatte sich einmal mehr als hervorragend erwiesen, seine Wandergruppe war zufrieden und müde. Die halbe Stunde Weg, die sie noch vor sich hatten, war ein Kinderspiel, das Postauto problemlos zu erreichen. Nur mit halbem Ohr hatte er dem älteren Herrn zugehört, der plaudernd neben ihm ging, ihn nun aber aufhorchen liess.

«Völlig dement war er nicht gerade», erzählte der Wanderer. «Recht verwirrt hingegen schon. Geschwatzt hat er nach wie vor gern, und wie früher auch war er etwas grossspurig. Seine Heldentaten auf den Baustellen hat er wiederholt bis zum Abwinken. Dann und wann war er allerdings weniger gut beieinander, dann plagten ihn die weniger ruhmreichen Erinnerungen. Manchmal sprach er von den schwierigen Zeiten mit seinem Sohn und von der Scheidung von der schönen Ruth.»

«Darüber hat er früher nie gesprochen», bemerkte Wasescha.

«Stimmt, ja, das wurde alles totgeschwiegen. Wehe, wenn damals jemand davon anfing! Zuweilen fehlte wenig, dass er einem an die Kehle gegangen wäre.» Der Wanderer verharrte in Erinnerungen.

«Vermutlich hat er nie darüber gesprochen und diese Probleme nie richtig verarbeitet», versuchte sich Wasescha als Hobbypsychologe. «Seine Ehe ist daran zugrunde gegangen.»

«Ach ja, die schöne Ruth! Sie hat zweifellos die schlechteste Wahl getroffen unter den zahlreichen Männern, die sie damals hätte haben können», meinte der andere. «Von ihr hat er im Altersheim allerdings nie gesprochen, dieses Kapitel schien er abgeschlossen zu haben.»

«Vielleicht hat er sie einfach vergessen», sagte Wasescha.

«Wer weiss. Er hatte vieles vergessen. Wenn ich ihn besuchte, erzählte ich ihm manchmal Anekdoten aus früheren Zeiten. Weisst du noch … und so weiter. Er konnte sich kaum an eine davon erinnern, während er sie vor Jahren jeweils selbst erzählt hatte. Demenz ist gnadenlos. Und heimtückisch.»

«Wenn das Schicksal seines Sohnes das einzige war, was ihn quälte, war die Krankheit gnädig mit ihm», warf Wasescha ein. «Sie hat ihn alle anderen unrühmlichen Vorkommnisse in seinem Leben vergessen lassen.»

Der Wanderkollege widersprach. «Da bin ich mir nicht so sicher. Oft, wenn ich ihn besuchte, sprach er vom Bau des Hochhauses in Thusis. Hochhaus! Dass ich nicht lache. Eine grössenwahnsinnige Bezeichnung in der heutigen Zeit, aber damals waren die zwölf Stockwerke etwas Neuartiges. Bisweilen gab er damit an, wie er am Bau mitgearbeitet habe, aber manchmal erzählte er wirres Zeug, das ich nicht verstand. Vielleicht ist dort etwas passiert, das er ebenfalls totschwieg, keine Ahnung.»

«Das glaube ich kaum», erwiderte Wasescha. Er blieb kurz stehen, um zu prüfen, ob alle seine Schäflein noch auf Kurs waren. Als er sich davon überzeugt hatte, beschleunigte er den Schritt, um seinen Gesprächspartner wieder einzuholen. «Möglicherweise war der Bau des Hochhauses die erste grosse Herausforderung für ihn. Er meisterte sie gut und sonnte sich zeitlebens im Erfolg.»

«Kann sein», meinte der Wanderer. «Manchmal regte er sich schrecklich auf, wenn er von irgendwelchen italienischen Kollegen erzählte. Weswegen weiss ich allerdings nicht, er sprach zu wirr.»

«Gewiss irgendwelche Streitereien, die er als junger Bursche in seiner Heimat austrug. Rivalenkämpfe um das hübscheste Mädchen.» Weiter reichte Waseschas Fantasie nicht.

Jene des Wanderkameraden war lebhafter. «Wer weiss, was dort unten alles ablief. Mafia, Erpressungen, Prügeleien? Ich hatte zwar den Eindruck, er spreche von der Zeit, als er bereits hier im Tal lebte. Mir schien, da gab es etwas, das ihn stark beschäftigte. Ich verstand allerdings nicht, wovon er sprach.»

«Mafia, Erpressungen, Prügeleien in Thusis?», fragte Wasescha spöttisch. Der Bahnhof kam in Sicht, es wurde Zeit, das Geplauder zu beenden.

«Wer weiss», meinte der Wanderer nachdenklich.

5

Seit Tagen strengte sich Rösli Sjögren an, kein bisschen Gerede auf den Gängen und in der Cafeteria des Altersheims zu verpassen. Gegenwärtig befand sie sich aus diesem Grund in der Aufenthaltsecke auf ihrem Stockwerk, wo es allerdings nichts Neues aufzuschnappen gab. Ausser ihr sassen einzig zwei Männer aus dem Rheinwald an einem Tisch. Der eine flocht aus Lederbändeln Zöpfe, unermüdlich, der andere schaute ihm dabei zu und döste dann und wann ein. Alle zehn Minuten wechselten sie in ihrem Walser Dialekt ein paar Worte miteinander. Immer dieselben paar Worte. Rösli konnte ungestört nachdenken.

Weitaus am häufigsten beschäftigten sich die Klatschrunden, die Rösli belauschen konnte oder an denen sie teilnahm, mit den Frauengeschichten in Mazzottas Leben. Dies wohl eher aus Freude an Skandalen als aus sachlicher Berechtigung. Vor allem an den Tischen in der Cafeteria wurden Geschichten herumgeboten. Mazzotta wurde mit Entrüstung, aber auch mit widerwilliger Bewunderung als Liebhaber in zahlreichen Affären geschildert. Rösli kannte die Menschen gut genug, um von dem Gehörten drei Viertel zu streichen. Aber selbst das verbleibende Viertel reichte aus, um ein aktives Liebesleben anzunehmen, weshalb wiederum ein uneheliches Kind nicht unrealistisch war. Oder sogar mehrere. Das war aber nur dann von Belang, wenn das aussereheliche Kind als seines registriert worden war oder wenn es nachträglich Mazzottas Vaterschaft beweisen wollte, um etwas vom Erbe zu bekommen. Dass ein verleugneter Sprössling aus jahrzehntelangem Hass zum Mörder geworden war, schien Rösli zu weit hergeholt. Wie dem auch sei, überlegte sie abschliessend, sowohl ein anerkannter als auch ein via DNA-Test aufgezwungener Erbe konnte nur durch die zuständige Behörde gefunden werden. Das bedeutete, dass sie warten musste, bis ihr darüber etwas zu Ohren kommen würde.

Dasselbe galt für die bisher einzige ihr bekannte Erbin, Silvia Häberli-Mazzotta. Da Mazzottas Tochter in Basel wohnte, wusste man hier wenig über ihre Lebensumstände. Auch diese Nachforschungen musste Rösli der Polizei überlassen, was sie nicht bedauerte.

Was noch nie im Tratsch geäussert worden war, war die Möglichkeit eines Täters oder einer Täterin aus dem Altersheim. Natürlich konnte keiner der Bewohner den Alten getötet haben, niemand erfüllte die dazu nötigen physischen Voraussetzungen. Rösli stellte sich einen Mörder vor, der mit dem Rollator am Tatort erschien. Oder einen, der zuerst den Gehstock abstellen musste, bevor er, mit zitternden Knien, das Kissen packte und Mazzotta aufs Gesicht presste. Die Bewohner kamen für die Tat nicht in Frage, wohl aber die Angestellten. Darüber gab es jedoch keine Spekulationen. Rösli überlegte, was der Grund sein mochte: Weil keine Verbindungen zwischen Mazzotta und den Mitarbeitenden bekannt waren, die über das Arbeitsverhältnis hinausgingen? Weil sich niemand vorstellen konnte, dass sich jemand vom Personal für die Ermordung Mazzottas hatte bezahlen lassen? Rösli fand, eine interne Täterschaft könne nicht ausgeschlossen werden.

Sie angelte die Zeitung aus dem Netz an ihrem Rollator und las zum vierten Mal die Polizeimeldung. Die Staatsanwältin mit dem unaussprechlichen Namen, der beinahe eine ganze Spaltenbreite einnahm, hatte in sprödem Juristendeutsch bekannt gegeben, dass Mazzotta mit einem Kissen erstickt worden sei. Es werde in verschiedene Richtungen ermittelt, gebe aber noch keine konkreten Ergebnisse. Sie gab es auf, zwischen den Zeilen weitere Informationen zu entdecken.

Rösli überlegte, was sie über Mazzottas Leben wusste. Sie kannte ihn, seit er als Bauarbeiter angefangen und seine Freizeit zusammen mit den anderen Italienern mit Boccia, Angeln, Fussballspielen verbracht hatte. Ob in der damals jungen italienischstämmigen Gemeinschaft etwas Bedeutendes vorgefallen war? Oder war vielleicht beim Bau des Hochhauses etwas krumm gelaufen? Beides wäre zwar denkbar, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass Mazzotta so etwas angedeutet hätte. Ebenso wenig wusste sie, wie sie an weitere Informationen darüber kommen könnte.

Mehr Fragen stellte sich Rösli, wenn sie Mazzottas Einstieg in der Süsswaren Thusis AG und seinen gesellschaftlichen Aufstieg betrachtete. War er bei den Süsswaren ein Mann der ersten Stunde oder war er später dazu gestossen? War er finanziell beteiligt, und wenn ja, aus welcher Zeit stammte seine Beteiligung, woher hatte er das Geld dafür gehabt? Hatte er ausser der Immobilienverwaltung noch andere Aufgaben wahrgenommen? Rösli seufzte. Sie brauchte eine Broschüre der Firma, eine Jubiläumsschrift oder irgendein anderes Papier, in welchem diese Informationen zu finden waren.

Das Grübeln strengte Rösli an, sie war erschöpft und wollte sich in ihrem Zimmer etwas ausruhen. Sie steckte die Zeitung zurück ins Netz an ihrem Rollator und rüstete sich zum Aufbruch. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich in ihrem Zimmer war, wo sie sich hinlegte und sofort einschlief.

Anderthalb Stunden später erwachte sie leicht verwirrt. Als sie sich wieder zurechtfand, erinnerte sie sich, womit sie sich vor ihrem Nickerchen beschäftigt hatte. Mit der Süsswaren Thusis AG, über die sie sich Unterlagen besorgen musste. Plötzlich lachte sie auf. Warum Unterlagen! Wer brauchte Papier, wenn er einen Urenkel hatte, der googeln konnte! Sie würde Simon ein Mail schreiben und ihm den ersten Rechercheauftrag erteilen.

Silvia Häberli-Mazzotta stand am Fenster ihres Büros und blickte über die Dächer von Basel. Es fiel ihr überraschend schwer, ihren Vater aus ihren Gedanken zu verbannen und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sie hatte über Jahre überhaupt keinen Kontakt zu ihm gehabt, und auch in den weniger konfliktbeladenen Zeiten war ihr Verhältnis selten harmonisch gewesen. Mitunter hatte sie ihn gehasst, manchmal verachtet, oft ignoriert, und er war ihr dabei in nichts nachgestanden. Erst in den letzten Jahren hatten sie einen Umgang gefunden, der für beide stimmte: weder besonders vertraulich noch herzlich, eher vorsichtig respektvoll. Ohne Worte waren sie sich einig, dass sie sich zwar nicht besonders mochten, sich aber bewusst waren, dass ihre Verwandtschaft eine Bindung schuf, die sie nicht lösen konnten.

Darüber hinaus versuchte sich ein Gedanke in ihr Bewusstsein vorzuarbeiten, den sie über Jahrzehnte erfolgreich verdrängt hatte. Silvia Häberli-Mazzotta musste sich der Erkenntnis stellen, dass sie nicht wenige ihrer Charaktereigenschaften von ihrem Vater geerbt hatte. Und dass einige davon genau jene waren, die sie an ihm verachtet hatte: Die Kälte, mit der er Entscheidungen fällen konnte. Sein Ehrgeiz, auf der Erfolgsleiter rasch nach oben zu klettern. Die Skrupellosigkeit, die er an den Tag legen konnte. Seine zeitweilige Härte gegenüber anderen, einschliesslich Frau, Tochter und Sohn.

Ihr Ehrgeiz hatte sie so weit gebracht, dass sie mit ihren zweiundvierzig Jahren fünfzig Prozent einer Pharmazulieferfirma besass, die sie mitbegründet hatte und die mittlerweile achtzig Angestellte beschäftigte. Wer so rasch so hoch hinaufgelangen wollte, durfte sich nicht mit Zweifeln und Skrupeln aufhalten. Sie besass die nötige Kaltblütigkeit, Entscheidungen zu fällen und zu kommunizieren, auch wenn sie riskant oder unbequem waren. Dass sie sich damit nicht nur Freunde geschaffen hatte, lag auf der Hand, störte sie aber nicht. Was zählte, war der Erfolg.

Unwillkürlich schlug ihr Herz schneller. Der Erfolg hatte ihr über Jahre Recht gegeben. Jetzt aber schrammte ihr Unternehmen haarscharf an einer Katastrophe vorbei. Ein Grosskunde, der Konkurs angemeldet hatte. Ein anderer, der mit seinen Zahlungen in Verzug war. Die kostspielige Erweiterung des Firmengebäudes um einen neuen Bürotrakt. Drei Ereignisse mit hohem Finanzbedarf in kurzer Zeit. Eines hätten sie und ihr Geschäftspartner verkraften können. Zwei hätten schmerzhafte Massnahmen erfordert, wären aber zu meistern gewesen. Drei bedeuteten den Untergang, wenn sie nicht rasch zu Geld kamen.

Bislang wusste niemand ausserhalb der obersten Führungsetage vom finanziellen Engpass. Die baldige Eröffnung des neuen Bürotrakts hatten sie grossspurig verkündet, auch, dass die hochmodernen Räume in dreien der sechs Stockwerke vermietet würden. Das hatten sie keineswegs im Sinn gehabt. Dieser Schritt zwang sich ihnen auf, und selbstverständlich verkündeten sie ihn nun als von Anfang an geplant und bestens durchdacht. Bereits hatten sich erste Interessenten gemeldet, die Vermietung aller Räume innert eines Jahres schien realistisch. In dieser Zeit würde auch ein Teil der ausstehenden Zahlungen eintreffen. In einem Jahr könnten sie gerettet sein. Bis dahin mussten sie ums Überleben kämpfen.

Hatte die Zukunft vor wenigen Wochen noch rabenschwarz ausgesehen, zeigte sie sich nun, dem Himmel sei Dank, in fahlen Pastelltönen. Der Dank an den Himmel war durchaus wörtlich zu nehmen, denn dort vermutete sie zwar nicht ihren Vater, wohl aber denjenigen, der den Befehl erteilt hatte, ihn ins Jenseits zu holen. Silvia Häberli-Mazzotta wusste um die Geldmittel, über die ihr Vater verfügt hatte. Sie reichten aus, um ihre Firma zu retten.

Sie atmete tief durch. Es gab einen zweiten Grund, dem Himmel zu danken, und das tat sie seit Jahren an jedem einzelnen Tag. Sie hatte eine Familie, die sie über alles liebte. Für ihren Mann und ihre Kinder hätte sie Firma und Karriere sofort aufgegeben, wenn das Schicksal sie herausgefordert hätte, was zum Glück nicht der Fall war. Während sie im Geschäftsleben als kompromisslos galt, zeichnete sie sich zu Hause als grossherzig und liebevoll aus. Diese ebenfalls kompromisslose Hingabe hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Sie stand in krassem Gegensatz zu den Gefühlen, die ihr Vater gegenüber seiner Familie gehegt hatte, und auch dafür dankte sie dem Himmel.

Allmählich senkte sich die Sonne über der Stadt. Zehn Tage war ihr Vater nun tot. Sie schätzte, dass es noch wenige Wochen dauern würde bis zur Freigabe des Erbes. Dann würde sie über den Berg sein. Sie fühlte sich ausgelaugt. Die Sorgen, die Trauer, beides kostete Kraft. An diesem Tag würde sie nichts mehr auf die Reihe bekommen, besser ging sie früh nach Hause, um aus dem Zusammensein mit ihrer Familie neue Energie zu schöpfen.

Erich Eichenberger gab sich Mühe, nicht ständig zu grinsen, während er im Zug sass und durchs Fenster die raue Landschaft zwischen Davos und Filisur an sich vorüberziehen liess. In den fünfunddreissig Jahren seines Lebens hatte er kein einziges Mal mit seinem Vater gesprochen. Als er in früher Kindheit begriff, dass die meisten seiner Spielkameraden einen Vater hatten, sah er keinen Anlass, seiner Mutter Fragen zu stellen. Andere hatten Mutter und Vater, er hatte Mutter und Grossmutter. Andere Familien hatten eine Schreinerei oder einen Laden oder eine Pizzeria, seine hatte eine kleine Pension in einem der Weiler südlich von Davos. Sein bester Freund hatte einen Hund und zwei Schwestern, er hatte eine Katze und vier Hühner. Für ihn gab es nichts zu hinterfragen, seine Welt war in Ordnung. Als er grösser wurde, hatten sich seine Kameraden hie und da gewundert, wo denn sein Vater sei. Er hatte wahrheitsgemäss zur Antwort gegeben, er habe keine Ahnung, und damit hatte es sich. Erst, als er in der Oberstufe war und ihn ein Mitschüler damit aufziehen wollte, dass er nicht einmal seinen Vater kenne, hatte er seiner Mutter die längst überfälligen Fragen gestellt. Sie hatte ihm bereitwillig geantwortet, sein Vater lebe in Thusis, zahle etwas an sein Essen und seine Kleider und wolle darüber hinaus nichts mit ihnen zu tun haben. Erich nahm das achselzuckend zur Kenntnis. Ob er nett sei, hatte er mässig interessiert gefragt. Es gehe so, hatte die Mutter geantwortet, aber immerhin habe er gut ausgesehen, deshalb sei er so ein hübscher Bursche.

Erich ertappte sich dabei, dass er schon wieder zum Fenster hinaus grinste, und versuchte erneut, seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Nicht lange nach diesem Gespräch hatte ihn seine Mutter bei einem Einkauf in Chur plötzlich am Oberarm gepackt und ihm etwas zugeflüstert. Sie hatten die Strassenseite gewechselt und waren scheinbar zufällig auf einen Mann zugeschlendert, den seine Mutter mit gespielter Überraschung grüsste. Dieser war etwas unwillig stehen geblieben und hatte ein paar Worte mit ihr gewechselt, bevor er seinen Weg fortsetzte. Seine Mutter hatte Erich angelacht und ihm mitgeteilt, dass das sein Vater gewesen sei. Aha, hatte er geantwortet. Allzu gut sehe der gewiss nicht aus, hatte er noch hinzugefügt, seine Mutter habe übertrieben. Er solle fünfzehn Jahre und ein paar Sorgen abziehen, hatte seine Mutter gemeint, dann dürfte sein Urteil anders lauten.

Nach dem Umsteigen in Filisur setzte er sich absichtlich so hin, dass er rückwärtsfuhr, damit er den kühnen Bau des Landwasserviadukts besser bestaunen konnte. Über hundert Jahre hatte es auf dem Buckel, trotzdem kannte er nur wenige Konstruktionen im Strassen- oder Schienennetz, die es mit seiner Perfektion aufnehmen konnten. Ob er wohl Bauingenieur geworden wäre, wenn das seine schulischen Leistungen zugelassen hätten?, fragte er sich. Allerdings nur kurz. Es war müssig, darüber nachzudenken. Er war Gemeindearbeiter in Davos, und das würde er bis zu seiner Pensionierung bleiben. Schneeräumung im Winter, Pflege der Blumenbeete im Sommer, dazu diverse Tätigkeiten in der Abfallent- und Wasserversorgung. Langweilig würde es ihm in den nächsten dreissig Jahren bestimmt nicht werden.

Der Zug verliess den Tunnel und befand sich unvermittelt auf dem Viadukt. Tief unten sah er den Picknickplatz am Wanderweg, an dem sich eine Familie aufhielt. Hinter ihm wurden immer mehr rote Bahnwagen aus dem Tunnel auf die Brücke gezogen, die sich in einer eleganten Kurve über den Fluss schwang. Wie immer versuchte er, Unregelmässigkeiten im Mauerwerk der Pfeiler zu entdecken, Stellen, an denen die Bauleitung mit dem Material gespart hatte, wohl wissend, dass bei fünfundsechzig Metern Höhe der mittlere Bereich des Bauwerks nicht aus der Nähe studiert werden konnte, weder von den Bahnpassagieren oben noch von den Fussgängern unten. Viel Zeit blieb ihm dazu nicht, nach knapp hundertfünfzig Metern war die Brücke überquert, und kurz darauf verschwand er im nächsten Tunnel. Er sah nur noch sein Spiegelbild, in das sich bald wieder ein Lächeln schlich.

Wie viel ist es wohl?, fragte er sich. Misstrauisch hatte er das amtliche Couvert gemustert, als er es am Küchentisch aus dem Poststapel zog. Wenig später hatte er einen Luftsprung gemacht und lauthals gelacht. Nicht, weil er eine Halbschwester hatte. Sondern weil er und diese Silvia Häberli-Mazzotta das Vermögen ihres gemeinsamen Vaters erbten. Betrag stand keiner im Brief, aber er wusste von seiner Mutter, dass sein Vater keineswegs am Hungertuch genagt hatte. Die Hälfte von ein paar Hunderttausend waren immer noch ein paar Hunderttausend.

Als er eine Stunde später bei der Treuhänderin Platz genommen hatte, die sich im Auftrag seiner Halbschwester um die Finanzen seines Vaters gekümmert hatte und nun das Erbe aufteilte, wurde ihm endlich bewusst, dass er besser ihren Brief genauer gelesen hätte, anstatt Luftsprünge zu machen. Zunächst hatte sie spürbar irritiert reagiert, als er sie freudestrahlend begrüsst hatte. Danach hatte sie ihm, womöglich noch eine Nuance kühler als zuvor, die anderen beiden Personen vorgestellt: Frau Schäfer und Herr Camenisch von der Kantonspolizei.

Während er mechanisch deren Fragen beantwortete, fragte er sich, warum die Polizei anwesend war. War das immer so, wenn unverhofft ein Erbe auftauchte? Musste sie prüfen, ob der Eintrag beim Zivilstandsamt richtig war? Hatte die Treuhänderin sie aufgeboten, um zu bestätigen, dass alles seine Richtigkeit hatte? Oder war am Ende seine Halbschwester auch eingeladen, die plötzlich nur noch Halberbin war und deshalb handgreiflich werden könnte, was die Polizei verhindern sollte? Das alles ergab für ihn keinen Sinn.

«Ihr Einkommen ist nicht hoch, und das Leben im Kurort ist teuer», sagte die Polizistin. Erich Eichenberger nickte. «Stecken Sie in Geldnöten?»

«Nein, das kann man nicht sagen», antwortete er. «Ich habe keine Familie und keine hohen Ansprüche, es reicht schon.»

«Trotzdem haben Sie vorhin gesagt, Sie hätten bereits Pläne, was Sie mit dem Geld anfangen wollten.»

Erich wandte sich dem jungen Mann zu, der die Frage gestellt hatte. «Was heisst Pläne, ein paar Ideen halt. Die hätten Sie wohl auch, wenn Sie plötzlich zu Geld kämen, obwohl Sie wahrscheinlich mehr verdienen als ich!»

«Sie wussten, dass Ihr Vater Geld hatte, das haben Sie vorher bestätigt», sagte der Polizist, ohne auf die Bemerkung einzugehen.

Erich nickte.

«Wie oft haben Sie darüber nachgedacht, was Sie damit alles anfangen könnten, wenn Ihr Vater endlich sterben würde?»

Verdattert schüttelte Erich den Kopf. «Kein einziges Mal! Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich ihn beerben könnte.»

«Spielen Sie nicht den Naivling», wies ihn Frau Schäfer zurecht. «Sie wussten, dass Ihr Vater Geld hatte. Sie wussten, dass er Sie als Sohn anerkannt hatte und demzufolge auch, dass Sie ein rechtmässiger Erbe sind. Selbstverständlich haben Sie darüber nachgedacht, wie lange es wohl dauern würde, bis Sie das Erbe antreten könnten.»

«Es ist mir nie in den Sinn gekommen», wiederholte Erich. «Ich habe kaum je an meinen Vater gedacht. Es war mir nicht bewusst, dass sein Geld einmal mir gehören würde!»

«Nur zur Hälfte», berichtigte Camenisch. «Das war Ihnen wohl nicht klar, als Sie ihm das Kissen aufs Gesicht drückten.»

Verständnislos blickte Erich von einem zum andern. «Das Kissen?», stammelte er.

«Jetzt stellen Sie sich nicht so an», tadelte ihn Camenisch. «Ihr Vater starb, weil ihn jemand mit einem Kissen erstickte. Das stand schon vor einer Woche in der Zeitung. Wollen Sie behaupten, Sie wissen das nicht?»

«Nein, natürlich nicht, das habe ich gelesen.»

«Aber Sie wussten es schon, bevor es bekannt gegeben wurde», behauptete Frau Schäfer. «Weil Sie es waren, der ihn mit seinem Kissen erstickt hatte.»

«Nein!», rief Erich. «Ich wusste nicht einmal, dass er im Altersheim war. Woher auch? Wir hatten keinen Kontakt. Ich wusste gar nicht, dass es in Thusis ein Altersheim gibt. Woher auch? Ich war nie dort, es hat mich nie interessiert!»

Die Freude an seinem Erbe war ihm vergangen. Er hätte es wohl ausgeschlagen, wenn ihm jemand im Voraus gesagt hätte, wie viel Ärger es mit sich bringen würde. Er brauchte weder ein Auto noch neue Möbel, und in die Ferien konnte er weiterhin mit seinem Camper an den Kalterersee. Wäre dieses vermaledeite Couvert bloss im falschen Briefkasten gelandet!

6

Am folgenden Morgen berichteten Meta Schäfer und Camenisch Buess vom Gespräch mit Erich Eichenberger. Seine Laune sank erneut in den Keller. Er hätte dabei sein, nicht im Nachhinein aus zweiter Hand erfahren wollen, was der Erbe zu sagen hatte. Sogar mit diesen verfluchten Krücken hätte er Eichenberger befragen können, aber nein, man hatte seine Teilnahme nicht einmal in Erwägung gezogen. Stattdessen war er zu Hause auf der Terrasse herumgesessen, hatte sich über alles und jeden aufgeregt und war damit wohl nicht nur Sidonia auf die Nerven gegangen, sondern auch seiner Katze, den Hühnern und womöglich den Feriengästen in den Nachbarhäusern. Und am allermeisten sich selbst.

«Falls er nicht ein sehr guter Schauspieler ist, war er sich tatsächlich nicht darüber im Klaren, dass er ein Motiv hatte, seinen Vater umzubringen», kam Meta zum Schluss. «Ich bin geneigt zu glauben, dass er sich das vor unserem Gespräch nie überlegt hat. Camenisch?»

Dieser zuckte die Achseln. «Schwer zu glauben, dass ihm nie bewusst wurde, dass er seinen Vater beerben würde. Kann man wirklich so uninteressiert durchs Leben gehen? Nachdem ich ihn persönlich kennengelernt habe, muss ich allerdings sagen: Man kann. Der Typ ist zufrieden mit sich und der Welt und macht sich nicht allzu viele Gedanken.»

«Wir werden sein Umfeld und seine finanzielle Lage prüfen. Viel Hoffnung, dabei auf etwas zu stossen, habe ich nicht.» Meta seufzte. «Von den Kollegen in Basel haben wir noch nichts gehört. Wir wissen noch nichts über Silvia Häberli-Mazzottas Lebensumstände und ebenfalls nichts darüber, ob sie von ihrem Halbbruder wusste.»

«Wenn sie das erfährt, wäre ich gern dabei», sagte Camenisch hämisch. «Dieses Gesicht möchte ich sehen, falls ihr das wirklich neu ist. Der Umsatz der Pharmaindustrie wird steigen, bis die sich wieder beruhigt hat!»

Meta Schäfer verdrehte die Augen. «Walter, was weisst du über den Bau des Hochhauses?», fragte sie Buess.

«Das Gebäude entstand in den Siebzigerjahren. Der Bauplatz in der Ebene am Rhein, die Gebäudehöhe, alles war ungewohnt und fortschrittlich. Bis heute ist es weit und breit das einzige Hochhaus. Die Wohnungen hatten für die damalige Zeit einen grosszügigen Grundriss und sind auch für heutige Ansprüche durchaus attraktiv. Kurz: Der Bau war innovativ und erfolgreich.»

«Gab es keine Gegner?», fragte Camenisch.

«Doch, die gab es mit Sicherheit. Das Gebäude war dominant, nicht wenige hielten es für einen Schandfleck. Vermutlich rief es auch Neider auf den Plan, die den Bauherren den Erfolg missgönnten. Allerdings habe ich bisher nichts gefunden, das aus dem bei Projekten dieser Grössenordnung üblichen Rahmen fällt.»

«Gehört jemand zu den Verlierern?», fragte Meta. «Zulieferer, Anwohner, Konkurrenten?»

«Auch darüber habe ich bisher nichts gefunden, werde mich aber noch tiefer hineinknien müssen.» Blödmann, schalt er sich. Verfolgte ihn sein Unfall nun sogar in den Redewendungen, die er benutzte? Reinknien würde er sich noch ein paar Monate nicht können. Das spöttische Grinsen des jungen Kollegen machte die Sache nicht besser.

«Ich kann mir gut vorstellen, dass man bei einem Bauprojekt dieser Grössenordnung mogeln kann», wurde Camenisch ernst. «Das Material, das verwendet wird, ist schlechter als das, was man offeriert und verrechnet hat. Irgendwelche Stützen sind weniger tragfähig, als sie sein sollten. Ich habe keine grosse Ahnung vom Bauwesen, aber das spielt keine Rolle, denn bescheissen kann man immer. Wenn also beim Bau des Hochhauses beschissen wurde, brauchte man Bauarbeiter, die dabei mitmachten. Wenn ein Bauarbeiter mitmachte, kannten ihn die Vorgesetzten. Wenn sie ihn kannten, diente das seinem Erfolg in der Branche.»

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