Loe raamatut: «Koshiki Kata»

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Roland Habersetzer

Koshiki Kata

Die klassischen Kata des Karatedô

Aus dem Französischen

von Frank Elstner

Palisander

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Der Autor

Danksagung

Illustrationen

Vorwort zur deutschen Ausgabe der Koshiki Kata

Vorbemerkung

Die Inkunabeln des Karatedô

Zeit der Reife

I Die Koshiki Kata des Karate: Grundlage und Gestalt

Die klassische Kata und die traditionelle Kata: zwei Ebenen der Erforschung und des Verständnisses

Klassische Kata des Karatedô – eine Technik des Erweckens

Die klasssische Kata als verschlüsselte Kampfform

Die klassische Kata als Arbeit mit der inneren Energie

Die klassische Kata als „unendlicher Schatz“

Kata: Dô oder Jutsu?

Hito kata san nen

Kata, der Schlüssel zum Verständnis

Tokui-Kata – die Lieblingskata

Bunkai

II Auf der Spur der unendlichen Schätze

1 China – die Enstehung

1.1 Die kulturellen Wurzeln

1.2 Vom philosophischen Konzept zur Kampfmethode

2 Okinawa – die Übertragung

2.1 Der Transfer: vom Tôde zum Okinawa te

2.2 Der Reifeprozeß: die Individualisierung der Stile

3 Japan – die Expansion

3.1 Die Entdeckung und die Initiation

3.2 Wandlungen und Weiterverbreitung

III Lebendige Tradition

1 Die letzten Meister der letzten traditionellen Schulen

1.1 Okinawa: die letzten Hüter der Tradition

1.1.1 Der Zweig des Shôrin ryû

1.1.2 Der Zweig des Naha te

1.2 Japan: die letzten Erben

1.2.1 Shôtôkan

1.2.2 Shôtôkai

1.2.3 Wadô ryû

1.2.4 Shitô ryû

1.2.5 Itosu ryû

1.2.6 Gôjû ryû

1.2.7 Letzte Vertreter einer Tradition

1.3 Fazit

2 Die Kata: letzte Spuren eines verlorenen Pfades

2.1 Passai, Kûshankû, Tekki: die große Trilogie

2.1.1 Passai (Patsai, Bassai)

2.1.2 Kûshankû (Kankû)

2.1.3 Naihanchi (Tekki)

2.2 Historische Fragmente

2.3 Etymologie der Koshiki Kata

IV Zeugen

1 Die Kunst, eine Kata im traditionellen Geist auszuführen

1.1 Atmung und Rhythmus

1.2 Ausrichtung

1.3 Inneres Empfinden

1.4 Ausführung

1.5 Auf der Suche

2 Die Koshiki Kata in bildlicher Darstellung

2.1 Die 16 Kata der Schule des Matsubayashi Shôrin ryû

2.1.1 Die fünf Pinan

2.1.2 Die drei Naihanchi-Kata

2.1.3 Kûshankû

2.1.4 Passai

2.1.5 Ananko

2.1.6 Wankan

2.1.7 Rôhai

2.1.8 Wanshu

2.1.9 Chintô

2.1.10 Gojûshiho

2.2 Acht Beispiele personalisierter Kata

2.2.1 Itosu no Kûshankû

2.2.2 Eine Kata-Passage und ihr Bunkai in verschiedenen Stilen

2.2.3 Matsumura no Passai

2.2.4 Chibana no Passai

2.2.5 Matsumura no Chintô

2.2.6 Shiroma no Chintô

2.2.7 Bunkai-Möglichkeiten anhand der Chintô (Gankaku)

2.2.8 Aragaki no Sôchin

2.2.9 Jion

2.2.10 Jitte

2.3 Ein Beispiel für eine Entwicklung: von der Chibana no Kûshankû (shô) zur Kankû shô

2.4 Zwei Beispiele für Kata, die ihrem chinesischen Ursprung nahe geblieben sind

2.4.1 Sanchin no kata (Uechi ryû)

2.4.2 Seisan no kata (Uechi ryû)

2.5 Ein vergessener und wiedergefundener Schatz: die Happoren no kata

Nachwort

Der Verlag dankt Sven Hensel, Oliver Siegemund (CRB), Conrad Kassebaum, Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein, Franz Scheiner, Mitglied des CRB aus Würzburg, und Helmut Götz, Mitglied des CRB aus Weiden, für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.

Deutsche Erstausgabe

2., überarbeitete Auflage 2009

Titel der Originalausgabe:

Koshiki no kata – les formes anciennes

© 1994 by Éditions Amphora s.a., Paris

Deutsch von Frank Elstner

© 2005, 2009 by Palisander Verlag, Chemnitz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Anja Elstner

Redaktion & Layout: Viola Börner und Frank Elstner

Illustrationen: Roland Habersetzer, Archiv Roland Habersetzer

Fotos: Gabrielle Habersetzer, Archiv Roland Habersetzer

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

ISBN 9783938305225

www.palisander-verlag.de

Es heißt, ein kluger Mensch behalte die Hälfte dessen, was er vernimmt, und der weise Mensch wisse, welche Hälfte dies zu sein habe …

Ich widme diese Schrift Ogura Tsuneyoshi Sensei (Kofu) und Ôtsuka Tadahiko Sensei (Tokio), meinen Meistern, die meine Freunde geworden sind. Sie haben es vor nunmehr langer Zeit – und jeder auf seine Weise – vollbracht, mich zu lehren, jene Hälfte zu erkennen, um darin das zu finden, was eine leidenschaftliche Reise ins Herz der wahren Dinge ermöglicht.

R. H.


Roland Habersetzer in seinem Dôjô (Saint-Nabor, September 2005)

Der Autor

Roland Habersetzer, Jahrgang 1942, ist seit 1957 Praktizierender der Kampfkünste. Bereits 1961 erhielt er den 1. Dan und wurde so zu einem der ersten französischen „Schwarzgurte“ im Karate. Zu recht wird er sowohl als Spezialist der japanischen Kampfkünste (Budô) als auch der chinesischen (Wushu) angesehen. Nachdem er verschiedene Graduierungen in Frankreich, Japan und China erhalten hatte, wurde Roland Habersetzer im April 2006 in Japan durch O-Sensei Ogura Tsuneyoshi (Schüler von Yamaguchi Gôgen und von Gima Makoto) der 9. Dan, Hanshi, sowie der Titel eines Sôke (Meister-Gründer) für seinen eigenen Kampfkunststil „Tengu no michi“ (Tengu ryû Karatedô, Kobudô, Hôjutsu) verliehen. Diese Graduierungen und Titel wurden durch Tadahiko Ôtsuka vom Tokioter Gôjûkensha (anerkannter Meister des Gôjû ryû, des Naha te und des Shuri te und direkter Schüler von Higa Yûchoku, von welchem er den Titel des Hanshi erhalten hat) bestätigt. Damit wurden seine außerordentlichen Bemühungen bei der Verbreitung der Kampfkünste und die hohe Effektivität seines Wirkens gewürdigt. Bestätigt wurde hierdurch ebenfalls der Sinn, den Roland Habersetzer stets in den nunmehr über 50 Jahren seiner Kampfkunstpraxis und in seinem Engagement für eine authentische Tradition gesehen hat, einer Tradition, die im Zeichen des größten Respekts vor den Stufen „Shu“, „Ha“ und „Ri“ steht. Schließlich stellt dies auch die Legitimierung seines eigenen Konzepts der Praxis der Kampfkünste dar, des „Weges des Tengu“ („Tengu no michi“).

Im Jahre 1968 erschien sein erstes populärwissenschaftliches Buch über die Kampfkünste. Heute besteht sein Werk aus über 70 Büchern, was ihn zum Autor der weltweit bedeutendsten Buchreihe auf diesem Gebiet werden läßt. Seine Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt worden sind, gelten in allen frankophonen Ländern als historisches, technisches und pädagogisches Standardwerk. Auch in vielen anderen Ländern besitzen sie hohes Ansehen.

Schon frühzeitig zeigte sich Roland Habersetzer enttäuscht von der Tendenz des Karate, sich von einer Kampfkunst zur Sportart zu entwickeln. Daher gründete er 1974 das Centre de Recherche Budo (CRB), eine internationale, unabhängige Organisation, die zahlreiche Budôka zusammengeführt hat, denen vorrangig der Erhalt der geistigen Werte der japanischen und chinesischen Kampfkünste am Herzen liegt. Durch sein Wirken im Rahmen des CRB, durch zahlreiche Lehrgänge und Seminare auf der ganzen Welt und natürlich auch durch seine technischen Handbücher und historischen Werke leistete er echte Pionierarbeit, damit die traditionellen Werte seiner Kunst nicht verloren gehen. Zwischen 1962 und 2002 unterrichtete er in seinem Dôjô in Straßburg. Stets umfaßte sein Ausbildungskonzept sowohl die Kampftechniken als auch deren kulturellen Hintergrund. Nach wie vor ist er als Budôka sehr aktiv, auch wenn sich seine Lehrtätigkeit inzwischen auf wenige Lehrgänge und Seminare hohen Anspruchs pro Jahr beschränkt.

Der weltweit anerkannte Experte des Karatedô, des Kobudô und des Taijiquan interessiert sich leidenschaftlich für Kampfkünste in all ihren Erscheinungsformen. Nach Effektivität im Kampf zu streben bedeutet für ihn, alle Entwicklungen vorurteilsfrei zu betrachten. Diese Überzeugung führte den modernen „Rônin“, als den er sich sieht, dazu, seiner Praxis auch andere Techniken hinzuzufügen, was selbst den Umgang mit zeitgenössischen Waffen einschließt. So ist er (mit entsprechenden Diplomen aus den USA und der Schweiz) u. a. auch als Ausbilder im Kampfschießen mit Handfeuerwaffen tätig.

Mit seinem Institut Tengu, das er 1995 gründete, begann parallel zu seiner Tätigkeit als Budôka eine neue Etappe seiner Forschungen auf dem Gebiet der Kampfkünste. Das Ziel dieses Instituts besteht darin, auf Grundlage des Studiums und des praktischen Vergleichs zahlreicher Formen des Kampfes mit und ohne Waffe zu einem umfassenden Konzept der Selbstverteidigung zu gelangen, das den Gegebenheiten des heutigen Lebens gerecht wird. Die Absicht von Habersetzer Sensei besteht darin, der Praxis des Karatedô einen Sinn zu verleihen, der in der modernen Gesellschaft Bestand hat, einen Sinn, der nichts zu tun hat mit sportlichen oder spielerischen Varianten. Sein leidenschaftliches Streben gilt einer gültigen Neubestimmung des Konzepts des Kriegertums für unsere Epoche; Techniken, Taktiken und Verhaltensweisen der Praxis des klassischen Karatedô sollen mit den Gegebenheiten unserer Zeit in Einklang gebracht werden.

„Der Weg des Tengu“ (Tengu no michi) ist für ihn das Abbild einer neuen Bewußtwerdung, eines Willens, einer modernisierten Methode des Budô. Geistige Einstellung und technische Mittel entsprechen dabei den Anforderungen der heutigen Welt. Indem er nach langen Jahren auf dem Weg des klassischen Karatedô eine authentische Schule (Ryû) der vereinigten Kampfkünste (Shin Budô), „Tengu no michi“, gegründet hat, tat Habersetzer Sôke nichts anderes, als den lebendigen Geist der Tradition in die Gegenwart einzubringen. Ganz im Sinne eines „Tatsujin“ („aufrechter Mensch“) ist er somit seiner ursprünglichen Wahl treu geblieben, indem er die Tradition mit Nachdruck und Überzeugung ehrt und weitervermittelt.

Danksagungen

Der Autor dankt Ôtsuka Tadahiko Sensei und Myazaka Shinji, daß sie es ihm gestattet haben, die Fotos von ihnen, die während ihres Aufenthalts in Straßburg im Oktober 1993 entstanden sind, in dieses Buch aufzunehmen. Besonderer Dank gilt Ôtsuka Sensei für seine wertvolle Hilfe beim Verstehen der Kata Happoren.

Der Autor dankt gleichermaßen Herrn Hilmar Fuchs, 6. Dan, und Herrn Jean-Jacques Graff, 3. Dan, wie auch Herrn François Claudic, der mit dem Autor zusammen auf einer Anzahl Fotografien zur Darstellung der Bunkai-Kumite in diesem Buch zu sehen ist.

Illustrationen

Alle Zeichnungen entstammen der Feder des Autors. Die Fotografien, wenn nicht anders vermerkt, stammen aus den Archiven des Autors oder sind lizenzfrei.


Centre de Recherche Budo (CRB)

7b Chemin du Looch

F-67530 Saint-Nabor

Internet: www.karate-crb.com

Deutsche CRB-Website:

www.wslang.de/​karatecrb


Karatedô ist die Kunst der Tugendhaften.

Funakoshi Gichin

Der Mensch kämpft durch seinen Geist. Seine Hände und Waffen verlängern lediglich die

Reichweite seines Willens, und der größte Irrtum unseres Zeitalters besteht darin,

zu glauben, daß die Ausrüstung den Geist ersetzen könne.

Jeff Cooper, American Pistol Institute

Der Schmerz läßt den Mann denken.

Der Gedanke läßt den Mann weise werden.

Die Weisheit läßt das Leben erträglich werden.

Okinawanisches Sprichwort

Jeder ist bemüht, das kennenzulernen, was er noch nicht kennt,

aber niemand versucht, das Wissen, welches er bereits besitzt, zu vertiefen.

Zhuangzi

Je größer die Götter, um so freier der Mensch.

Marcel Gauchet in „Le désenchantement du monde“, 1985

Vorwort zur deutschen Ausgabe der Koshiki Kata

Man bezeichnet die alten traditionellen Kata, die Koshiki Kata, oft als „unendliche Schätze“. Über Generationen hinweg haben Meister sie bis in unsere Tage weitergereicht. Zweifelsohne wurden sie im Laufe der Zeit verändert, aber das Wesentliche dessen, was übermittelt werden sollte, ist erhalten geblieben. Seit ich vor langer Zeit begonnen habe, mich für sie zu interessieren und sie im Dôjô zu studieren, habe ich mir die Frage gestellt, wie es möglich sei, daß eine Technik, die dazu bestimmt ist, den Gegner zum Krüppel zu machen oder ihn gar zu töten, als „unendlicher Schatz“ bezeichnet wird. Was sollte denn so „wertvoll“ sein an jenen Sequenzen von Kampftechniken aus alter Zeit, in denen es letzten Endes um Leben oder Tod geht?

Die Antwort hat sich im Laufe der Zeit ergeben, und dies auf ganz natürliche Weise. Eines Tages hatte ich begriffen, daß diese alten Kata keinerlei Geheimnis enthielten, keine verborgene Technik, die wir nicht schon längst kennen. Ich begriff, daß ihr „Wesen“ nicht in ihren Techniken bestand, daß ihre „Wahrheit“ woanders zu finden war. Daß sie in Wirklichkeit viel mehr waren als simple Anleitungen zum Kämpfen.

Die alten Kata unterscheiden sich augenfällig von den modernen, sportlichen und spektakulären Choreographien, die geschaffen wurden, um zu gefallen und um zu blenden. Man muß sich die Zeit nehmen, den Koshiki Kata zu „lauschen“, ihre Bewegungen zu absorbieren, sich von ihnen formen zu lassen; man muß ihnen vertrauen. Auf diese Weise wird man am Ende zu einer neuen inneren Haltung gelangen (Shisei), zu einem neuen Verhalten (Seiki), und dies sowohl im Dôjô als auch im täglichen Leben. Die Koshiki Kata sind eine Schule, in der Begriffe wie Ehrfurcht, sinnvolles Bemühen, Authentizität, Redlichkeit, Bescheidenheit, Selbstbeherrschung, Toleranz, Gewaltfreiheit, Urteilsvermögen, Mut, Beharrlichkeit, Humanismus, Sinn für Effektivität, der Wille, sich einzubringen und voranzukommen zählen. So viele Anhaltspunkte für ein ganzes Leben voller Herausforderungen, Eigenschaften, die den Menschen zu wirklicher Reife führen. Positive Werte, die aus den Koshiki Kata einen „Weg des Menschen“ werden lassen.

Diese alten Kata stellen ein pädagogisches Konzentrat dar, das einen lehrt, sich selbst zu gestalten und – ein jeder an seinem Platz – nützlich zu sein. Die Koshiki Kata können einen Weg weisen, durch den es möglich wird, aufrechten Ganges durchs Leben zu gehen, niemals resigniert aufzugeben und den Willen zu schmieden, damit er allen falschen Glaubenssätzen widerstehen kann, die in der Gesellschaft verbreitet sind. Sie können uns helfen, einen Beitrag zu leisten für eine Welt jenseits der Beliebigkeit.

Wer durch die Schule der Koshiki Kata gegangen ist, wird danach streben, daß die Gesellschaft, in der er lebt, ein wenig vernünftiger, ein wenig ausgeglichener wird, damit es in ihr eine Zukunft gibt, in welcher die Schätze der menschlichen Existenz, die uns aus der Vergangenheit überliefert wurden, wieder einen Wert besitzen und fortbestehen können.

Jede Kata, die sich von ihren Ursprüngen nicht zu weit entfernt hat, hat das Vermögen, den Praktizierenden „richtiges“ Verhalten zu lehren. Damit stellt sie nicht weniger dar als eine Kraft, die jenen weltweiten Tendenzen entgegenwirkt, die den Menschen in verschiedenartigste Abhängigkeiten drängen und ihn schwächlich und stumpfsinnig werden lassen.

Denkt man über den wirklichen Sinn des Weges der Kampfkünste () nach, so offenbart sich, daß er tatsächlich einen Weg zu einer äußerst wertvollen inneren Freiheit bedeutet. Und das ist es, was ich nach langen Jahren der Praxis endlich begriffen hatte, und die frischen Farben, die diese Entdeckung in meinen Alltag getragen hat, begleiten mich nun in den Herbst meines Lebens.

Ich wünsche meinen geschätzten Lesern dieser deutschen Ausgabe der „Koshiki Kata“, zu derselben Entdeckung zu gelangen, die ihr Leben bereichern wird. Und ich danke dem Palisander Verlag, daß er ihnen dies ermöglicht hat.

Roland Habersetzer

Saint-Nabor, September 2005

Vorbemerkung

In diesem Buch werden die Koshiki Kata des Karatedô, das heißt, die alten, „klassischen“ Formen dieser Kampfkunst behandelt. Um aus der Lektüre dieses Buches praktischen Nutzen ziehen zu können, ist eine solide Kenntnis der modernen Kata, wie sie heute in den Hauptrichtungen des Karate (Shôtôkan ryû, Wadô ryû, Shitô ryû, Gôjû ryû) praktiziert werden, unbedingt vonnöten. Ich halte es deshalb für wichtig, den Leser darauf hinzuweisen, daß es nur eine Möglichkeit gibt, mit Hilfe dieses Buches auf seinem Weg vorwärtszukommen: Er muß langsam voranstreben und darf nie vergessen, daß eine Kata, sei sie nun modern oder klassisch, immer einem bestimmten historischen, geographischen und gesellschaftlichen Kontext entspringt. Für die Koshiki Kata gilt dies natürlich in besonderem Maße, und das ist der Grund für die ausführlichen historischen und genealogischen Abhandlungen in diesem Buch.

Nichts entspräche weniger dem Geist dieser Schrift, als lediglich eine oberflächliche Kenntnis einiger neuer Techniken vermitteln zu wollen.

Die Inkunabeln des Karatedô

Mehrere Jahrzehnte leidenschaftlicher Praxis im Karatedô liegen heute hinter mir. Ich habe unzählige Dinge erlebt, gesehen und vernommen in der „Welt des Budô“, und ich bin auf meinem Weg nicht wenigen Menschen begegnet, deren Verhalten mir unbegreiflich ist. Von Zeit zu Zeit blicke ich zurück, um zu versuchen zu verstehen, um aus Fehlern zu lernen, und um mich erneut von der Leidenschaft ergreifen zu lassen.

Ich erinnere mich gut an das Ende der 50er Jahre, jene Zeit, in der in Frankreich als erstem europäischen Land Karate als neue Kampfkunst entdeckt wurde. In den wenigen Dôjô jener Zeit begann man, unermüdlich fünf oder sechs grundlegende Kata zu üben, in denen alle Lehren und Botschaften unserer Meister verborgen waren. Schicht um Schicht wurde dieses Wissen freigelegt. Niemand von uns wußte, daß noch weitere Kata existierten. Eine Leidenschaft für das Einfache war entfacht worden.

Zehn Jahre später und noch lange Zeit danach wurden die europäischen und amerikanischen Karatevereinigungen durch japanische Experten aller Stile geleitet. Angetrieben durch die beginnende Konkurrenz, begann eine Epoche, die durch einen wahren Heißhunger auf neue Kata gekennzeichnet war. Um im Rennen zu bleiben, mußte man so schnell und so viel wie nur möglich lernen. Was zählte, war, vor allen anderen eine bis dahin unbekannte Kata erlernt zu haben. Ich erinnere mich, wie ich an den Abenden nach den Lehrgängen fieberhaft und in den kleinsten Einzelheiten die Varianten dieser und jener Kata notierte, je nachdem, welcher Experte oder Meister sie gelehrt hatte. Man mußte damals ohne Videoaufzeichnungen zurechtkommen, und so erlernte ich das Zeichnen. Eine Leidenschaft für die Vielheit war entbrannt.

Schließlich, nach etlichen Jahren, hat dieser Durst nach immer mehr zu einem unglaublichen Wirrwarr geführt. Schnell wird man heute des Lernens überdrüssig, lieber entwickelt man eigene Interpretationen, führt kühne Neuerungen ein, entwirft persönliche, spektakuläre Kata. Das führt so weit, daß Kata zu Musik vorgeführt werden, und ein Publikum, das nicht die leiseste Ahnung von dem hat, was „echt“ ist, bejubelt die Show. Die Zeit der Blender, Menschen ohne Verantwortungsgefühl, war gekommen. Aber noch immer existierte eine Vielzahl Karateka, deren Leidenschaft für ihre Kampfkunst nicht erloschen war. Für das Karate-Business und seine Nutznießer spielten diese Praktiker keine Rolle, sie blieben gewissermaßen im Schatten verborgen. Zugunsten ihrer Liebe zur „echten“ Kata verzichteten diese Karateka auf allen äußeren Schein, wohl wissend, daß das, was am meisten glänzt, am stärksten (ver)blendet. Bescheiden und vorsichtig versuchten sie, zu den Quellen ihrer Kunst vorzudringen. Und so kam es dazu, daß parallel zur Entwicklung der Kampfsportverbände und ihrer „vereinheitlichten Kata“ eine Rückbesinnung auf die überlieferten (Koshiki) Kata erfolgte. Eine Rückkehr zu jener Epoche, in der man traditionell „eine Kata in drei Jahren“1 erlernte. Auf diese Weise ist genügend Zeit, daß die Magie der Kata sich entfalten kann, durch die sich dem Praktizierenden ihre physische und geistige Botschaft offenbart. Nur so vermochte sich die Kata in ein Instrument für seine innere Entwicklung zu verwandeln.

In all den Jahren meiner Karatepraxis habe ich mich niemals von einer Mode beeinflussen lassen, weder in den Grundlagen noch in der Form der Ausübung. In dem Weg, den die Kunst der „leeren Hand“ eröffnet, sah ich stets eine außergewöhnliche Möglichkeit, sich mit Hilfe einer Technik zu bilden. Ich entdeckte hier die Freiheit, die jeder Mensch genießen kann, wenn er nur lernt, seine Energie auf intelligente Weise einzusetzen, ohne daß er dadurch seinem Nächsten Schaden zufügen muß. Und das Wesen des Karatedô, seine Seele, das ist die Kata2. Sie stellt die greifbarste, wenn nicht gar die einzige Form dar, die die Ergründung des eigenen Inneren ermöglicht; sie ist ein Werkzeug zur Selbstgestaltung. Indem der Praktizierende langsam und beharrlich an sich arbeitet und dabei seine Neigung zu gewalttätigem Handeln beherrschen lernt, wird er mit ihrer Hilfe den Zugang zu seinem eigentlichen Selbst erlangen.

Ich habe bereits in anderen Büchern3 meine Auffassung über die Kata und den ihnen innewohnenden Reichtum dargelegt, der jenseits der vielleicht ästhetisch anzusehenden, aber gehaltlosen Bewegungsabläufe, wie sie uns heute häufig präsentiert werden, zu finden ist. An dieser Stelle will ich daher diese Überlegungen nur kurz zusammenfassen: Die Kata ist weit mehr als eine Choreographie des Kampfes, weit mehr als eine als Gedächtnisstütze dienende Abfolge von Techniken des Karate. Wird sie im Geiste ihres Schöpfers praktiziert, stellt die Kata eine Brücke dar, die durch die alten Meister der Kunst konstruiert wurde. Eine Brücke, deren Elemente aus einer Art Rätseln bestehen, welche diejenigen entmutigen sollen, denen es an Geduld und Urteilsvermögen mangelt. Tatsächlich führt sie aber durch jene Art des Tätigseins, wie sie in allen fernöstlichen Kampfkünsten hoch angesehen ist, zur vielgerühmten Einheit von Körper und Geist. Und dieses Tätigsein besteht gewiß nicht darin, das Ego wachsen zu lassen.

Die Schöpfer der Kata haben die darin enthaltenen Bewegungen als Code zusammengestellt, durch den der Geist der Kata vermittelt wird. Im Laufe der Zeit verarmten die Kata, verblaßte ihr Sinngehalt. Dies lag nicht zuletzt an der mangelnden Sorgfalt jener, die mit ihrer Weitergabe betraut waren. Um den ursprünglichen Geist erhalten bzw. wiederentdecken zu können, ist es nötig, respektvoll auf das zurückzugreifen, was vor dem Prozeß der Verarmung bestanden hat. Dies stellt keine leichte Aufgabe dar. Der Forscher sieht sich heute mit geradezu archäologischen Aufgaben konfrontiert, und was er mit viel Geduld zutage fördert, sind oftmals nichts als brüchige Fragmente, angenagt vom Zahn der Zeit. Die Aufgabe, die Gesamtheit des Aufgefundenen zu rekonstruieren, verlangt ein hohes Maß an Vorstellungskraft und Interpretationsvermögen. Was aber zählt, ist die Tatsache, daß die Arbeit, das Puzzle wieder zusammenzusetzen, voranschreitet und daß mehr und mehr Karateka dies zu schätzen wissen.4 Diese Karateka sind zu der Einsicht gelangt, daß das Bindeglied nicht verloren gehen darf, welches sie mit der Vergangenheit und mit dem tatsächlichen Daseinsgrund eines Kriegerweges (Budô) verbindet, der eben nicht im sportlichen Wettstreit liegt. Ihr Anspruch auf diesem Gebiet hat sich im übrigen derart deutlich gezeigt, daß heute selbst die Vereinigungen des Sportkarate sowie die Stilrichtungsverbände darauf mit „Kata-Wettkämpfen“ reagieren – eine weitere Verirrung im sogenannten modernen Karate.5 Denjenigen, der den Inhalt vom Behältnis zu unterscheiden weiß, wird dies kaum beeindrucken. Aber natürlich ist selbst solch ein Spektakel, das für ein Publikum von Praktizierenden und Nichtpraktizierenden aufgeführt wird, besser als nichts. Auch wenn es nur den untersten Grad der Wahrnehmung einer Kata darstellt, so bedeutet es doch auch ein Überleben, ein Nichtvergessen dieser „Mutterformen“ der Kunst der „leeren Hand“. Dies gilt in jedem Fall, selbst heute, wo wir im Multimedia-Zeitalter leben, in dem jedermann sich der Illusion hingeben kann, mit Hilfe von Videoaufzeichnungen seine „Kenntnisse“ über okinawanische oder japanische Kata oder über chinesische Tao aufzustocken. Die Überfülle solchen Materials, mit dem der Markt überschwemmt wird, wirkt sich im Endeffekt sehr nachteilig hinsichtlich des Echten und Gelebten aus, das hierdurch weiter in den Hintergrund gedrängt wird.

„Eine Kata in drei Jahren“ … Sollte der moderne Karateka etwa nicht über die Mittel und Möglichkeiten verfügen, die es ihm erlauben, schneller die Abschnitte der traditionellen Entwicklung durchlaufen zu können? Die wenigen alten Meister, die heute noch auf Okinawa oder in Japan leben, pflegen über solche Ansichten höflich zu lächeln, sie lassen die Leute in ihrem Glauben. Was sollte es nutzen, dagegen anzukämpfen? Die größeren Optimisten glauben, daß die Zeit für das Traditionelle wiederkommen wird. Auch ich glaube daran. Aber der Zugang zu den Quellen wird immer schwieriger.

Die klassische Kata verhält sich zum modernen Karate wie der Wiegendruck, die Inkunabeln6, zum modernen Buch. Die Inkunabeln stellten die ersten, mit größter Sorgfalt gedruckten Texte dar. Jene seltenen jahrhundertealten Exemplare, die den Stürmen der Zeit widerstanden haben, werden heute als Schätze in Museen oder Spezialsammlungen gehütet. Wie groß auch immer die Reize, die Vorteile, die Ästhetik eines modernen Druckerzeugnisses sein mögen, nichts kann die unvergleichliche Ausstrahlung, die Tiefe und die Absicht, kostbares Wissen zu vermitteln, die diesen uralten Dokumenten anhaftet, ersetzen. Man könnte auch von einer besonderen Art des „Qi“7, das von den Inkunabeln ausgeht, sprechen.

Die klassische Kata enthält für denjenigen, der versteht und willens ist, dies zu erkennen, den tiefen Sinn der Dinge und des Lebens. Sie ist ein Weg für den Menschen, der unaufhörlich danach strebt, sich zu entwikkeln, zu werden. Es ist sehr wichtig, den Suchenden die Möglichkeit zu eröffnen, die „Inkunabeln“ des Karatedô zu studieren. Dies ist der wesentliche Grund für die langwierige und umfangreiche Arbeit, die schließlich in diesem Buch mündete. Ich wünsche dem Leser, daß die Lektüre seine Leidenschaft als Karateka neu zu entfachen vermöge, und daß ihm diese Leidenschaft sein Leben lang erhalten bleibe.

€14,99