Loe raamatut: «Ein Leben voller Abzweigungen.»

Font:

leykam: seit 1585

ROBERT FRÖWEIN

Ein Leben voller Abzweigungen

Taxifahrer aus aller Welt über ihr Leben in Österreich


Copyright © Leykam Buchverlagsgesellschaft m.b.H. Nfg. & Co. KG, Graz – Wien 2021

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: Annalena Weber, Buchdesign, Hamburg

Coverfoto: Hintergrund: Map tiles by Stamen Design,

Auto: Designed by macrovector / Freepik

Lektorat: Sabine Schönfellner

Satz: Gerhard Gauster

Druck: Finidr, s.r.o.

Gesamtherstellung: Leykam Buchverlag

www.leykamverlag.at

ISBN 978-3-7011-8186-5

eISBN 978-3-7011-8222-0


Die Drucklegung des vorliegendenBandes wurde unterstützt durch: Gefördert von derStadt Wien Kultur

Inhalt

Geschichten hinter Geschichten

Corona als Dämpfer

Gelassenheit in jeder Lage

Familie geht vor

Der beste Job der Welt?

Widmung

Dieses Buch widme ich meinem Vater Sepp, der mir 35 Jahre lang als Lebensbegleiter mit Rat und Tat zur Seite stand. Genieße die Lektüre – wo auch immer du jetzt bist.

Namen, Herkunftsländer und einzelne Details wurden zum Schutz der Persönlichkeitsrechte verändert.

Geschichten hinter Geschichten
Auge um Auge, Zahn um Zahn

4,6 Sterne Durchschnittsbewertung. Das nackte Urteil für eine ganze Zunft. Hinter dieser Zahl steckt die Existenz eines Menschen. Es ist völlig egal, wie er heißt, woher er kommt, welche Geschichte er hat. Musste er als Kind in einem Dritte-Welt-Land Hunger leiden? Wurde er im Elternhaus gezüchtigt? War die lebensbedrohliche Flucht über den Seeweg es wert? Ist Österreich wirklich das gelobte Land und Wien sein süßes Herz? Wie schwierig war es, von Null auf Deutsch zu lernen? Ist der Rassismus der Österreicher wirklich so wenig versteckt, wie oft behauptet wird? Ist die Ehefrau in einer an und für sich aufgeschlossenen Millionenmetropole wegen ihres Kopftuchs mit Alltagsproblemen konfrontiert? Und was heißt es überhaupt, eine bewegte Geschichte zu haben, die kaum jemand hören will? All diese Fragen bleiben unbeantwortet, weil sie auch kaum gestellt werden. »Die Leute sind prinzipiell schon freundlich, aber die meiste Zeit ist jeder mit seinem Smartphone beschäftigt. Zwischenmenschlichkeit findet sehr oberflächlich statt.« Die 4,6 Sterne heißen Walid und fahren mich an einem kühlen Herbstabend von Hernals zum Wiener Ernst-Happel-Stadion. Durch die dichten Verbindungen in der Bundeshauptstadt wäre man mit den Öffis wahrscheinlich schneller, aber auch um eine Erfahrung ärmer.

Uber ist der größte Feind des Taxis und hat das Mietwagen-Geschäft weltweit revolutioniert. Man lädt die App auf sein Smartphone, gibt seine Daten und die Kreditkartennummer ein und wird zu einem vorab angegebenen Fixpreis von A nach B kutschiert. Ohne böse Überraschungen, skurrile Umwege oder plötzliche Preisexplosionen am Taxameter. Was für den Endkunden das Paradies, ist für den Fahrer oft nur Mittel zum Zweck. 35 Prozent vom Fahrpreis kassiert der Konzern ein, der Rest bleibe Walid. 15 bis 16 Fahren pro Tag habe er, betont er stolz, aber was sich nach einer paradiesischen Vollbeschäftigung anhört, ist nichts weiter als ein täuschender Trugschluss. Der Großteil der Uber-Fahrten beschränkt sich auf Kurzstrecken. Oft nicht mehr als ein oder zwei Kilometer an ein paar Blocks vorbei. Es ist doch bitterkalt, der Straßenlärm und bitte überhaupt – nach einem langen Tag ist man nun einmal müde und kann sich so eine Fahrt mit einem »selbstständigen Unternehmer«, wie der Konzern seine Fahrer nennt, schon gönnen. Für Walid ist der Uber-Job Fluch und Segen zugleich. Einerseits ernährt er seine Familie und zahlt die Miete, andererseits reicht der Verdienst nicht aus, um ruhig zu schlafen oder sich sorgenfrei ins Wochenende zu bewegen.

Was heißt überhaupt Wochenende? Für Walid sind die beiden Tage der Ruhe und Entspannung mit Stress und Bereitschaft konnotiert. An diesen gibt es immer noch die meisten Nachtschwärmer aufzusammeln und nach Hause oder einfach ins nächste Beisl zu bringen. Den Dienstplan bekommt er von seinem Chef eine Woche im Voraus. Dienstag und Mittwoch Tagschicht, Wochenende nachts, prinzipiell kann aber immer mal jemand ausfallen und Walid muss schnell einspringen. Den Job als Uber-Fahrer hat er zu einer denkbar ungünstigen Zeit angenommen. Kurz vor Corona, als die Welt noch für ein paar Wochen ein normales Leben simulierte. Mit dem radikalen Shutdown der Bundesregierung balancierte auch Walid plötzlich auf einem schmalen Grat zwischen Unsicherheit und Nichts. »Im Prinzip gab es anfangs überhaupt keine Fahrten mehr. Als die Lokale nach ein paar Wochen wieder aufsperren durften, setzte große Erlösung ein. Die Leute wollten endlich wieder raus. Feiern, sich unterhalten, sich betrinken. Das war kurz eine fruchtbare Zeit.« Je länger die »neue Normalität« zur normalen Normalität wurde, umso mehr pendelte sich auch das Uber-Geschäft wieder ein. Mit seinen Schichten kommt Walid im Monat auf etwa 400 bis 500 Euro, die ihm nach Abzug seiner Fixkosten in der Tasche bleiben.

»Ich wohne mit meiner Frau und zwei kleinen Kindern auf 67 Quadratmetern in der Donaustadt und zahle dafür 750 Euro Miete im Monat. Schon dieser Fixkostenbetrag geht sich kaum aus.« Walid ist Ende 40 und ein gestandener Mann. Bestimmte Mimik, eine weiche, von harschen Bartstoppeln durchzogene Gesichtszeichnung, feurige Augen und diese markant tiefe, aber trotzdem Wärme ausstrahlende Stimme. Noch bis vor knapp einem Jahr war Walid Rettungsfahrer. Ein fixer Dienstplan, der nicht ständig alarmierte Kurzfristigkeit verlangte. Eine Nettozahlung von ungefähr 1.600 Euro monatlich ohne Zulagen. Urlaubs- und Weihnachtsgeld inklusive. Natürlich fünf Wochen bezahlter Urlaub im Jahr und das angenehme Gefühl, etwas wirklich Relevantes für die Gesellschaft zu tun. »Ich habe diesen Beruf geliebt und ihn mehr als sechs Jahre lang ausgeübt. Aber irgendwann musste eingespart werden und schlussendlich hat es mich getroffen. Schon vor der Corona-Krise war es nicht einfach, einen guten Fahrerjob zu bekommen und meine Fixkosten verschwinden ja nicht. Ich musste schnell handeln und bei Uber gibt es immer Plätze.« Eine lange Zukunft im Unternehmen schließt Walid trotz der prekären Arbeitslage aus. Vor allem, weil man ab 2021 nach denselben Spielregeln wie die professionellen Taxiunternehmen spielen muss – es aber keine Aussicht darauf gibt, als »selbstständiger Unternehmer« eklatante Vorteile für sich herausziehen zu können.

Obwohl die Frage des Lebens und Überlebens in diesem Berufsfeld evident ist, kann Walid über all diese Diskussionen nur milde lächeln. Seine Lebensgeschichte bringt andere Probleme mit sich als ins Auto kotzende Jugendliche nach einer samstäglichen Sauftour, unfreundliche Geschäftsleute, die ihre scheinmoralische Überlegenheit lautstark kundtun oder den latenten Alltagsrassismus, den Uber-Fahrer aus anderen Nationen nicht stoisch ertragen müssten, es aber viel zu oft resignierend tun. Vor exakt 20 Jahren flüchtete er aus seiner Heimat Afghanistan. Dort, wo knapp vier Jahre zuvor die Taliban in die Hauptstadt Kabul einmarschierten und gemeinsam mit der Al-Qaida die Truppen des Mudschaheddin-Kämpfers Ahmad Schah Massoud befehdeten. Die Frauen standen unter Hausarrest, die Männer direkt an den verhärteten Fronten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein unvorstellbares, nie enden wollendes Massaker, welches die grauen Gebirgsregionen tiefrot einfärben sollte. Für Walid ist der Gedanke an die Vergangenheit und seine alte Heimat nicht mehr als eine verpuffende Sternschnuppe. Allerdings aus Selbstschutzgründen und nicht aufgrund von Vergesslichkeit. 2000 hat er sein weniges Hab und Gut in die Hand genommen und eine unvorstellbare Tour de Force gewagt, um dem drohenden Tod zu entfliehen.

»Ich bin Flüchtling. Ganz einfach. Ich weiß noch ganz genau, wie das alles passiert ist und werde diese Zeit nie vergessen.« Walid stockt der Atem, seine Stimme bricht leicht und erstmals macht sich so etwas wie aufkommende Aggressivität bemerkbar. Er fühlt sich, als müsse er sich für etwas rechtfertigen, was in bloßen Worten gar nicht erklärbar ist. »Es geht dich nichts an, was ich getan habe und wie ich flüchten musste. Das geht niemanden etwas an.« Wie schwer muss die Last auf Seele und Herz eines Menschen drücken, der sich zum Äußersten entschließt und dabei Familie und Freunde zurücklässt? Der sich in einer derart unumkehrbaren Ausweglosigkeit befindet, in der das Verlassen der Heimat als einzige Option für eine hoffnungsvolle Zukunft bleibt? Wie fühlt sich jemand, bei dem sich das von ihm gesehene und gefühlte Grauen so immanent in seine Poren eingefressen hat, dass es ihn nach zwei ganzen Dekaden im gesegneten Herzen Mitteleuropas noch immer schaudert, wenn bloß der Name seines Geburtsstaates fällt? Und was musste er sich und anderen antun, um sich nicht nur die Freiheit, sondern auch ein Leben in Frieden erkämpfen zu können? Das Böse hat kein Gesicht – es ist für immer als unlöschbare Erinnerung verankert und lässt sich nicht vom Glanz des westlichen Sozialstaats überblenden.

Dass die neue Heimat Wien wurde, verdankt er dem Zufall. Überallhin hätte es Walid führen können, doch er ist seinem späten Lebensglück mehr als dankbar. »Egal, ob Wien, Berlin, Griechenland oder Italien – ich bin überall der Ausländer und das ist mir bewusst. Als Ausländer ohne großen Besitz hätte ich die Freiheit zu gehen, wann immer ich möchte. Aber ich bin seit 20 Jahren in dieser Stadt und das ist kein Zufall.« Politik interessiert Walid nicht. Er hat keinen Antrag auf die österreichische Staatsbürgerschaft gestellt und ist somit nicht wahlberechtigt, auch wenn er seit zwei Dekaden ein Teil des heimischen Sozialsystems ist. Hin und wieder stolpert er bei seinen Fahrten über Wahlplakate oder Botschaften, die sich unterbewusst in sein Gehirn drängen und sich in unerwarteten Momenten ihren Weg in die Freiheit bahnen. Wenn einschlägige Parteien darüber fabulieren, welches Ghetto Wien geworden oder wie dringend es notwendig sei, dass man »Wien wieder den Wienern zurückgeben« müsse, entkommt Walid sogar ein kleines Lächeln. Es ist gleichermaßen leidvoll, sarkastisch und zynisch. Solche Botschaften wirken wie Hohn auf jemanden, der sich noch Ende des letzten Jahrhunderts bei jedem Schritt davor in Acht nehmen musste, auf keine Mine zu treten. Der von fließendem Wasser und einer täglichen warmen Mahlzeit nur träumen konnte. »Diese Stadt ist ein Segen, auch wenn ich es nicht immer leicht habe.«

Der Kontakt zu seiner Familie nach Afghanistan ist trotz allem geblieben. Eine ausweglose und unlösbare Situation, die sich nicht anders gestalten lässt. Walid wird dadurch zwar nie die Dämonen der Vergangenheit los, hat dank der Social-Media-Plattformen und des Internets aber die Möglichkeit, die Verbindung zu seinen Wurzeln und seinen Ursprüngen nicht vollständig kappen zu müssen. Jedes Wort über seine alte Heimat ringt ihm schwere Anstrengungen ab. Walid ist per se nicht der lockere Typ »Uber-Ausländer«, den die Konsumenten zu ihrer Kurzstrecken-Belustigung gerne mit fünf Sternen bewerten. Er ist reflektiert, nachdenklich und fokussiert. Zu viel hat er in seinem immer noch jungen Leben gesehen, als dass er sich der einfachen Sorglosigkeit hingeben könnte. Das Gespräch fällt ihm nicht leicht, denn er musste sich selten verbalen Auseinandersetzungen stellen. Als er in Österreich ankam, fasste er als Küchenhilfe Fuß, machte schnellstmöglich den Führerschein und fuhr für unterschiedliche Dienstleister. Unterhaltungen mit unbekannten und neugierigen Menschen sieht Walid nicht als Bedrohung, betrachtet sie aber mit einer gewissen Vorsicht, die ihm als imaginärer Schutzschild dient. Dieser Mann will nicht alles verbergen, mit seiner Historie aber auch nicht in die Offensive gehen.

Die Erlebnisse während seiner Uber-Tätigkeit werden eine weitere Kerbe in seine reichhaltige Persönlichkeitsstruktur ritzen. Die Nachtschichten sind unerlässlich, nagen aber unentwegt am inneren Frieden des ruhigen Familienvaters. »Die Betrunkenen pöbeln herum, sie zanken, sie sind kurz davor sich zu übergeben und wollen dann noch wegen der Fahrtstrecke und der Kosten streiten. Es ist nicht immer einfach, Ruhe zu bewahren und manchmal muss ich mit der Polizei drohen. Ich hasse es, aber was bleibt mir übrig, wenn sich die Menschen überhaupt nicht mehr einkriegen?« Den Hedonismus der westlichen Gesellschaft sieht Walid nicht als Feind, ganz nachvollziehen kann er die alltäglichen Probleme seiner Mitfahrer aber nicht immer. Manchmal, weil sie ihm nichtig und unnötig erscheinen. Manchmal, weil es schlichtweg am Phonetischen scheitert. »Ich lebe seit 20 Jahren in Wien und habe sofort Deutsch gelernt, bin aber bis heute nicht zufrieden damit, wie ich es spreche«, zeigt er sich in einem Bereich selbstkritisch, in dem es gar nicht nötig wäre. »Ich finde nicht, dass der Kurs damals gut war und ich wurde schnell mir selbst überlassen. Was die Leute oft übersehen ist, dass man als Neuling in einem Land nicht nur die Sprache erlernen muss und alles zusammen schnell etwas viel wird.« Walid hofft darauf, bald wieder Rettungswägen durch Wien zu lenken und somit auch Menschenleben retten zu können. Bis es so weit ist, ist er aber nur ein nachnamenloses Gesicht mit einer einfachen Sterne-Bewertung, für das es in neun von zehn Fällen kein Trinkgeld gibt. 4,6 – der Zahlencode eines bewegten Lebens.

Aus dem Osten organisiert

Ein Chipssackerl flattert den Gehsteig in der Wiener Muthgasse entlang. Der Wiener Wind wird dem Klischee an diesem kalten Dezembertag gerecht und weht das Sackerl unerbittlich voran, die Schals der flanierenden Passanten in die Höhe und die wenigen Baumwipfel im verbauten Gebiet in alle Richtungen. Ein unwirtlicher Tag in einem unwirtlichen Jahr. Spontan entschließe ich mich aufgrund des Wetters nicht den Weg zur U4 anzutreten, sondern ein Uber zu bestellen. Wenige Minuten hinter einem Simsvorsprung zu warten ist bei diesen Bedingungen angenehmer als gegen die harschen Böen anzukämpfen, die einem trotz der eng ansitzenden FFP2-Maske die Lippen einfrieren lassen. Nach knapp zwei Minuten schleicht sich der elektroangetriebene Toyota Prius sanft und leise wie eine Katze auf der Pirsch an mich ran. Das fein geputzte Innenleben ist bei Uber-Fahrern mittlerweile Usus und eine angenehme Nebenerscheinung der steigenden Qualitätsansprüche bei der Mietwagenflotte. Frisch auf den Ledersitz gefläzt genieße ich die angenehme Kachelofentemperatur nach dem bissigen Sturm. Mein heutiger Fahrer heißt Hristo und hat sich offenbar schon länger nicht mehr aus seinem Arbeitsgerät geschält. Er sitzt leger mit hellblauer Jeans, einem dünnen grauen Pullunder und der obligatorischen Maske am Steuer. Das Lenkrad lässig mit einer Hand im Griff und mit der anderen leidenschaftlich gestikulierend.

Hristo ist gebürtiger Bulgare, aber seit vielen Jahren in Wien wohnhaft. Er gehört trotz seines jungenhaften Gesichts zu den Urgesteinen der österreichischen Uber-Flotte und war schon ganz am Anfang mit an Bord. Allerdings nicht durchgehend und schon gar nicht mit kritikloser Begeisterung. Hristo schneidet die Kurve in der Gunoldstraße und übersieht dabei beinahe eine Fußgängerin gesetzteren Alters, deren Schritte durch den Rückenwind schneller sind als üblich. »Warum die da noch immer keine eigenen Fußgängerampeln installiert haben«, ärgert er sich in sauberem Deutsch mit unverkennbarem Balkan-Einschlag. »Die Kreuzung ist mindestens einmal pro Jahr wegen eines Unfalls in der Zeitung und trotzdem ändert sich nichts.« Der Ärger ist schnell verraucht, die alte Dame hat den Vorfall durch ihre tiefe Konzentration auf jeden Schritt erst gar nicht mitbekommen. Hristo freut sich über mein Interesse, denn Gespräche im Uber sind für ihn ein seltenes Gut. »Die meisten Leute wollen nicht reden und lieber ihre Ruhe. Für mich ist das kein Problem, ich dränge mich niemandem auf, aber die Zeit vergeht doch schneller, wenn man sich ein bisschen unterhält.« Hristo fährt sich durch seine militärisch kurz gestutzten, braunen Haarstoppel und fixiert mich mit einem durchdringenden Blick in seinen Mittelspiegel. Federleicht kreuzt er auf den kurzen Teil der Tangente, bevor er ohne merkbaren Geschwindigkeitsabbau auf den Gürtel fährt. Dreimal wechselt er mit seinem stillen Auto die Spur so elegant, dass man als Mitfahrer noch nicht einmal den Ansatz eines Ausscherens bemerkt. Der Mann versteht sein Handwerk.

Dass mit dem nicht Redenwollen interessiert mich. Ich frage nach, woran das liegt. Ob die Gäste sich lieber auf ihre Smartphones konzentrieren oder es vielleicht an der Sprachbarriere liegt. »Da stimmt wohl beides. Aber um ein Uber zu fahren, musst du nicht Deutsch sprechen – das ist völlig egal.« Hristo erzählt, dass er im Laufe der letzten Jahre mehrmals zwischen Mietwagen- und Taxigewerbe hin- und hergewechselt ist. Er besaß schon vor Uber den Taxischein und kann es sich somit aussuchen. Vor- und Nachteile hätten sich im alten System prinzipiell die Waage gehalten, betont er, aber als klassischer Taxler lebt man in jedem Fall besser. »Wenn du den Taxischein haben willst, musst du viel können und wissen. Bei Uber ist das nicht der Fall. Du musst weder Deutsch noch Englisch sprechen, weil dich die Gäste ohnehin per App rufen und es nicht verlangt wird zu kommunizieren. Deutschkenntnisse, Ortskenntnisse und einen Wohnsitz in Wien brauchst du zum Taxifahren schon.« Hristo bekräftigt, dass es bei den Fahrern in allen Bereichen vehemente Qualitätsunterschiede gäbe. »Ich will Uber nicht nur schlechtreden, aber das System ist darauf aufgebaut, dass wirklich jeder ein Auto lenken darf.«

Für Uber in Österreich reiche jede Art von Führerschein. »Völlig egal, ob das ein Probeführerschein oder ein Führerschein von außerhalb der EU ist. Das wird nicht überprüft. Wenn du selbst kein Auto hast, dann wirst du in eines von einem Subunternehmen gesetzt und fährst los. Durch das GPS und Google Maps brauchst du keine Ortskenntnisse.« Hristo fährt aktuell für Uber und hat das schon einige Male davor im On-Off-Prinzip gemacht, findet aber viele Kritikpunkte, die ihm die Lust am Job vermiesen. »Als ich diesen Job mit einem Lizenzunternehmen angefangen habe, war das noch okay. Zuerst musste ich ungefähr 15 Prozent all meiner Einnahmen an das Uber-Subunternehmen abführen. Das fand ich noch okay, doch im Laufe der Jahre hat sich dieser Satz erhöht. Zuerst auf 20 Prozent, dann auf 30 und aktuell sind es 35 Prozent. Wenn du mich bestellst und deine Fahrt zehn Euro kostet, muss ich 3,50 Euro abtreten, ohne dass ich dabei meine eigene Versteuerung, Benzin, Abnützung, etwaige Strafzettel und Sonstiges mitkalkuliert habe.« Wir stehen mittlerweile im Rush-Hour-Stau am Gürtel und ich blicke auf ein geschlossenes Pub am Straßenrand. Ein mittelalter Herr im cremefarbigen Mantel marschiert flotten Schrittes daran vorbei, während die Ahornblätter ihn rhythmisch umtanzen. Der Wind weht unerlässlich stark.

Hristo freut sich über das Interesse seines Fahrgastes. Er versteht die Vorteile und Bequemlichkeiten, die sich dem Konsumenten bieten. Ein Fixpreis, der noch dazu weit unter jenem eines Taxis liegt. Die gemütliche Bestellung mit wenigen Handgriffen per App und die Sicherheit, während der Fahrt weder wegen des Weges noch wegen der drängenden, da den Grundpreis rasant erhöhenden Zeit diskutieren zu müssen. »Ich würde es nicht anders machen«, lacht er. »Dieses Problem der Taxiinnung habe ich immer verstanden. Jeder Kunde weiß im Vorfeld, wie viel er für ein Brot, für eine Hose oder für eine Zugfahrt bezahlen muss. Nur beim Taxi herrscht Ungewissheit und deshalb verstehe ich, dass viele auf Uber oder Bolt umgestiegen sind.« Für den Fahrer stellt sich die Situation freilich anders dar. »Als Taxler hast du einen Kollektivertrag rund um 1500 Euro, der ganz okay ist. Du hast eine gewisse Höchstgrenze an Stunden, die du arbeiten kannst und bist nicht völlig vom Umsatz abhängig. Auch im Mietwagengewerbe gibt es Verträge, aber die werden fast nie eingehalten oder schlichtweg ignoriert.« Hristo kennt die dunklen Seiten des Geschäfts durch die langjährige Erfahrung nur zu gut. »Ich sehe viele meiner Kollegen irgendwo in der Stadt im Auto schlafen, weil sie mit neun- oder zehnstündigen Schichten niemals so viel Geld machen, um überleben zu können. Sie bleiben dann gleich angemeldet im Auto liegen und warten fast rund um die Uhr darauf, eine Fahrt zu haben.«

Hristo ist fix davon überzeugt, dass man als Uber-Fahrer bei den gängigen Arbeitsbedingungen nicht überleben kann. »Es kommt auch darauf an, was du mit deinem Subunternehmen verhandelst, aber im Normalfall ist alles umsatzbasiert und dann schuftest du dich zu Tode, wenn du wirklich ein halbwegs vernünftiges Einkommen haben willst.« Der Bulgare ist aufmerksam und sieht, wie ich den Reißverschluss meiner Jacke etwas höher ziehe. Er dreht den Heizregler auf und fragt, ob die Temperatur in Ordnung wäre. Seine ruhige Fahrweise, die sicheren Handgriffe und die inhaltsschwere Thematik gehen eine kompetente Symbiose ein, die dem Fahrgast ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Hristo hält kurz inne und überlegt. Er sieht das Uber-Prinzip nicht so schwarz, wie es noch kurz zuvor den Anschein gemacht hat. »Es kommt immer darauf an, wie du lebst und was dein Ziel ist. Wenn du keine Familie hast und es dir nichts ausmacht so viel zu arbeiten, dann sind dir Zwölf-Stunden-Tage wahrscheinlich auch egal und du kriegst dabei gutes Geld. Das ganze System würde nicht funktionieren, wenn die Fahrer nicht mitspielen würden.« Doch das Problem sieht der Mittdreißiger nicht in der Kluft zwischen jenen, die eine faire Entlohnung durch faire Arbeitszeiten wollen, und jenen, die den Job mit Haut und Haaren leben und dabei über berufliche Überlastung hinwegsehen.

»Das Problem sind die organisierten Fahrer«, geht er hörbar erzürnt ins Detail. »Da du ohne normale Arbeitsverträge und mit jeder Art von Führerschein ein Uber lenken darfst, kommen sehr viele Fahrer für kurze Zeit aus dem Ausland. Ich kenne selbst einige aus der Slowakei, Tschechien, Ungarn und auch Slowenien oder Bosnien, die sich für ein paar Monate in großen Gruppen eine billige Wohnung nehmen, in dieser Zeit so viel wie möglich fahren und dann wieder für ein halbes Jahr nach Hause gehen. Wenn du für die Wohnung kaum etwas bezahlst und intensiv arbeitest, kannst du dir genug Geld anhäufen, um in deinem Heimatland eine Zeit lang sehr gut zu leben.« Wir biegen am mächtigen Gebäude der FH Wien ab. Die Würstelbuden sind in diesen Tagen genauso verwaist wie die Lokale und diverse Geschäfte, die sich aneinanderreihen. Ein fast schon postapokalyptisches Szenario, nur dass sich in der Realität reihenweise Passanten bewegen, um ihrem eingegrenzten Tagwerk nachzugehen. Hristo ist felsenfest davon überzeugt, dass es in einigen Fällen der osteuropäischen Fahrerorganisationen auch steuerlich nicht mit rechten Dingen zugeht. »Aber so sind viele Firmen, die mit Uber zusammenarbeiten, aufgebaut. Die Leute, die für wenige Monate diesen Job machen und dann wieder verschwinden, die beklagen sich auch nicht über die Arbeitsverhältnisse.«

Hristo ist überzeugt, dass die Mietwagen-Offensive den klassischen Taxlern gut 50 Prozent des Geschäfts genommen hätte. »Wenn es so einfach ist, Uber zu vermitteln und ein Uber zu fahren und der Kunde zudem so wenig zahlt, dann klappt das natürlich gut.« Obwohl er immer wieder mit dem Uber-System haderte und sich auch selbst ausgebootet und unfair behandelt gefühlt hat, kehrte Hristo stets aufs Neue in den Uber-Stall zurück. »Dass es bei Uber keine zeitlichen Begrenzungen gab, hat auch seine Vorteile. Wenn du willst, dann fährst du eben andauernd und kannst mehr verdienen als im Taxi. Fahrer werden immer und überall gesucht und so hatte ich nie ein Problem, eine Stelle zu finden. Wenn ich knapp bei Kasse war, dann bin ich zu Uber und habe mich reingekniet. Das gilt natürlich hauptsächlich für die Zeit vor dem Lockdown. Da hat man mit Nacht- und Wochenendfahrten wirklich gut verdienen können – trotz der vielen Abgaben.« Auch wenn der Bulgare viele Verfehlungen im System verortet, begrüßt er die Veränderungen, die sich dadurch ergeben haben. »Uber hat das Monopol der Taxis aufgeweicht. Durch die vielen Diskussionen und Streitereien zwischen allen Beteiligten gibt es jetzt ein besseres Ergebnis für alle«, ist Hristo überzeugt. »Der Kunde hat endlich einen Fixpreis – auch beim Taxi. Der ist zwar nicht mehr so günstig wie früher, aber das wiederum sichert auch uns Fahrern die Chance, fairer bezahlt zu werden.«

Zudem würde durch die Angleichung der unterschiedlichen Pole auch der »osteuropäischen Fahrer-Schlepperei«, wie er das System nennt, ein Riegel vorgeschoben. »Der Taxischein kostet Geld und ist nicht leicht zu kriegen. Ich verstehe, dass es für viele finanziell schwer ist ihn zu machen oder dass manche Inhalte heute veraltet sind. Aber so brauchst du zumindest eine offizielle Lizenz, musst dich in der Stadt auskennen und die deutsche Sprache sprechen, Uber ist das egal. Wenn du schon mal im Gefängnis warst, gibt dir das Verkehrsamt keinen Taxischein, Uber ist das egal. Im alten System war es sehr leicht, schlecht bezahlte Arbeitskräfte zu finden, denn arme Leute gibt es genug. Diese Art von Wettkampf sollte dann ihr Ende haben.« Wir kommen am Rande des Türkenschanzparks an und das Ziel ist mitten in der Unterhaltung erreicht. Doch Zeit ist Geld – in diesem Gewerbe noch mehr als woanders. Kaum habe ich mich verabschiedet und die Tür zugestoßen, braust Hristo im erhöhten Tempo davon. Momentan noch im klassischen Ubersystem, aber das wird sich bald ändern.