Loe raamatut: «Das Versprechen der Nonne»
ROBERT STORCH
Das Versprechen der Nonne
Roman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96140-087-4
© 2018 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelgrafik: Dietmar Reichert, Dormagen
Satz: Harfe-Verlag und Druckerei GmbH, Rudolstadt
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Buch I: 762 – 763
Gotteszeichen: 2. Kapitel
Winter: 3. Kapitel
Süßes Erwachen: 4. Kapitel
Versuchung: 5. Kapitel
Buße: 6. Kapitel
Teufelsränke: 7. Kapitel
Um Leben und Tod: 8. Kapitel
Buch II: 769 − 773
Pilgerfahrt: 10. Kapitel
Am Hof des Papstes: 11. Kapitel
Die des Handschrift Teufels: 12. Kapitel
Der Thron Petri: 13. Kapitel
Krieg um Rom: 14. Kapitel
Buch III: 773 – 774
Mächtige Liebe: 16. Kapitel
Epilog: Weihnachten 800
Weitere Informationen
Buch I 762 – 763
Schwertstreich
1. KAPITEL
Adelind legte die Hand auf Gerolds Schwertarm. „Du darfst jetzt nicht gegen Voto kämpfen! Du bist doch noch ganz schwach.“
Jeden anderen hätte Gerold unwirsch zur Seite gestoßen: Er war der Sohn des Grafen, niemand verbot ihm einen Schwertkampf! Doch Adelind, seine vier Jahre jüngere Schwester, ließ ein Gefühl der Zuneigung in ihm aufsteigen, gegen das all sein Stolz machtlos war. Die zierliche Hand der Elfjährigen krallte sich in seinen Arm, um ihn zurückzuhalten, und die großen, graugrünen Augen, die zu ihm aufblickten, konnten sich nicht entscheiden, ob sie flehen oder drohen sollten. Wehmütig erinnerte er sich, wie er sie einst an den Händen genommen und auf ihren ersten Schritten geführt hatte. Jetzt wuchs sie zur Zierde der Grafschaft heran. Er wollte sie drücken, doch dies wäre eine unziemliche Geste gewesen vor all den Menschen, die sich vor der Kapelle des Grafenhofs um sie versammelt hatten und jede seiner Bewegungen beäugten. Also legte er seine Hand an den Schwertgriff und gab zurück: „Ich bin wieder so stark wie früher.“
„Wir dachten, dass …“ Sie schlug den Blick nieder. „Dass du stirbst. Das willst du jetzt am liebsten vergessen, aber du bist noch nicht so stark wie früher.“
Ihn ärgerte es, dass sie ihn besser kannte als er sich selbst. Sie hatte recht: Er, der vorher nie krank gewesen war, hatte an der Schwelle zum Tode gestanden. Das hatte Zweifel am Grafenhof gesät: Wollte Gott ihn für etwas bestrafen? Zehn lange Tage hatte er nicht aufstehen können! Trotzdem wollte er Adelind widersprechen, doch sie hob entschieden die Hand. „Du bist zu ungeduldig. Hast du nicht gehört, was Walburga heute Morgen an deinem Krankenbett sagte? Morgen wirst du kräftiger sein. Und am Tag danach noch kräftiger.“ Ihre Stimme bekam etwas Flehendes. „Und noch einen Tag später wirst du so kräftig sein wie vor dem Fieber.“
Die Erinnerung an das Fieber ließ Gerold den Mund verziehen, als hätte er sauren Most verschluckt. Ausgerechnet er, der Sohn des Grafen, der noch nie einen Zweikampf verloren hatte, war schwach und schwindelnd darniedergelegen, unfähig, ein Glas Wasser zum Mund zu führen. In höchster Not hatte Graf Gebhard die Äbtissin Walburga aus dem Kloster in Heidenheim um Hilfe gerufen. Walburga war seinem Ruf gefolgt: Mit demutsvoll gesenktem Haupt hatte sie an Gerolds Bettstatt gebetet und ihm obskure Mixturen verabreicht, woraufhin das Fieber aus dem Körper gewichen war.
„Herrgott, ich werde einmal Graf sein! Sollen die Leute mich für einen Schwächling halten?“ Er warf einen Seitenblick auf die Menschen, die immer zahlreicher vor der Kapelle zusammenliefen. Mitten unter ihnen knetete Voto, der baumlange Waffenknecht, seine pfannengroßen Hände in Erwartung des Zweikampfs mit dem Grafensohn.
Fünfzehn Jahre lang war Gerold auf diesem Hof aufgewachsen, er kannte jeden, vom Haushofmeister über die Handwerker und Stallmeister bis zu den Schreibern und Mägden. Die Nachricht, der Grafensohn sei genesen und habe den stärksten Waffenknecht zum Zweikampf herausgefordert, hüpfte schnell von einem Ohr zum nächsten. Er beugte sich zu seiner Schwester hinunter und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Du kennst die Menschen hier so gut wie ich. Sie arbeiten hart und sind Vater treu ergeben, aber sie vermuten hinter jedem Vogelflug und jedem Donnergrollen ein Zeichen Gottes. Sie haben, das weiß ich, sich auch während meiner kurzen Übelkeit Sorgen gemacht, haben sich gefragt, womit ich den Zorn Gottes beschworen habe. Dieses Gerede kann ich nicht ertragen, nicht einen Tag länger!“
„Dieses Gerede kannst du in drei Tagen auch noch beenden. Deshalb nennt dich doch niemand einen Schwächling!“
Mit einem Handstreich wischte er die Einwände weg. „Ich gewinne heute gegen Voto, denn Gott steht auf meiner Seite. Er hat mich geheilt. Das hat Walburga gesagt. Und er wird mir jetzt Kraft geben, darum habe ich ihn heute Mittag gebeten.“ Er deutete auf die mit einem Holzzaun umfriedete Kapelle, die wenige Schritte hinter ihm den mit einem Kreuz gekrönten Altar umschloss. Hinter der Kapelle breitete sich der langgestreckte Große Saal des Grafenhofs aus, dessen rechte Hälfte von der Kapelle verdeckt wurde. Nur das mit Rohr gedeckte Dach ragte über der Kapelle auf. Im Großen Saal wurde das Abendessen vorbereitet: Durch die Dachöffnung in der Mitte stieg Rauch, er verschmolz mit funkelnden Strahlen der weit im Westen stehenden Sonne. Neben dem Eingang zum Großen Saal, linker Hand der Kapelle, war eine Falltür in den Boden eingelassen. Sie führte zum Gefängnis. Es war meist von Knechten bewohnt, die − oft nach unmäßigem Weingenuss − Händel begonnen hatten. Neben der Falltür ragte ein Holzpfosten auf mit einem angebundenen Seil, mit dessen Hilfe die Delinquenten, ausgenüchtert und nach dem Gebet dreier Paternoster, aus dem Gefängnis kletterten.
Adelind seufzte. „Dickkopf! Ob du heute kämpfst oder nicht: Niemand würde zweifeln, dass du Vater eines Tages beerben wirst.“
Die Hand am Schwertgriff, blickte Gerold über seine Schwester hinweg. „Du vergisst, dass ich nicht einfach nur Graf werden will. Ich will so werden wie Vater!“
Eine schwere Hand landete in diesem Moment auf seiner Schulter, und Gerold fuhr herum. Hinter ihm stand Graf Gebhard. Er lächelte. Die Falten, die fächerförmig von seinen Augenwinkeln ausgingen, vertieften sich, und seine von grauen Strähnen durchsetzten Haare fielen bis zum Hemd herab, das mit Kastaniensaft gefärbt war. „Danke, mein Sohn.“
Verlegen blickte Gerold zu Boden.
Vater legte den Arm um seine Schulter. „Gerold, du trägst schon ein Schwert, deshalb liegt es an dir zu entscheiden, wann du kämpfen willst. Aber ein Graf muss nicht nur kräftig sein, sondern auch weise. Er kämpft nur dann, wenn er gewinnen kann.“
Gerold löste sich aus der Umarmung seines Vaters und rief so laut, dass der ganze Grafenhof ihn hören konnte: „Warum denkt jeder, ich kann kein Schwert mehr führen, nur weil ich ein paar Tage im Bett lag? Wo ist Voto? Ich werde ihn besiegen, jetzt!“
„Hier!“, erklang eine Stimme. Sie kam aus der Mitte der versammelten Menschen − und von oben. Eine Gasse öffnete sich und gab den Blick frei auf Voto. Der Waffenknecht war einen Kopf größer als Gerold, mit Armen wie Baumstämme, aber etwas schwerfällig. Dies hatte Gerold schon in einigen Zweikämpfen ausgenutzt − vor seinem Fieber. Jetzt, da Voto den abgemagerten Grafensohn sah, blitzte in seinen Augen die Vorfreude darauf, sich für frühere Niederlagen zu revanchieren.
Gerolds Nackenmuskeln spannten sich an. Er zog das Holzschwert aus der Scheide und warf es in die Luft, wo es sich einmal drehte, bevor der Griff wieder in seine Hand glitt. „Man gebe mir meinen Schild!“
Ein Knecht reichte ihm den Schild.
„Viel Glück!“, sagte Adelind.
Gebhard klopfte ihm auf die Schulter.
Zusammen mit den anderen traten sie zurück und bildeten einen Kreis um Gerold und Voto. Gespannte Ruhe legte sich über den Grafenhof. Selbst die Vögel, die auf dem sanften Anstieg östlich des Grafenhofs gezwitschert hatten, hielten nun inne und verfolgten vom Waldrand aus, der den Anstieg nach hundertfünfzig Schritten beendete, das Schauspiel. Gerold hatte seinen Gegner fest im Blick und das Schwert fest in der Hand. Sie umkreisten sich, jeder den anderen belauernd.
Plötzlich − in einem Augenblick der Schwäche − knickten Gerolds Knie ein. Obwohl er den Fall sofort auffing, witterte sein Gegner die Chance: Er stürmte vor. Gerold duckte sich, spürte den Lufthauch von Votos Schwert an seinem Ohr, sprang zur Seite, rollte über den Boden und kam wieder auf die Beine.
Ein Raunen durchlief die Zuschauerreihen.
Graf Gebhard rief: „Selbst ein Methusalem stäche schneller zu als Ihr!“
Einige Zuschauer schmunzelten, die meisten jedoch ließen sich durch die Bemerkung des Grafen nicht ablenken.
„Danke Vater!“, knurrte Gerold leise − und fintierte: Mit einem Ausfallschritt spiegelte er einen Angriff vor, doch mitten in der Bewegung brach er ab, sodass er Voto die ungedeckte rechte Seite anbot.
Sofort fiel der Recke in die rechte Seite ein.
Gerold drehte sich weg, Votos Schwert sauste neben ihm durch die Luft − bis Gerold den Schwertarm zu fassen bekam. Der Waffenknecht guckte belämmert drein, und Gerold überlegte, ob er einen Treffer in Votos wertvollstes Stück setzen sollte, doch schließlich trat er ihm nur in den massigen Bauch und ließ gleichzeitig den Arm los.
Der Waffenknecht taumelte nach hinten, mit den Eichenarmen rudernd, bis er wieder fest auf den Beinen stand. Auf der Stirn des Riesen schwoll eine Ader an, er stieß einen markerschütternden Schrei aus und rollte, das Holzschwert schwingend, auf den Grafensohn zu.
Genau im richtigen Augenblick wich Gerold einen Schritt zurück.
Wieder ging der Schwerthieb ins Leere, wieder fasste Gerold mit seinem rechten Arm den Arm des Riesen.
Votos Arm fest im Griff, ließ er den Schild fallen, warf das Schwert in die freie Linke und drehte sich um den Gegner. Nach einer Vierteldrehung stieß er ihm den Ellbogen in die Rippen, nach einer ganzen Drehung stand er hinter ihm. Er stieß den Schwertknauf auf einen der unteren Halswirbel, während er mit dem Fuß zwischen die Beine trat.
Der Schmerzensschrei des Hünen klang viel höher als sein Angriffsschrei. Voto ging auf die Knie und krümmte sich, die Hände schützend über sein bestes Stück haltend.
Die Zuschauer schrien aufgeregt durcheinander.
Triumphierend hob Gerold die Arme, drehte sich einmal im Kreis und tätschelte dann Votos Schulter. „Guter Kampf.“
„Jaja, schon gut“, presste Voto hervor.
Gerold reckte seinem Vater das Schwert entgegen. „Mein Schwert trifft noch immer schnell wie eine Franziska und hart wie eine Eisenfaust.“
Die Zuschauer klatschten vor Freude. Gerold spürte ihre Erleichterung darüber, dass Gottes Zorn verflogen war und der Erbe des Grafen wieder kämpfen konnte, auch wenn in diesen Friedenszeiten niemand mit einem Krieg rechnete, erst recht nicht an einem friedvollen Tag wie diesem, wahrscheinlich einem der letzten warmen Tage des Jahres. Der Graf hatte denn auch viele Waffenknechte zum Einbringen der Ernte auf die Felder geschickt, nur Voto und ein zweiter Waffenknecht bewachten den Grafenhof.
Gerold steckte das Schwert in die Scheide seines Wehrgehänges, neben die Franziska, deren Klinge schon manchen Eberschädel gespalten hatte. Einen stolzen Blick warf er in die Menge. Auch ein Grafensohn muss sich Treue verdienen, dachte er. Aber ich werde es schaffen. Und eines Tages werde ich ebenso gerecht herrschen wie Vater.
Gerolds Augen erspähten das horizontblaue Kleid seiner Schwester. Er verneigte sich in ihre Richtung, sie erwiderte seinen Gruß mit einem ebenso spöttischen wie huldvollen Nicken.
Der Graf klopfte ihm auf die Schulter. „Bist doch flinker als ein Methusalem, mein Sohn.“
In jenem Augenblick, als die Harmonie auf dem Grafenhof wiederhergestellt schien, vernahm Gerold ein leises Sirren. Es war kaum mehr als ein Vibrieren der Luft, dennoch sollte er sich den Rest seines Lebens an dieses Geräusch erinnern.
Denn mit diesem Sirren endete seine Jugend.
Es war ein Pfeil, der an seinen Rippen vorbeisirrte, sodass er noch dessen Luftzug spürte. Zwei Handbreit weiter schlug er in die Brust seines Vaters ein.
Gerold wusste nicht, wie lange er dastand, den Blick fassungslos auf den Pfeil gerichtet.
„Vater?“
Um die Pfeilspitze herum sickerte Blut aus der Brust.
Vaters Mund öffnete sich, er wollte etwas sagen, doch bevor es dazu kam, sackte er zusammen.
Reflexartig fing Gerold den Sturz ab. Er legte Gebhard ins Gras, mit seinem linken Arm stützte er den Kopf. Blut tropfte aus dem Mund und floss das bleiche Kinn hinunter.
Voto kniete sich neben ihn und fragte: „Herr?“ Als erwartete er einen Befehl seines Grafen.
Doch der Graf gab keinen Befehl mehr.
„Vater!“, schrie Gerold, ihn immer noch im Arm haltend.
Endlich schaute er sich um. Im Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung: Im Osten trieben fünf Reiter, in ihren Sätteln vornübergebeugt, schwarze Pferde aus dem Wald heraus und das sanft abfallende Gelände hinunter. Einer der Reiter reckte eine Lanze in die Luft, die vier anderen Reiter führten gleichzeitig die Hände zu den Wehrgehängen und zogen die Schwerter.
Von dort musste der Pfeil gekommen sein.
Voto warf das Holzschwert weg, rannte zur Wachhütte, wo sein Stahlschwert lag, und stellte sich den fünf Reitern aus dem Osten entgegen, doch sie galoppierten an ihm vorbei und hielten auf die Menge vor dem Großen Saal zu. Die Menschen schrien auf. Einige stoben davon, andere blieben wie festgewurzelt stehen.
Auch im Westen stürmten Reiter aus dem Wald hervor, flogen an den Wirtschaftsgebäuden und am Großen Saal vorbei, zückten ihre Schwerter und preschten mitten hinein in die Zuschauermenge, stachen in Hälse, zertrümmerten Schädel.
Gerold glaubte die Bilder nicht, die seine Augen erfassten. Er suchte nach Adelind. Sie stand inmitten der Menge, hob sich aus ihr hervor mit ihrem blauen Kleid. Das Gesicht kreidebleich, starrte sie in seine Richtung, wo Vater am Boden lag.
Ich muss sie in Sicherheit bringen, dachte Gerold. Sanft legte er den Kopf seines Vaters ins Gras und rannte zu ihr.
Wie ein Dämon tauchte hinter ihr ein Reiter auf.
„Adelind!“, schrie Gerold. „Lauf weg!“
Sie sah den Dämon nicht, ebenso wenig das Schwert, das hoch über ihr in der Sonne blitzte.
„Adelind!“, schrie Gerold, wild mit den Armen fuchtelnd. „Hinter dir!“
Das Schwert sauste auf sie nieder. Es schlitzte in ihren Nacken und drang tief in den Hals. Ihre Augen weiteten sich in einem Augenblick des Unglaubens, dann drehte sie sich um die eigene Achse und sackte zusammen.
„Nein!“, schrie Gerold. In vollem Lauf griff er die Franziska und schleuderte sie gegen den feindlichen Reiter. Das Beil schlug in dessen Rücken ein, und der Mann stürzte vom Pferd.
Reglos lag seine Schwester am Boden. Er kniete neben ihr nieder. Aus dem Hals sprudelte Blut. „Adelind!“, rief er, mit der Hand die Backe tätschelnd. „Schwesterherz!“
Ihr Name schien irgendetwas in ihr zu wecken. Die Augen blickten zu ihm hinauf, und die Mundwinkel zogen sich zu einem leisen Lächeln nach oben. „Bruder“, flüsterte sie.
Das Lächeln erstarb, ebenso ihre Augen, weit aufgerissenen starrten sie gen Himmel.
Er fasste an ihre Schulter und rüttelte sie. „Schwester!“
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, es war Voto. „Sie ist tot, Herr.“
„Nein.“ Schwach schüttelte Gerold den Kopf, Tränen schossen ihm in die Augen.
Er zwang seinen Blick von ihr weg, er sah auf. Die Menschen flohen in alle Richtungen; die einen versuchten, den Wald zu erreichen, andere stürzten in den Großen Saal. Voto rannte nach Osten, den Abhang hinauf.
„Wer sind die überhaupt?“, fragte sich Gerold, gegen Tränen ankämpfend. „Wo kommen sie her?“
Er stand auf und zog sein Schwert, doch am Gewicht merkte er, dass er nur das Holzschwert in der Hand hielt.
„Voto!“, rief Gerold ihm hinterher.
Voto blieb stehen, er zögerte einen Moment, als überlegte er, ob er Gerolds Ruf folgen sollte, doch dann kehrte er um.
Gerold warf das Holzschwert weg und streckte die Hand aus. „Gib mir dein Schwert!“
Voto legte ihm das Schwert in die Hand.
Gerold nickte. „Du kannst gehen.“
Voto rannte davon, wurde aber von zwei Reitern eingeholt und niedergemacht.
Gerold hob seinen Schild vom Boden auf.
Die Reiter wendeten, erblickten Gerold und trieben ihre Pferde in seine Richtung.
Gerolds Atem ging schneller. Ich bin der Nächste, schoss es ihm durch den Kopf.
Ein Reiter − der rechte − hielt kein Schwert in der Hand, sondern eine drei Schritte lange Lanze.
Gerold hatte den Großen Saal im Rücken. Der feste Vorsatz, nicht zu fliehen, wankte mit jedem Schritt, den die Pferde näherkamen, ein wenig stärker.
In vollem Galopp donnerten sie auf ihn zu.
Gerold machte einen Schritt zurück.
Der Reiter hob die Lanze, bereit, die Eisenspitze in Gerolds Brust zu bohren.
Gerold blickte über die Schulter. Zu spät. Zu weit war die Tür zum Großen Saal entfernt. Er hörte das Schnaufen der Pferde. Verzweifelt warf er sich nach links, weg vom Lanzenreiter − und geriet vor die Hufe des anderen Pferdes. Er riss mit der linken Hand den Schild vor das Gesicht und mit der rechten Hand das Schwert nach oben; er schloss die Augen, um die Pferdehufe, unter denen er zermalmt werden würde, nicht kommen zu sehen.
Das Schwert schnitt in Fleisch, das Pferd wieherte ohrenbetäubend.
Gerold riss die Augen auf, nahm den Schild vom Gesicht.
Er sah in einen Pferdehuf.
Ehe er sich rühren konnte, stampfte der Pferdehuf auf: ins Gras, keine zwei Halme neben seinem Ohr.
Das Pferd bäumte sich auf, der Reiter rutschte vom Pferderücken.
Gerold sprang zum gestürzten Reiter und stieß ihm die Schwertklinge in den Bauch, bevor dieser aufstehen konnte. Während der Schrei des Getroffenen in Gurgeln überging, drehte sich Gerold nach dem Reiter mit der Lanze um.
Doch der Lanzenreiter war nicht mehr allein.
Drei weitere Reiter hatte er um sich gesammelt, sie schwärmten aus und umstellten Gerold: In einem Halbkreis standen sie vor ihm, hinter sich hatte er den Großen Saal.
Gerold erkannte, dass sie ihn dort hineindrängen wollten. Er blieb stehen.
Für einige Augenblicke stand alles still. Gerold dachte, sie könnten ihn zur Aufgabe auffordern, um später für ihn Lösegeld auszuhandeln.
Aber niemand sagte ein Wort.
Er ahnte: Sie wollten keine Münzen, sondern sein Leben. Er spürte eine unsichtbare Hand, die sich um seinen Hals legte und die Kehle zudrückte.
Ein Wunder, dachte er, ich brauche ein Wunder.
Als würde sein Flehen erhört, stach ihm seine Franziska ins Auge: Sie steckte noch im Rücken des Reiters. Gerold hechtete zu ihr, warf das Schwert weg, riss die Franziska aus dem Rücken und schleuderte sie auf den Lanzenreiter.
Der Reiter riss den Schild hoch, krachend prallte die Franziska daran ab.
Der Lanzenreiter lachte leise.
Schritt für Schritt kamen die vier Reiter näher.
Gerold nahm das Schwert wieder vom Boden auf. Erneut spürte er die unsichtbare Hand an seinem Hals. Er wusste, dass er in den Großen Saal fliehen musste. Aber was, wenn sie ihn anzünden würden?
Verzweifelt suchte er einen Ausweg, irgendeine Möglichkeit zur Rettung, ein Wunder − und erspähte zwei Eisenringe im Boden. Sie gehörten zur Falltür, die in das Gefängnis führte.
Noch zehn Schritte war der Lanzenreiter entfernt.
Gerold rannte zur Falltür.
Der Lanzenreiter stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanken.
Gerold warf den Schild weg, zog die Falltür an den Eisenringen auf und warf das Schwert hindurch.
Er sah den Lanzenreiter nicht, hörte nur das Donnern der Hufe, befürchtete, jeden Moment die Lanzenspitze in seinem Rücken zu spüren.
Dann sprang er in das Loch. Er sah den Boden nicht kommen, ohne Vorwarnung knallte er auf Knie und Ellbogen. Gerold stöhnte, zog den modrigen Geruch durch die Nase. Er zitterte am ganzen Körper. Ist das alles wahr?, fragte er sich. Nein, das kann unmöglich wahr sein. Mein kleines Schwesterherz, sie kann nicht …
Draußen landete einer der Reiter auf seinen Füßen. Schritte näherten sich.