Traumafabrik

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Das gigantische Moment von „Sunset Blvd.“ liegt freilich nicht in der Story, sondern der Wirklichkeitsnähe des Films: darin, dass seine Darsteller:innen ihren Figuren so ähnlich sind, natürlich zuvorderst in deren Tragik. Zwar war Gloria Swanson im Unterschied zu ihrem Filmcharakter nicht ganz von der Leinwand verschwunden (sie hatte noch in einer Handvoll Tonfilme mitgespielt, wirkte überdies im Fernsehen, Theater und Radio); aber natürlich entsprach sie in vielem der exzentrischen Desmond: Swansons Debütfilm datiert aus dem Jahr 1915 – da war sie wie die Desmond gerade mal 16 Jahre alt, und Desmond wie Swanson arbeiteten für die Paramount. Wie ihr Alter Ego in „Sunset Blvd.“ erlebte sie ihre Hochphase in den Roaring Twenties. Der Weimarer Filmkritiker Ernst Blass schrieb über sie einst: „[…] sprühend, voll glückhafter Schärfen, ein weiblicher Figaro, voll spielender Genialität“ (Blass, Ernst: „in kino veritas. Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924–1933, Berlin 2019, S. 215 [1929 in der Illustrierten Filmzeitung]); „the all-time prototype image of A Movie Star“ (Rogers St. Johns, Adela: The Honeycomb, New York 1969, S. 155) nannte sie die Hollywoodkolumnistin Adela Rogers St. Johns.

Swanson war einer der ersten Filmsuperstars überhaupt, emanzipiert und hedonistisch. Sie verschliss unzählige Ehemänner und Liebhaber, mit ihren prahlerischen Ausgaben definierte sie die Grenzen neureicher Extravaganz. Wie Desmond besaß auch Swanson ein Anwesen von zu damaliger Zeit phänomenalem Ausmaß, das eine 24-Zimmer-Villa mit fünf Badezimmern, einem Fahrstuhl und einer 300-Quadratmeterterrasse umfasste, einst erbaut von dem Einwegrasierklingenerfinder King Gillette (und das nur wenige Schritte vom Sunset Boulevard entfernt lag). Ihr ausschweifender Lebensstil war legendär, von dutzenden Pelzmänteln, horrend teuren Juwelen- und Unterwäschekäufen erzählte man sich, zudem unterhielt sie angeblich einen ganzen Rolls-Royce-Fuhrpark nebst einem Lancia mit Sitzbezügen aus Leopardenfell (wie bei Norma Desmond) – und wenn Swanson einem ihrer Liebhaber im Zorn eins überbriet, dann geschah dies mit einer Magnumflasche Champagner.

Die Realitätsbezüge seines Films treibt Wilder in einer Szene auf die Spitze, als sich in Desmonds Villa einige ihrer Bekannten aus alten Tagen zu einer verrauchten Bridge-Partie einfinden. Die Frau und die beiden Männer, die Gillis „the waxworks“ nennt, sind in Wirklichkeit Titanen der Stummfilmära: Da ist das schwedische Ex-Model Anna Q. Nilsson (1888–1974), 1914 zur schönsten Schauspielerin der Welt gekürt und 1919 als „the ideal American girl“ etikettiert (Ernst Blass titulierte sie als „die eigentliche Schöpferin der Lichtspielkunst“, die „menschlich und unabweisbar durch die Leinwand hindurch“ dringen und „Menschen aufleuchten und vergehen lassen“ könne) (Blass 2019, S. 214 [1929 in der Illustrierten Filmzeitung]); dann H. B. Warner (1875–1958), einst unter der Regie von DeMille in „The King of Kings“ (1927) in der Rolle von Jesus Christus in die Filmhistorie eingegangen; und schließlich der für seine Alkoholeskapaden berüchtigte, aber als genialer Filmemacher unvergessliche Buster Keaton (1895–1966).

Die Härte und die Ironie, die etliche der Beteiligten gegen sich selbst aufbringen, verleihen „Sunset Blvd.“ einen gewaltigen Charakter. Aber sie alle werden übertroffen von Erich v. Stroheim, dem Darsteller des Butlers. Im Wien der kaiserlich-königlichen Donaumonarchie im Jahr 1885 zur Welt gekommen, wanderte v. Stroheim in die USA aus, wurde Schauspieler, drehte 1918 seinen ersten Film und avancierte in den 1920er Jahren zu einem der bekanntesten Filmemacher:innen Hollywoods. Weil er jedoch regelmäßig die Produktionskosten explodieren ließ, in Hollywoodgefilden bald als „$troheim“ firmierte, wollte irgendwann kein Studio mehr mit ihm zusammenarbeiten. Möglicherweise war Stroheim, den Freunde – ungeachtet seines bloß erfundenen Adelstitels – nur „Von“ nannten, aber auch einfach ein Sündenbock Fehlentscheidungen der Studios, jedenfalls: Seine Regiekarriere ging in die Brüche, Stroheim behauptete sich jedoch anschließend vor der Kamera als Schauspieler. Für Wilder hatte er 1943 in „Five Graves to Cairo“ in einer ziemlich genialen Performance den deutschen Generalfeldmarschall Erwin Rommel gespielt, zu einem Zeitpunkt, als der reale Schlachtenlenker wie sein Leinwandpendant noch in Nordafrika kommandierte.

In einer Szene bedient Ex-Regisseur Max v. Mayerling den Projektor von Desmonds Heimkino, um während des üblichen Diven-Zeremoniells einen ihrer früheren Filme zu zeigen – dabei läuft in Wirklichkeit der verrufenste aller Von-Stroheim-Filme, der sowohl die Karriere v. Stroheims beschädigte als auch am Ende der großen Swanson-Zeit stand. Die Szene, die ohne diesen Hintergrund ganz anders, weitaus banaler wirken würde, gewinnt an Brisanz durch die Geschichte, welche die beiden Stummfilmrelikte Swanson und v. Stroheim miteinander verbindet: Gemeinsam hatten sie 1928/29 für die damals astronomische Summe von rund 800.000 Dollar „Queen Kelly“ aufgenommen; noch während der Dreharbeiten sorgte Swanson für v. Stroheims Rausschmiss. Ebendieser Film flackert nun zwei Jahrzehnte später in „Sunset Blvd.“ über die Heimkinoleinwand von Norma Desmond (Swanson), während v. Stroheim als Butler am Projektor steht. Und sogar Hedda Hopper (1885–1966), neben Louella Parsons (1881–1972) eine der beiden berühmt-berüchtigten Klatschreporterinnen der klassischen Hollywoodära, ist sich nicht zu schade, sich selbst zu spielen: Als ein Polizist am Tatort den Gerichtsmediziner verständigen will, wirft ihn die längst in Desmonds Schlafzimmer sitzende Hedda Hopper aus der Leitung – ihr Anruf, bei ihrer Zeitung natürlich, sei wichtiger. Von Stroheim und Hopper sind Beispiele dafür, wie „Sunset Blvd.“ nicht nur Anleihen bei der Realität nimmt, sondern wie hier Fiktion und Wirklichkeit miteinander verwoben werden.

Nicht auszudenken, hätte Wilder seine ursprünglichen Präferenzen für die beiden Hauptrollen genommen. Bevor Wilders Regiekollege George Cukor die Swanson vorschlug, hatte den erloschenen Stern eigentlich der Dreißigerjahre-Star Mae West spielen sollen; als daraus nichts wurde, dachte Wilder erst an die Stummfilmikone Pola Negri und anschließend an Mary Pickford, den Inbegriff des Filmstars und die erste Großverdienerin vor der Kamera. Sie alle wären ebenfalls Inkarnationen des Star-Mythos, den Brackett und Wilder auseinandernehmen wollten, gewesen – aber es wäre doch ein anderer Film geworden. Und das gilt auch mit Blick auf Montgomery Clift, für den eigentlich die Holden-Rolle geschrieben worden war, der aber kurz vor Drehbeginn absagte.

Wilder vermutete, weil Clifts Agent dem Darsteller von dieser Rolle abriet, sie zu verdorben sei; angeblich habe Clift, der gerade mit Olivia de Havilland „The Heiress“ (1949) gedreht hatte, jedoch schlicht keine Lust mehr auf Liebesszenen mit älteren Frauen gehabt; aber vielleicht sagte Clift auch ab, da er damals selbst einer älteren Schauspielerin nahestand und die zu spielende Leinwandbeziehung nicht als Realitätsbezug missverstanden wissen wollte. Jedenfalls trauerte Wilder dieser Casting-Idee noch Jahrzehnte später nach – auch wenn viele sagen, gerade William Holden sei ein Leinwand-Alter-Ego Wilders gewesen, weshalb dieser ihn auch so gern gecastet habe (für einen anderen Wilder-Film, „Stalag 17“ von 1953, gewann Holden den Hauptdarsteller-Oscar, ferner spielte er unter Wilders Regie noch 1954 in „Sabrina“ und 1978 in „Fedora“). Aus dem Register der verfügbaren Paramount-Vertragsschauspieler schien der damals von Star-Ruhm noch unbefleckte Holden jedenfalls für Brackett und Wilder als die geeignetste Clift-Alternative herauszustechen. Und womöglich kitzelte das ungehobene Potenzial, das Wilder in Holden sah, auch den Ehrgeiz des Regisseurs, Holden endlich die gebührende Leinwandgeltung zu verschaffen.

Ein genialer Aspekt von „Sunset Blvd.“, den Swanson unerhört stark umgesetzt hat, besteht in der bizarren Gleichzeitigkeit von Stumm- und Tonfilm-Ära. Swanson spricht zwar, doch verkörpern ihre weit aufgerissenen Augen, ihre übertriebenen Hand- und Kopfbewegungen die vor dem Tonfilm unverzichtbare Kunst, sich ausschließlich über Mimik und Gestik auszudrücken. Ähnlich wie bei der Montage von Real- und Zeichentrickfiguren à la „Mary Poppins“ (1964) treffen hier mit Gloria Swanson und William Holden zwei Schauspielepochen und Hollywoodzeitalter aufeinander. Wie sehr dieser Unterschied wirkt, lässt sich daran ermessen, dass Holden wenigstens fünfzig Jahre später in einem Film des 21. Jahrhunderts nicht annähernd so fremd erscheinen würde wie Swanson in „Sunset Blvd.“, deren Stummfilmzeit damals aber wiederum bloß zwanzig Jahre zurücklag.

Daneben haben Wilder und Brackett (zusammen mit dem hinzugeholten D.M. Marshman Jr.) ihren letzten gemeinsamen Film vollgestopft mit Quintessenzen des Hollywoodlebens. Auf seiner verzweifelten Suche nach einer ausgelassenen Neujahrsparty außerhalb des klaustrophobischen Norma-Desmond-Museums beschreibt Gillis etwa die unteren Hollywoodschichten: „Writers without a job, composers without a publisher, actresses so young they still believe the guys in the casting offices.“ (Auf der Silvesterfeier haben auch die beiden Filmmusikschreiber Ray Evans und Jay Livingston Cameos, als sie inmitten der Partymeute am Klavier sitzen.) Und nach einem weiteren Selbstmordversuch knurrt die Desmond Gillis an: „Great stars have great pride.“

Überhaupt ist „Sunset Blvd.“ ein Meisterwerk geschliffener Drehbuchkultur. Seine wesentlichen Urheber, Billy Wilder und Charles Brackett, galten als ebenso unzertrennliches wie furioses Duo; eine Zeit lang waren sie die bestbezahlten Drehbuchentwickler Hollywoods. Wilder war NS-Flüchtling und alles andere als konservativ, Brackett hingegen ein republikanisch gesinnter Literat aus dem Ostküstenestablishment, kultiviert und fern von den neureichen Attitüden der übrigen Hollywoodelite. Für Brackett und Wilder bedeutete das Drehbuch alles, jedenfalls mehr als Schauspieler:innen und Kulissen. Wie später bei seinem zweiten großen Partner, I.A.L. Diamond, durchwanderte Wilder das Zimmer, während der andere an der Schreibmaschine saß – eine Schaffensgeografie, die Wilder und Brackett für einen kurzen Moment in einer Szene von „Sunset Blvd.“ spiegeln, in der Gilles durch das Büro von der am Schreibtisch tippenden Schaefer marschiert, nachdem er sich nachts aus der Desmond-Villa geschlichen hat. Insofern stand „Sunset Blvd.“ am Ende einer Ära, die 1938 mit der gemeinsamen Drehbucharbeit an der Ernst-Lubitsch-Romcom „Bluebeard’s Eighth Wife“ begonnen hatte – denn Wilder trennte sich nach zwölf Jahren der erfolgreichen Zusammenarbeit von Brackett.

 

„Sunset Blvd.“ markierte somit den Schlusspunkt einer der damals am meisten beneideten „Ehen“ Hollywoods. Dass sie nach „Sunset Blvd.“ dann getrennte Wege gingen, deutete sich an: Als Wilder im November 1948 seinen Partner Brackett in der Nacht der Präsidentschaftswahlen in derart aufgelöster Stimmung antraf, dass sie ihm noch niedergeschlagener vorkam als seine eigene nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, da war vielleicht noch einmal deutlicher als zuvor die politische Kluft, die zwischen dem liberalen Wilder und dem republikanischen Brackett lag, sichtbar geworden sein – Truman von den Demokraten hatte gewonnen. Insofern war die Beziehung der beiden Männer ohnehin brüchig gewesen.

Zudem war ihr vorheriges Projekt „The Emperor Waltz“ (1948) Wilder hinterher geradezu peinlich gewesen; dass sie bei „Sunset Blvd.“ auf den Dritten im Bunde, Marshman Jr., als frischen Ideengeber vielleicht stärker als sonst angewiesen waren, deutete bereits auf ihre ermüdete Beziehung hin. Wilder stellte die Trennung später oft als Studio-Edikt dar: Paramount habe sich von einer Aufsplittung des Autorengespanns schlicht einen doppelt so großen Drehbuch-Output versprochen. Angesichts ihres enormen Erfolges (das Bing-Crosby-Vehikel „The Emperor Waltz“ hatte immerhin viel Geld eingespielt) wirkt das indes wenig glaubwürdig. Und auch Brackett erzählte später im Privaten, dass ihn Wilders Ankündigung, nach Abschluss der Dreharbeiten getrennte Wege zu gehen, wie ein Schlag getroffen habe, von dem er sich nie wieder erholte. Die Trennung erfolgte daher wohl eher, weil sich Brackett bei „Sunset Blvd.“ noch stärker als sonst gegen etliche Wilder-Ideen gesträubt hatte, die dem reservierten Konservativen offenbar zu weit gingen; noch mühsamer als sonst hatte Wilder anscheinend seinem Partner seine Wünsche aufdrängen müssen. Und so sah Wilder vermutlich den Zeitpunkt gekommen, sich von Brackett loszueisen.

Heute blickt man auf „Sunset Blvd.“ ganz selbstverständlich als Meisterstück eines der besten Drehbuchschreibergespanne der Filmgeschichte zurück; aber damals hieß es bei manchen Kritiker:innen aus New York: „Since ‚Sunset Boulevard‘ contains the germ of a good idea, it’s a pity it was not better written.“ (Hamburger, Philip: Speaking of the Dead, in: The New Yorker, 19.08.1950.) Legendär ist auch die Begebenheit, als Paramount den Film im Studiokino einer Auswahl vergangener und aktueller Hollywoodgranden zeigte, darunter auch dem allseits gefürchteten MGM-Chef L.B. Mayer. Mayer, berüchtigt für sein Temperament, erregte sich nach dem Film über den Regisseur, der geteert, gefedert und aus Hollywood verjagt gehöre, wohl so sehr, dass Wilder ihm zurief: „Go fuck yourself!“ (Billy Wilder zit. nach Eyman, Scott: Lion of Hollywood. The Life and Legend of Louis B. Mayer, New York 2005, S. 432.)

„Sunset Blvd.“ ist ein Film, bei dessen Erwähnung unweigerlich zwei, drei Dialogzeilen immer wieder zitiert werden. Etwa der Schlagabtausch zwischen Gillis und Desmond bei ihrem allerersten Gespräch: „You used to be big!“ – „I am big. It’s the pictures that got small.“ Oder der makabre Schlusspunkt: „All right, Mr. DeMille, I’m ready for my close-up.“ Unvergesslich machen den Film aber die masochistischen Wirklichkeitsbezüge seiner Darsteller:innen. Die trostlose Bridge-Runde, die in Wirklichkeit ein Gipfeltreffen der Beletage des Stummfilmzeitalters ist, Szenen wie der einsame Tanz inmitten des monumentalen Desmond-Domizils in der Silvesternacht oder geniale Einlagen wie Swansons spontane Chaplin-Imitation (ein kleiner Verweis auf ihre Chaplin-Nachahmung 1924 in „Manhandled“) veredeln Billy Wilders zeitlose Demontage des Filmstar-Konzepts und machen „Sunset Blvd.“ nicht nur zum vielleicht besten Film über Hollywood, sondern zu einem der besten Hollywoodfilme überhaupt.

Singin’ in the Rain (1952)

Du sollst mein Glücksstern sein

Sie haben ihm vor dem Bürogebäude einen roten Teppich ausgerollt und stehen nun alle Spalier, um zu applaudieren: Sekretärinnen, Produzenten, Schauspieler:innen. Viele sind konsterniert, andere vielleicht auch erleichtert, aber als Louis B. Mayer für immer das MGM-Gelände verlässt, über das er mehr als ein Vierteljahrhundert lang geherrscht hat – als Leiter einer der effizientesten und produktivsten Filmfabriken des Erdballs –, lässt das niemanden kalt. Viele sehen sogar nicht nur das Ende einer Ära gekommen, sondern das Ende Hollywoods. Als eine seiner letzten Amtshandlungen von filmhistorischer Bedeutung hat Mayer in den Wochen zuvor noch Debbie Reynolds für das nächste große MGM-Musical „Singin’ in the Rain“ eingesetzt – im Nachhinein eine der Hollywoodproduktionen schlechthin, die vermutlich für alle Zeiten die bis in die 1950er Jahre reichende Mayer-Epoche der Filmmetropole repräsentieren werden. Wollte man Außerirdischen oder nachfolgenden Menschheitskulturen die Essenz des Hollywoodkinos begreiflich machen, so müsste man sie Debbie Reynolds, Gene Kelly und Donald O’Connor beim Tanzen in „Singin’ in the Rain“ zuschauen lassen.

„Singin’ in the Rain“ ist längst nicht mehr nur ein Filmtitel, sondern eine cineastische Galionsfigur der technicolorisierten Hollywoodunterhaltung, ein schlechterdings obligatorischer Bestandteil einer jeden großen Ewigkeits- und Bedeutsamkeitsliste, die etwas auf sich hält, und zählt zu den ultimativen Klassikern der Filmgeschichte, des Hollywoodkinos sowieso. Kritiker:innen rühmen ihn als Beispiel für den Erfolg originaler Musicals, die keine eingekauften Broadway-Adaptionen waren, sondern eigens für die Leinwand geschaffen wurden. Die berühmte Einstellung, in der Gene Kelly vom Mast einer Straßenlaterne singt, gehört zu den ikonischen Bildern, die wie nur wenige andere mit dem Begriff Hollywood assoziiert werden.

Aber damals, 1952, war von dieser filmhistorischen Grandezza des Werkes kaum etwas zu spüren gewesen. Sind in der Filmgeschichte epische Hollywoodklassiker wie „Gone with the Wind“ (1939) oder „Ben-Hur“ (1959) meist auch ganz offiziell mit Oscars überhäuft worden, erhielt „Singin’ in the Rain“ von der Academy gerade mal zwei Nominierungen, für die Beste Musik und Jean Hagen als Beste Nebendarstellerin; auch bei den Golden Globes, dem großen Ersatzpreis, ging der Film so gut wie leer aus: nominiert für den Besten Film unter den Komödien und Musicals, erhielt nur Donald O’Connor eine Würdigung als Bester Darsteller im Bereich Musicals/Komödien. Kurzum: An zeitgenössischen Kritiken und Filmpreisen lassen sich der Nachruhm von „Singin’ in the Rain“ und die ihm seither eingeräumte Bedeutung in der Filmhistorie nicht annähernd ermessen.

Die Handlung hat damals schon kaum jemand ernst genommen, und tatsächlich ist sie ein reines Vehikel für das Tanzspektakel, das Kelly, Reynolds und O’Connor abliefern. Wie „It Happened in Hollywood“ (1937) spielt „Singin’ in the Rain“ an der Schwelle vom Stumm- zum Tonfilmzeitalter in den späten 1920er Jahren. Es geht um die Herausforderungen, die diese zukunftsweisende Transformationsphase an Technik und Schauspiel stellte, der Ton als neue Sinnesdimension der so populären Kinounterhaltung. Hollywood begibt sich in diesem Film zudem auf ureigenes Terrain – lässt sich den Werken aus der kalifornischen Traumfabrik oft genug mangelnder Realismus in Form verträumter Romantik, unglaubwürdiger Action oder übertriebener Dramatik vorwerfen, so gibt das Musical von vorneherein jeglichen Anspruch auf exakte Wirklichkeit zugunsten künstlerischer Unterhaltung auf. Im besten Fall wird ausgelassen gesungen und getanzt, nur eben gar nicht erst der Versuch unternommen, dabei sonderlich wirklichkeitsnah zu sein. Im Musical kann Hollywood daher seine ganze Stärke ausspielen, hier kommen seine technischen Ressourcen voll zur Geltung, hier kann ihm keine Nouvelle Vague oder New Wave etwas vormachen. Und „Singin’ in the Rain“ ist das ultimative Musical, maximales Hollywoodentertainment.

In seiner musikalischen Substanz ist „Singin’ in the Rain“ freilich ein unverfrorenes MGM-Recyclingprodukt, von dessen 15 Songs lediglich zwei neu geschrieben worden waren (von denen wiederum einer als Abklatsch eines Cole-Porter-Stücks aus einer anderen MGM-Produktion gilt). Fast alle Stücke – inklusive des Titelsongs – stammten aus den 1920er Jahren. Die ganze Idee des Filmprojekts gründete auf einer Resteverwertung des MGM-Fundus. Auf der Suche nach einer Story als Vehikel für die Musik und Tanzperformances kam man schließlich auf den Gedanken, die Handlung, passend zum musikalischen Ursprung, ebenfalls in den Zwanzigern zu verorten.

Der Mastermind hinter dem Projekt war Arthur Freed (1894–1973), der etliche der Stücke (auch den Titelsong) zusammen mit Nacio Herb Brown (1896–1964) geschrieben hatte. Der Lieddichter Freed war Ende der 1930er Jahre bei MGM zu einem der wichtigsten Filmproduzenten des Studios aufgestiegen. Die „Freed Unit“ war schon bald die Gelddruckmaschine der Metro und genoss daher unter dem Studioboss L.B. Mayer weitgehend Narrenfreiheit. Wo andere nach einem halben Drehtag Rückstand im Zeitplan großen Ärger bekamen, konnte Freed notfalls tage- und wochenlang überziehen. Der schweigsame Freed verfügte über ein sicheres Gespür für publikumstaugliche Stoffe und großartige Performer:innen. Er protegierte Judy Garland als Sängerin, Gene Kelly als Tänzer und Vincente Minnelli als Regisseur, deren Musical-Potenzial er mehr als irgendjemand sonst erkannte und die schon bald MGM auf diesem Feld zum Spitzenreiter machten. Mayer hielt Freed den Rücken frei, und Freed nutzte seinen Freiraum für eine erfolgreiche Produktion nach der anderen, mit der sich Mayer gegenüber seinen Rivalen an den Spitzen der anderen großen Studios rühmen konnte.

Für „Singin’ in the Rain“ überantwortete Freed die ganze Gestaltungsmacht Gene Kelly und dessen Kompagnon Stanley Donen. Eine exzellente Kombination: Der innovative Donen kümmerte sich um das Technische, der Perfektionist Kelly um die Choreografie. Heraus kam jedenfalls ein Meisterwerk der Unterhaltungskunst – und ein Paradebeispiel dafür, wie das äußere Erscheinungsbild und die Anatomie eines Werkes in völligem Widerspruch zueinander stehen können. Kaum ein Film versprüht eine solche Kreativität seiner Schöpfer:innen, einen solch kraftvollen Unterhaltungsenthusiasmus, der zugleich auf solch fürchterliche Strapazen zurückgeht wie „Singin’ in the Rain“. Unter Gene Kellys unerbittlichem Kommando tanzte sich Debbie Reynolds die Füße blutig. „Singin’ in the Rain and childbirth were the hardest things I ever had to do on my life“ (Hier und folgend Reynolds, Debbie (mit David Patrick Columbia): Debbie. My Life, New York 1988, S. 92 [Herv.i.O.]), erinnerte sich Reynolds. „The pain from childbirth was in the lower body but in Singin’ in the Rain it was everywhere“. Ihre Filmkarriere als Vertragsschauspielerin der Metro hatte für die damals 19-jährige Texanerin gerade erst begonnen; nahezu niemand kannte sie, ehe sie mit „Singin’ in the Rain“ zum Star avancierte und sich in die Filmgeschichte einschrieb.

Als L.B. Mayer sie dem Projekt zuwies, entglitten Gene Kelly wohl die Gesichtszüge, denn Reynolds konnte weder tanzen noch singen. Eines der verrücktesten Dinge, wie sie nur Hollywood ernsthaft zuwege bringt: Gene Kelly und Donald O’Connor hatten quasi ihr ganzes Leben lang getanzt; Kelly war am Broadway aufgetreten und O’Connor entstammte einer Vaudeville-Familie, die beiden tanzten am Limit des menschlichen Bewegungsvermögens; das ganze Filmprojekt war eine Abfolge schwieriger Tänze. Wie sollte eine zwar talentierte, aber darin gänzlich ungeübte Schauspielerin im Gespann mit diesen beiden Tanzvirtuosen kongeniale Performances zustande bringen?

Reynolds hatte jedenfalls drei Monate Zeit, um tanzen zu lernen. Anschließend kamen Proben und die Dreharbeiten – acht Monate „agony and exhaustion, tears and pain, all the anxiety about getting the steps right, getting the lip-synch right, smiling, DAMNIT, smiling“ (Reynolds 1988, S. 96). Szenen, in denen Reynolds auf der Leinwand voll lächelnder Fröhlichkeit erscheint, waren in Wirklichkeit Stationen einer heftigen Tortur:

 

„By this time my brains were fried, my eyes were crossed inside, and my hand was squeezing my butt just to keep my concentration on the lip-synch, the steps, and the spacing. […] My mind was racing.“ (Reynolds 1988, S. 90.)

Und dazu Gene Kellys ständige „Smile, damnit, smile!“-Rufe. Wie bei Judy Garland wollte der Studioarzt sie mit Spritzen aufputschen, aber ihr Hausarzt verhinderte das. Kurz davor, an völliger Erschöpfung zugrunde zu gehen, überlebte Reynolds den „Singin’ in the Rain“-Dreh mehr, als sie ihn bloß abschloss. So war das Studiosystem: Nur zehn Tage nach Drehschluss stand für Reynolds der nächste Film an: „Mr. Imperium“ (1951).

„Singin’ in the Rain“ beginnt 1927 mit der Premiere des neuen Don-Lockwood-Films „The Royal Rascal“ im „Grauman’s Chinese“ am Hollywood Boulevard. Lockwood (Gene Kelly) ist der Star von Monumental Pictures, dessen Schriftzug – zumindest auf der Torte, der später Debbie Reynolds als Tänzerin auf einer Party entspringt – in einer ähnlichen Schrift wie die Wortmarke der Paramount Pictures gehalten ist. Auf der Flucht vor übermütigen Fans landet Lockwood in Kathy Seldens Auto. Selden (Reynolds) gibt sich als Theateraktrice aus, ist aber in Wirklichkeit eine Chorlinientänzerin; sie wertet Lockwoods Profession als minderwertig gegenüber dem Bühnenschauspiel ab, er verspottet sie als Ethel Barrymore, die damals im Ruf der „first lady“ des US-amerikanischen Theaters stand. Kurz darauf begegnen sie sich ein zweites Mal, auf der Party des Studiobosses, wo Selden aus besagter Torte hüpft und zur Abendunterhaltung beitragen soll. Beim dritten Aufeinandertreffen erhält sie ein Studioengagement, Don und Kathy verlieben sich ineinander – der romantische Nukleus des Films. Dazwischen muss Lockwood vom Stumm- zum Tonfilmdarsteller umsatteln und Selden wird zur Filmstimme von Lockwoods Leinwandpartnerin Lina Lamont (Jean Hagen), deren grässliches Organ keinem Kinokartenkäufer zugemutet werden kann. Lockwood entledigt sich der gleichermaßen umjubelten wie arroganten Lamont, indem er die Camouflage auffliegen lässt und der Öffentlichkeit Kathy Selden als die gefeierte Stimme enthüllt – a star is born.

Wie die meisten Filme über Hollywood erfindet auch „Singin’ in the Rain“ ein Studio mit mal größerer, mal geringerer Wirklichkeitsentsprechung. Das Eingangsportal der Monumental Pictures erinnert denn auch an das „Bronson Gate“ von Paramount (vermischt mit der „Jurassic Park“-Pforte). Ähnlich wie später „Inside Daisy Clover“ (1965) fängt „Singin’ in the Rain“ bestimmte Sphären des Hollywoodsoziotops ein. Dazu gehören zuvorderst die opulenten Hollywoodpartys mit eigens engagierten Bands und Heimkino-Intermezzos („A movie? We’ve just seen one.“ – „You gotta show a movie at a party – it’s a Hollywood law.“). Das Interieur der (damals freilich noch weitaus mehr als heute) phänomenalen Villen zeugt von einer Ratlosigkeit, all das aus den florierenden Showgeschäften gewonnene Geld möglichst stilvoll und statusbegründend zu investieren – heraus kommen seltsam imposante Arrangements mit Ritterrüstungen, Bars und Wandteppichen, als entstammten sie blühenden Kinderfantasien. In Lockwoods Residenz tummeln sich, fast wie in einem Auktionshaus, Möbel und Gegenstände, die Antike, Mittelalter und Biedermeier stilistisch wild vermengen. Und auf den Mauern der Studiogebäude spürt man geradezu den Schein der kalifornischen Sonne.

An Lockwood selbst werden, freilich – wie alles in „Singin’ in the Rain“ – leicht überspitzt, die bescheidenen Anfänge einer Starkarriere gezeigt: Ehe er den roten Premierenteppich betreten hat, ließ sich Lockwood als furchtloser Stuntman mit falschem Bart durch Saloons prügeln, in die Luft sprengen oder raste im roten Doppeldecker in eine Scheune. Es wird sich lustig gemacht über die Naivität von Showbusinessnoviz:innen, die auf ihren Einstieg in die Filmbranche drängen: Auf einer Party stehen sich ein etablierter Schauspieler und eine No-Name-Frau gegenüber und sie stellt die alles bedeutende Frage: „Do you really think you can get me in the movies?“, und er lächelt: „Oh, I should think so.“

Am Filmset werden die Tricks hinter den kinematografischen Illusionen, mit denen das Kino sein Publikum hinters Licht führt, enthüllt – etwa der Blick durch einen fünfzig Meter langen Gebäudeflur, der in Wirklichkeit bloß ein zweidimensionales Bild ist. In einer Szene betreten Don Lockwood und die in Sachen Hollywoodinfrastruktur noch völlig unbedarfte Kathy Selden durch das riesige Eingangstor eine der Soundstages, quasi die Traumfabrikhallen. Bei seinem amourösen Unterfangen gibt Lockwood dem Publikum die Illusionen der Filmtechnik preis, als er nacheinander den wolkenverhangenen Horizont als künstlichen Hintergrund, den Wind als Lufthauch aus einem großen Ventilator und Nebel als Maschinenprodukt entlarvt, indem er lediglich ein paar Schalter und Knöpfe betätigt. In Hollywood, heißt das, braucht man lediglich einen einzigen Hebel umzulegen, damit ein romantischer Himmel erscheint.

In einer anderen Szene entfaltet das Studioinnere mit dem Filmset eine zweifach magische Nostalgie: zum einen durch die mit gemalten Palmen und Farnen erzeugte Dschungelatmosphäre exotischer Gefilde, welche die meisten Menschen damals eben nur aus Filmen kannten; und zum anderen durch den Blick auf diesen inzwischen natürlich längst antiquiert wirkenden Set, wo ein Regisseur mit Flüstertüte und Baskenmütze von einem „Director“-Stuhl aus seine Anweisungen gibt, während neben ihm der Kameramann mit voller Konzentration ein noch relativ schmächtiges Aufnahmegerät bedient und vor ihnen Komparsen in klischeebeladenen Eingeborenenkostümen – höchstwahrscheinlich Kannibalen – wilde Tänze aufführen. Und wie später in „Nickelodeon“ (1976) zeigt der Gang entlang der zwar gänzlich unterschiedlichen, jedoch gleichermaßen betriebsamen Filmsets die Hollywood’sche Massenproduktion jener Tage, in der die technischen Wiedergabemöglichkeiten und die unschuldige Faszination der Zuschauer:innen noch über allerlei Realismusmakel buchstäblich hinwegsehen ließen.

Auch die Rituale und sozialen Orte Hollywoods werden nicht ausgelassen: Da ist vor allem die Party beim Studioboss in einem der großen Hollywoodanwesen, vollgestopft mit Wandteppichen und Gemälden, völlig eklektische Möbel- und Motivarrangements, ein Insignien-Overkill, der einen Status zu untermauern sucht, der sich im Unterschied zu echtem Adel in einer aristokratisch durchwirkten Gesellschaft – also alles andere als die USA – auf keine formalen Befugnisse und überkommenen Normen stützen kann und daher umso mehr eine phänomenale Oberfläche aufbläht. Darin ist eine Feier im Gange, ihrem Wesen nach irgendwo zwischen der Leichtigkeit der Roaring Twenties und der bleiernen Schwere einer diplomatischen Zusammenkunft gelagert. Am Rand des geräumigen Zimmers spielt eine Band in schwarzer Abendkleidung, in der Mitte recken sich die engagierten Revuetänzerinnen im bunten Girlandenreigen. Dann der private Vorführraum mit Kinoprojektor – für einen Hollywoodmogul einerseits eine berufliche Notwendigkeit, andererseits seinerzeit unverfrorener Luxus. Die Gäste sind derlei ganz offensichtlich gewohnt und spulen ihre längst verinnerlichten Eventroutinen ab, bei denen ein Lächeln im richtigen Moment weitaus wichtiger als die Wortwahl ist.

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