Gesundheit – ein Gut und sein Preis

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Gesundheit – ein Gut und sein Preis
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Sabine Predehl

Rolf Röhrig

Gesundheit
ein Gut und sein Preis

GegenStandpunkt Verlag

© GegenStandpunkt Verlag 2016

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Druckausgabe ISBN 978-3-929 211-17-7

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Vorwort

Wer heutzutage krank ist, der ist nicht mehr einem kaum beherrschten und noch weniger begriffenen Naturprozess ausgeliefert. Theoretisch ist schon ganz gut erforscht und wird mit großem Aufwand und einigem Erfolg weiter erforscht, was da abläuft im geschädigten Organismus. Und in der Praxis ist, in den meisten Ländern jedenfalls, die Versorgung von Kranken ziemlich flächendeckend organisiert. Der Staat kümmert sich um beides, um die medizinische Wissenschaft wie um ein effektives Gesundheitswesen. Er macht sich das elementare Interesse seiner Bürger an Betreuung, Hilfe und Wiederherstellung im Krankheitsfall zu eigen, weil ihm genauso wie denen selbst an ihrer Tauglichkeit für den bürgerlichen Alltag und insbesondere für ein ordentliches Erwerbsleben gelegen ist. Die Verhältnisse, unter denen ein Volk sich und seinen Staat erhält, sollen schließlich produktiv bewältigt werden. Volksgesundheit ist dafür eine ganz wesentliche Voraussetzung und deswegen als wichtige Staatsaufgabe anerkannt.

Das individuelle Schicksal, krank zu werden, ist in der heutigen Welt freilich noch in einer anderen Hinsicht nicht einfach als Naturprozess abzubuchen. Gewiss ist dann in der Regel die Physis, oft genug immerhin auch oder zuerst die gar nicht so naturwüchsige Psyche des Individuums angegriffen. Was die menschliche Natur da „angreift“, ist in der modernen Welt aber meistens gar nicht oder nicht allein „die Natur“. In der Hauptsache haben Menschen heutzutage solche Belastungen von Leib und Seele auszuhalten und halten sie oft genug gar nicht gut aus, die eben die Gesellschaft ihnen beschert, in der es ihnen so sehr auf ihre Lebenstüchtigkeit und speziell auf ihre Erwerbsfähigkeit ankommen muss und deswegen auch ihrem Staat auf ein Gesundheitswesen ankommt. Vieles, was in früheren Zeiten „die Natur“ – und da auch schon nicht bloß die, sondern mitentscheidend die Natur ihrer gesellschaftlichen Beziehungen – den Menschen in Sachen Krankheit, Seuchen und Siechtum angetan hat, hat die moderne Medizin zurückgedrängt. In den Zentren des gesellschaftlichen Fortschritts hat sie es dafür umso mehr mit den direkten und indirekten Konsequenzen einer gar nicht naturwüchsigen Beanspruchung der menschlichen Naturausstattung zu tun; mit Belastungen, die zu einem großen Teil ihrerseits ohne dauernde medizinische Betreuung gar nicht so standhaft auszuhalten wären, bis sich das „Vollbild“ der „modernen Seuchen“ entwickelt hat.

Insofern ist das moderne Gesundheitswesen in ganz besonderer Weise nützlich, ja unentbehrlich für ein gesellschaftliches System, das mit seinen Belastungen die Masse der Leiden generiert, die dieses „Wesen“ zu betreuen hat. Zu seiner Funktionalität für die „herrschenden Verhältnisse“ trägt der Umstand nicht wenig bei, dass die praktisch wie theoretisch darin engagierte Fachwelt einen solchen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Ursache und physiologischer bzw. psychischer Wirkung zwar kennt und in ihre Diagnosen und Therapieansätze mit einbezieht – schließlich hat sie es „mit Menschen zu tun“ und nicht mit Zellkulturen –, von den belastenden gesellschaftlichen Notwendigkeiten, an denen ihr Patientengut laboriert, aber nicht mehr wissen will, als was sich wissenschaftlich in statistisch signifikanten Korrelationen abzeichnet und praktisch in Ratschläge für ein „gesünderes Leben“ umsetzen lässt. Und auch in einer anderen Hinsicht passt der medizinische Betrieb gut zu dem System der politisch betreuten Ökonomie, das ihm so viel zu tun und zu erforschen gibt: Er ist selber ein ganz großes Geschäft und auch insofern aus dem Kapitalwachstum in einer modernen Volkswirtschaft nicht wegzudenken.

© 2016 GegenStandpunkt Verlag

I. Die „modernen Volksseuchen“

Die ganze Welt, die öffentliche wie die private, ist voll von Gesundheitstipps. An jeder Ecke, aus berufenem und unberufenem Mund, erwünscht oder nicht, sind Ratschläge zu haben, wie man fit und gesund bleibt, den Krankheiten entgeht, an denen die Masse der hochzivilisierten Zeitgenossen laboriert und stirbt, was vorbeugend gegen die und begleitend zu den häufigsten Leiden zu tun ist. Offenbar ist ganz selbstverständlich, gilt jedenfalls unwidersprochen, dass viele und gerade die am meisten verbreiteten Gebrechen eine Sache des „Lifestyle“, des Umgangs der Menschen mit ihren Lebensumständen sind. Und irgendwie ist in all diesen wohlmeinenden zweckdienlichen Hinweisen explizit oder stillschweigend unterstellt, dass mit diesen „Umständen“ selber etwas nicht in Ordnung sein kann, wenn die Menschen ihnen mit Vorsicht und Geschick die Erhaltung ihrer Gesundheit abringen müssen.

Tatsächlich ist überhaupt nicht unbekannt, dass die alles andere als natürlichen Gegebenheiten, die ein durchschnittliches bürgerliches Leben bestimmen, mehr oder weniger ursächlich sind für eine Mehrzahl der Leiden, die die moderne Menschheit quälen und am Ende umbringen. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat sogar einen Namen: Was früher Pest und Seuchen waren, das sind heute die Zivilisationskrankheiten. Der einschlägigen Begriffsbestimmung – Leiden, „deren Häufigkeit (Inzidenz) einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen aufweist, wie sie in Industrieländern vorherrschen“ – lässt der medizinische Sachverstand zwar postwendend eine Art Dementi folgen:

„Der Begriff der ‚Zivilisationskrankheit‘ ist insofern missverständlich, als dass eine verbesserte soziale und ökonomische Infrastruktur nicht automatisch Krankheiten nach sich zieht, sondern – im Gegenteil – eine Verbesserung der medizinischen Versorgung bedeutet. Zivilisationskrankheiten werden nicht durch die Zivilisation selbst, sondern durch einen ungesunden, der menschlichen Physiologie nicht entsprechenden Lebensstil verursacht...“ (flexikon.doccheck.com)

Doch was hilft schon der gutgemeinte Hinweis, dass eine „Infrastruktur“ „nicht automatisch“ krank macht, sondern immer noch jemand dazugehört, der tatsächlich „ungesund“ lebt? Wenn der entsprechende „Lebensstil“ eine so hohe „Inzidenz“ aufweist und dessen gesundheitliche Folgen einen so „wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen“ in den „Industrieländern“, dann wird der Stil schon zu den Verhältnissen passen. Und am Ende ist dann doch gar nicht so entscheidend, wie sich einer den Umgang mit seinen Existenzbedingungen zurechtstilisiert – sehr individuell scheint das ja ohnehin nicht zu gelingen –, sondern was der Mensch im Rahmen seiner stilvollen Lebensführung tagaus tagein zu bewältigen hat.

Fest steht jedenfalls, statistisch ordentlich ermittelt: Es ist relativ überschaubar, woran die Masse der industrialisierten Wohlstandsbürger in der zivilisierten Welt typischerweise zu leiden und zu sterben pflegt:

„Eine relativ kleine Gruppe von Erkrankungen ist für einen Großteil der Krankheitslast in Europa verantwortlich. Von den sechs WHO-Regionen ist Europa von nichtübertragbaren Krankheiten am stärksten betroffen, und ihr Anstieg ist erschreckend. Die praktische Bedeutung der am stärksten verbreiteten nichtübertragbaren Krankheiten (Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, chronische Atemwegserkrankungen und psychische Störungen) ist ebenso alarmierend: Zusammengenommen machen diese fünf Krankheiten geschätzte 86 % der Todesfälle und 77 % der Krankheitslast in der Europäischen Region aus.“ 1)

Der Befund dürfte weder Zufall sein noch Folge eines massenhaften Beschlusses, mit eigentlich ganz gut verträglichen europäischen Lebensbedingungen konsequent unvernünftig umzugehen. Er verweist auf Belastungen, und zwar sehr stereotype, die diese zivilisierten Verhältnisse ihren Insassen zumuten, deren Bewältigung die sich auch selber im Rahmen eines ebenso stereotypen Lebensstils abverlangen – und die auf Dauer eben nicht auszuhalten sind. Welche Belastungen und welche Leistungen das sind, das ist an den pathologischen Folgen manchmal noch deutlich zu sehen und manchmal auch nicht. Insgesamt sprechen die „Volksseuchen“ deutlich genug für sich – sollte man meinen.

1. Moderne Krankheitsbilder

Den seit Jahrzehnten ungeschlagenen Spitzenplatz der beliebtesten Todesursachen halten die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Obwohl die Medizin hier viel im Griff hat, das Legen von Herzkathetern heutzutage zu den Routineuntersuchungen der Kardiologen zählt, Bypässe, Stents und Shunts haufenweise verlegt werden und – laut einschlägigen Studien – schon so manche salzarme Diät einen Bluthochdruck verhindert haben soll, sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach wie vor „in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts aktuell für 41 Prozent aller Todesfälle verantwortlich – und damit die mit Abstand häufigste Todesursache“ (H. Greten; Innere Medizin, 2010, S. 253).

Grundlage ist eine höchst unbekömmliche Beanspruchung von Herz und Kreislauf: Anstrengung, unmittelbar physischer oder psychischer Art, verlangt eine erhöhte Pumpleistung des Kreislaufs, die durch schnellere Herzfrequenz und kräftigere Kontraktion des Herzmuskels auch prompt realisiert wird. Resultat von all dem ist ein erhöhter Blutdruck, der für sich kein Malheur ist, insofern er durch eine ausreichende Entspannung wieder sinkt. Ist die Erregung und die daraus folgende Blutdruckerhöhung aber von dauerhafter Natur, dann reagieren die Gefäße in der Kreislaufperipherie selbst mit einer Engstellung sowie Gefäßverdickung und „fixieren“ schließlich so den hohen Blutdruck, machen ihn also irreversibel, unabhängig von der tatsächlichen Belastung. Die Entstehung eines Bluthochdrucks ist daher Ausweis dessen, dass eine Anstrengung so lange ausgehalten wurde, bis sie in eine Überlastung übergegangen ist und sich die Anspannung deswegen physisch als Krankheit manifestiert. Dieser Umstand wird in medizinischen Standardwerken so ausgedrückt:

 

„Ein Hochdruck entsteht demnach durch Erhöhung von HZV (Herzzeitvolumen) oder TPR (totaler peripherer Widerstand) oder beidem… Die HZV-Vergrößerung beim hyperdynamischen Hochdruck beruht entweder auf einer gesteigerten Herzfrequenz oder ... einem erhöhten Schlagvolumen... Auch eine zentralnervös verursachte Erhöhung der Sympatikusaktivität ... [kann] das HZV ansteigen lassen... Zur Vasokonstriktion kommt es bei einer erhöhten Sympatikusaktivität... Auch autoregulatorische Vorgänge beinhalten Vasokonstriktion. Steigt z.B. der Blutdruck durch Erhöhung des HZV, so ‚schützen‘ sich viele Organe (z.B. Niere, Magen-Darm-Trakt) vor diesem hohen Druck. Dies ist für die häufige vasokonstriktorische Komponente des hyperdynamischen Hochdrucks mitverantwortlich, der dadurch in einen Widerstandshochdruck übergeht. Dazu trägt auch eine Hypertrophie der vasokonstriktorischen Muskulatur bei. Schließlich stellen sich als Folge des Hochdrucks Gefäßschäden ein, die den TPR erhöhen (Fixierung des Hochdrucks).“ (W. Siegenthaler; Klinische Pathophysiologie, 2006, S. 222)

Dann und dadurch wird der Betroffene zum Hochdruckpatienten, bei dem infolge einer dauerhaften Blutdruckerhöhung im ganzen Körper „klinische Folgeerscheinungen, wie koronare Herzkrankheit (KHK, angina pectoris, Herzinfarkt, akuter Herztod), zerebrovaskuläre Insuffizienz (Schlaganfall) und periphere arterielle Verschlusskrankheit“ auftreten (H. Greten; a.a.O., S. 40).

„Nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind bösartige Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache in der westlichen Welt... Fast jeder Zweite erkrankt inzwischen an Krebs und jeder 4. bis 5. Bürger stirbt an dieser Erkrankung.“ (W. Siegenthaler; a.a.O., S. 1101)

So verschieden Krebserkrankungen je nach Typus des „bösartigen“ Gewebes sich darstellen, gemeinsam ist den meisten ihr Ursprung: Kanzerogene schädigen die Erbinformation der Zelle, am Ende irreversibel. Und die Liste der bekannten Kanzerogene, mit denen die Massen in einer blühenden Industrienation wie der unsrigen jahrein jahraus konfrontiert werden, wird von Jahr zu Jahr eher länger als kürzer. Krebs entsteht, wenn eine durch Mutation der DNA verursachte irreversible Regulationsstörung des Zellzyklus dazu führt, dass eine Zelle entartet, sich also unentwegt teilt. „Dabei spielen sowohl die Intensität als auch die Dauer der zur malignen Entartung führenden Schädigung eine Rolle.“ (H. Greten; a.a.O., S. 953 f) Da die Zelle in ihrer Erbinformation über vielerlei Regulations- und Reparaturmechanismen verfügt, so dass auch und gerade bei deren Schädigung die Mutation nicht auf die Tochterzellen übertragen wird, müssen sich zur Entartung eines Gewebes in der Regel mehrere Mutationen akkumulieren; dann kann der Schaden selbst durch den regulierten Exitus der einzelnen Zelle nicht mehr behoben werden.2)

„Bis zu 20 % der bundesdeutschen Bevölkerung (mit steigender Tendenz) leiden an Allergien... Damit gehören Allergien zu den häufigsten Erkrankungen in Ländern mit hohem Lebensstandard.“ (Dieses und die folgenden Zitate aus: H. Greten; a.a.O., S. 1082 ff)

Eine Allergie entsteht, wenn ein Organismus auf einen einzelnen oder eine ganze Reihe von Stoffen aus der Natur oder der zivilisierten Welt, die sogenannten Allergene, mit einer überschießenden Immunantwort reagiert, weil er der Belastung durch sie nicht oder nicht mehr standhält und sich deswegen seine „immunologische Reaktionsbereitschaft“ verändert:

„Allergie: individuelle Änderung der immunologischen Reaktionsbereitschaft im Sinne einer übersteigerten, krankmachenden Immunantwort (Hyperreaktivität) gegen körperfremde Antigene (Allergene).“

Dass die Allergene „bei physiologischer Immunitätslage apathogen sind, also von sich aus keine Schädigung hervorrufen würden“, ändert nichts an der Tatsache, dass es diese „körperfremden“, also externen Stoffe selber sind, die, bei dem einen oder anderen Organismus früher oder später, das Immunsystem derart „sensibilisieren“, also belasten, dass es mit Überlastung, also einer Allergie reagiert. Die Häufigkeit von Allergien in Industrienationen erklärt sich durch die „ubiquitäre Verbreitung der Soforttypallergene... Allein Latexprodukte haben durch ihren Einsatz in der Medizin ... bereits bei über 10 % des Personals ... eine Sensibilisierung hervorgerufen.“ Weshalb es sich umgekehrt auch so verhält: „Bei Meidung des ursächlichen Allergens bessern sich die Symptome oder verschwinden gänzlich.“ Wird das „ursächliche Allergen“ aus welchen Gründen auch immer nicht gemieden, verselbständigt sich die Immunreaktion, die Entzündungsprozesse werden chronisch und heilen „selbst bei absoluter Allergenkarenz“ so ohne weiteres gar nicht mehr aus.

„Bedingt durch chronische Entzündungsprozesse, vor allem infolge rezidivierender Allergenbelastung, entwickelt sich eventuell eine unspezifische Überempfindlichkeit der Schleimhäute ... die sich selbst bei absoluter Allergenkarenz erst nach Monaten zurückbildet. Die Identifikation des ursächlichen Allergens ist in diesen Fällen erschwert.“

Der Typ-II-Diabetes „gehört mit rund sechs Millionen Patienten und mit vermutlich ebenso vielen Menschen mit unerkanntem Diabetes oder hohem Risiko für diese Stoffwechselerkrankung zu den größten Volkskrankheiten in Deutschland“ (www.dzd-ev.de).

Er entsteht durch dauerhaft erhöhte Blutzucker- und Blutfettspiegel, denen in der Regel Überernährung zu Grunde liegt, aber auch Stress lässt die Spiegel steigen. „Das Missverhältnis von Energiezufuhr und -verbrauch steigert die Konzentration an Fettsäuren im Blut, was wiederum die Glucoseverwertung in Muskel- und Fettzellen senkt.“ (S. Silbernagl; a.a.O., S. 308)

Das Hormon Insulin wird bei Blutzuckererhöhung nach der Nahrungsaufnahme ausgeschüttet, dockt normalerweise an die Zellmembran – vornehmlich der Muskeln – an und führt dazu, dass der Zucker aus dem Blut in die Zellen aufgenommen und so für die Energiegewinnung bereitgestellt wird. Bei dauerhaft erhöhter Energiezufuhr werden die Zellen zunehmend gegen Insulin resistent und reagieren nicht mehr hinreichend durch Aufnahme des Zuckers auf das Hormon; der Blutzuckerspiegel bleibt erhöht. Dieser Effekt wird durch einen geringen Energieverbrauch der Muskelzellen verstärkt. In der Folge reagiert der Hormon-Regelkreis mit einer erhöhten Insulinausschüttung, was den Blutzuckerspiegel in der Regel hinreichend senkt, zugleich aber die Unempfindlichkeit der Zellen gegen das Insulin verstärkt. Einen qualitativen und problematischen Umschlag gibt es dann, wenn der Stoffwechsel dauerhaft mit einem Überangebot an Glukose konfrontiert wird – und/oder unter Stress mit einer permanenten Mobilisierung von Zucker aus seinen Speichern reagiert –, so dass die verminderte Insulinwirkung nicht mehr durch die vermehrte Ausschüttung kompensiert werden kann. Dann bleibt die Konzentration der Glukose im Blut dauerhaft hoch, worüber der Organismus an verschiedensten Stellen geschädigt wird. Schlimmstenfalls versagt die Insulinproduktion in der Bauchspeicheldrüse gänzlich.

„Alle Formen von Diabetes mellitus sind nach Manifestation der Erkrankung sowohl mit einer Sekretionsstörung als auch einer Insulinresistenz verbunden. Die resultierende Hyperglykämie verstärkt diese Störung und führt unbehandelt zur Glucosetoxizität, die einen Circulus vitiosus auslöst... Erste Hinweise für eine Insulinresistenz sind bereits viele Jahre vor der Diabetesmanifestation zu finden. Solange aber die Insulinresistenz durch eine gesteigerte Insulinsekretion kompensiert werden kann, ist sie wahrscheinlich ohne klinische Signifikanz. Erst wenn die Hyperinsulinämie aufgrund einer begrenzten Synthese- und Sekretionskapazität nicht mehr aufrechterhalten werden kann, kommt es zum Anstieg der Blutglucosespiegel und damit zum Ausbruch des Typ-2-Diabetes.“ (W. Siegenthaler; a.a.O., S. 83)

Der führt dann – wenn es nicht gelingt, ihn mit Medikamenten erfolgreich „einzustellen“ – zu Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, schwere Durchblutungs- und Wundheilungsstörungen, Erblinden und Nierenversagen.

Ein altbekannter, aber dafür nicht weniger verbreiteter Schlager der modernen Volkskrankheiten sind Muskel- und Skeletterkrankungen.

„Jeder Dritte, der zum Orthopäden geht ... tut dies wegen Rückenschmerzen... Viele von unspezifischen Rückenschmerzen Geplagte gehören der vergleichsweise jungen, jedenfalls mitten im Berufsleben stehenden Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen an.“ (Dieses wie das folgende Zitat aus: www.apotheken-umschau.de)

Dass das Volk so flächendeckend „Rücken hat“, ist „meist eine Folge ständiger Überstrapazierung oder Vernachlässigung des Rückens. Das erklärt sich durch ein wichtiges Prinzip der Muskelarbeit: das Zusammenwirken eines Spielers und Gegenspielers beziehungsweise entsprechender Muskelgruppen. Wenn Kraftakte bestimmte Spieler- oder Gegenspieler-Muskeln überfordern oder Inaktivität sie verkümmern lässt, kommt es zu Verspannungen, Überdehnungen, Verkürzungen und schließlich Schmerzen.“

Je nach individueller Robustheit der Gelenke und betriebenem Ausgleich kommt es deshalb auch früher oder später zu Gelenkschäden.

Chronische Atemwegserkrankungen sind ebenso weit verbreitet. Wer eine chronische Reizung seiner Atemwege lange genug aushält – „die Beschwerden entwickeln sich langsam über Monate bis Jahre“ –, hat gute Chancen auf eine nicht mehr ausheilbare Bronchitis. Werden die Bronchialschleimhäute durch Stäube, Schad- und Reizstoffe dauerhaft belastet, werden diese irreversibel geschädigt; bei fortdauernder Belastung kommt es zu einer chronifizierten Entzündung der Bronchien, in deren Folge Lungengewebe zerstört wird, so dass in der Lunge kein Gasaustausch, also keine regelrechte Atmung mehr stattfinden kann:

„Bei chronischer Reizung der Atemwege kommt es zu Umbauvorgängen mit Vermehrung seröser und muköser Drüsen und Zerstörung der normalen Schleimhautarchitektur. Die oralwärts schlagenden Zilien werden zunehmend zerstört und sind dann nicht mehr in der Lage, den Schleim aktiv zu transportieren. Dem Patienten mit schwerer chronischer Bronchitis dient dann nur noch der Hustenstoß als effektiver Clearencemechanismus. Kontraktion der Bronchialmuskulatur, entzündliche Infiltration der Bronchialschleimhaut ... führen zur chronischen Bronchialverengung, Bronchiektasenbildung und Instabilität der Atemwege. Durch die chronische Entzündung kommt es weiterhin zu einem Ungleichgewicht zwischen Proteasen ... und Antiproteasen … mit konsekutiver Zerstörung der terminalen Atemwege und Alveolarsepten. Folge ist ein Lungenemphysem.“ (H. Greten; a.a.O., S. 428 f)

Immer mehr Menschen leiden an psychischen und psychosomatischen Störungen:

„Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat ... ermittelt, dass die Zahl der Krankschreibungen wegen der Zusatzkategorie Burn-out (Z73 im ICD-10-GM) seit 2004 um fast 700 Prozent gestiegen ist. In 85 Prozent dieser Fälle diagnostizierte der Arzt zusätzlich eine psychische oder körperliche Erkrankung.“ (Deutsches Ärzteblatt 2012; 109(24))

Woher die kommen, ist der Medizin nicht nur beim Burn-out – da steckt die Sache schon in der Bezeichnung – durchaus bekannt:

„So führten chronische Überforderung und Stress ... zu psychischen und psychosomatischen Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen, Rückenschmerzen, Tinnitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.“ (Deutsches Ärzteblatt; a.a.O) 3)

Psychische Belastungen, Überforderung, Angst, Stress, Aufregung, warum auch immer ungelöste Konflikte können Menschen fertigmachen, auch ohne körperliche Schäden anzurichten: sie werden unfähig, mit sich und der Welt etwas Brauchbares anzufangen – womöglich, in dieser Gesellschaft der GAU, arbeitsunfähig. Ganz häufig wirkt sich das „gestörte“ Seelenleben aber auch auf ihre Physis aus: Belastungen und die andauernden Versuche, damit fertigzuwerden, führen zu einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems, was in die Regulation der meisten Organe eingreift. Ist das von Dauer und können die physiologischen Folgen vom Organismus nicht kompensiert werden, schlägt sich die chronische Aktivierung des vegetativen Nervensystems in unterschiedlichen Krankheiten nieder, wobei sowohl ein bereits bestehender Organdefekt angeheizt werden als auch eine völlig eigenständige Krankheit entstehen kann.

 

„Zu diesen Krankheiten gehören: Koronare Herzkrankheiten und ihre Folgeerkrankungen, essenzielle Hypertonie, Asthma bronchiale, Ulcus ventriculi und duodeni, chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn), rheumatische Arthritis, Fybromyalgiesyndrom, atopisches Ekzem und zahlreiche andere Erkrankungen.“ (P.L. Janssen; Leitfaden psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 2012, S. 39)

Dabei ist an den physiologischen Folgen natürlich gar nicht zu unterscheiden, ob der Mensch an Einbildungen leidet oder an wirklichen Belastungen, deren Grund und Gegenstand er nicht ausräumen kann; sei es, weil er tatsächlich gar nicht Herr darüber ist, sei es, weil er seine Unzufriedenheit von vornherein gar nicht auf die Dinge und Verhältnisse richtet, die ihn stören, sondern gegen sich selbst. Die Medizin diagnostiziert hier „durch chronischen Stress bedingte Dysbalance“:

„In psychopathologischer Perspektive sind mit Organdestruktion einhergehende körperliche Erkrankungen, bei denen psychosoziale Faktoren mit verursachend sind, keine einheitliche Gruppe. Allerdings gibt es eine Reihe klinischer und empirischer Evidenzen für die Annahme, dass krankheitsübergreifend eine durch chronischen Stress bedingte Dysbalance in der vegetativen Organinnervation besteht, begleitet von entsprechenden neuroendokrinologischen und neuroimmunologischen Abweichungen...“ (P.L. Janssen; a.a.O., S. 39)

Trotzt der Mensch den beliebtesten Todesursachen, indem er mit den modernen Volksseuchen jahrzehntelang überlebt, hat er im Alter beste Chancen, an einer der vielfältigen Formen von Demenz zu erkranken:

„Risikofaktoren für eine Demenz: Alter, weibliches Geschlecht, niedriges Körpergewicht bei weiblichen Patienten, Demenz bei Verwandten, vorangegangene Kopfverletzung, niedriges Bildungsniveau, Demenz im Anfangsstadium, bestimmte neurologische oder genetisch bedingte Erkrankungen, vorangegangener Schlaganfall, riskanter Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit, vaskuläres Risikoprofil (z.B. arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus, Diabetes mellitus etc.).“ (DEGAM-Leitlinie Demenz; 2008, S. 21)

Die professionelle Abstraktionsleistung, die das Disparateste unter dem Obertitel „Risikofaktoren“ versammelt, einstweilen dahingestellt (dazu später): Auch Demenz, so viel geht aus den „Leitlinien“ allemal hervor, ist weniger die Folge natürlicher Alterungsprozesse, vielmehr in der Regel die Auswirkung von Abstumpfung und Belastungen, die bis ins hohe Rentenalter ausgehalten werden, gegebenenfalls einschließlich schon manifest gewordener ruinöser Konsequenzen.

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Alle genannten Leistungen und Belastungen des Organismus und der Psyche machen sich in aller Regel nicht als akute Überanstrengung geltend, sondern zeigen erst nach längerer Zeit ihre Wirkung – pathologische Wirkungen, die dann, verselbständigt gegen ihren Entstehungsgrund, Folgeschäden verursachen. Zu eigentlichen Krankheiten werden die allmählich auftretenden Beschwerden dadurch, dass man die Belastungen aushält und mit ihnen umgeht; und zwar so lange, bis sie nicht mehr ausheilbar sind.

Den chronischen Erkrankungen, an denen in dieser modernen Gesellschaft so stereotyp laboriert wird, ist also eines wesentlich: Sie sind die Folgen von Belastungen, die darüber zu Krankheiten werden, dass die Betroffenen sich dauerhaft abverlangen, sie auszuhalten.

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