Loe raamatut: «Küsse am Meer»
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
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eISBN 978-3-8271-8417-7
Rosita Hoppe
Küsse am Meer
Freunde sind immer und
in jeder Lebenslage
füreinander da
1. Kapitel
Ralf nahm seine prallgefüllte Sporttasche und sah Pauline mit einem nicht deutbaren Blick an. Sie kannte diesen Blick. Er setzte ihn immer auf, wenn er etwas plante, von dem er wusste, dass es ihr nicht gefiel. So wie jetzt. Es gefiel Pauline ganz und gar nicht, was Ralf vorhatte. Aber sie hatte keine Kraft, ihn aufzuhalten. Nicht mehr. „Ich geh dann.“
„Machs gut.“
Pauline kniff die Augen zusammen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Eiscreme zum Beispiel. Sie liebte Eiscreme. Besonders Tiramisu und Stracciatella – mit großen Schokostücken.
Die Wohnungstür klappte.
Zart schmelzendes Vanilleeis in heißer Himbeersoße … Sie leckte sich über die Lippen.
Es klingelte. Pauline reagierte nicht. Einen Augenblick später hörte sie das Klimpern eines Schlüsselbundes. Kurz darauf stand Ralf wieder im Wohnzimmer. Mit diesem Blick. Er legte etwas Silbernes auf den Tisch.
„Der Schlüssel.“ Er zuckte mit den Schultern. „Brauch ich ja nicht mehr.“
… mit einem dicken Klecks Sahne …
Als die Tür zum zweiten Mal ins Schloss fiel, kamen die Tränen. Pauline halfen die Visionen diverser Eiskreationen nicht mehr. Ralf war gegangen. Für immer. Er hatte sie verlassen. Dieser Schuft.
Sie hatte von einer gemeinsamen Zukunft mit Ralf geträumt. Nein, nicht nur geträumt. Schon vor Monaten hatten sie darüber nachgedacht, ob Ralf es hinkriegen würde, wenn er seine Wohnung in Frankfurt aufgeben und ganz zu ihr ziehen würde. Doch er entschied sich, erst einmal alles beim Alten zu lassen. Als Pilot, der hauptsächlich von Frankfurt aus starten musste, war Hameln einfach zu weit vom Arbeitsplatz entfernt.
Pauline erhob sich müde und schlurfte in Richtung Kühlschrank. Im Eisfach lag noch eine Packung Stracciatellaeis. Die brauchte sie – ganz dringend. Die Packung war halb leer. Hatte sich Ralf etwa daran vergriffen, bevor er seine Sachen gepackt hatte? Das hätte ihm ähnlichgesehen. Ihr auf diese Weise noch mal eins auszuwischen. Sie schlurfte zurück. Mit der Packung und einem Löffel ließ sie sich in die Sofaecke plumpsen.
Dieser Schuft! Lecker. Dieser elende Mistkerl! Wie konnte er nur? Hach, Stracciatella … Gerade jetzt, wo sie sich entschlossen hatte, zu ihm nach Frankfurt zu ziehen. Ja. Genau das hatte sie vorgehabt. Noch einen Löffel voll … Sie wollte hier in Hameln ihre Zelte abbrechen. Seit Tagen schmiedete sie deswegen Pläne. An ihrem dritten Jahrestag, kommende Woche, hatte sie ihm einen Heiratsantrag machen wollen. Ganz romantisch. Die Packung war leer. Pauline warf die Eisverpackung und den Löffel auf den Tisch. Da lag auch Ralfs Schlüssel – Ralfs ehemaliger Schlüssel. Pauline biss sich auf die Lippen. Was jetzt? Jetzt hatte sie den Salat. Wie konnte sie nur so blöd sein? Blöder ging es wirklich nicht mehr, denn am Morgen, nach einer Auseinandersetzung mit dem Chef, der an ihrem Werbekonzept für eine Hamelner Firma kein gutes Haar gelassen hatte, hatte sie ihm ihre Kündigung an den Kopf geworfen. Sie wollte sowieso nach Frankfurt gehen, wieso nicht gleich kündigen, hatte sie in dem Moment gedacht. Tja, denken war manchmal nicht ihre Stärke.
„Mist!“ Pauline schimpfte vor sich hin. In dem Moment fiel ihr Blick auf Ralfs Foto, das auf der Kommode vor dem Fenster stand. Sie sprang auf, griff nach dem Bild, riss das Fenster auf und warf diesen elendigen Mistkerl in hohem Bogen hinaus. Es klirrte, als es unten ankam. Verstohlen lugte sie hinaus. Zum Glück hatte sie mit dieser Spontanaktion keinen Passanten getroffen.
Da lag er, der Schuft, inmitten von Glasscherben. Geschah ihm ganz recht. Nicht nur, dass er sie so kurz vor ihrem Heiratsantrag verlassen hatte. Nein, er hatte die Frechheit besessen, ihr zu gestehen, dass er seit einiger Zeit eine Affäre mit einer Stewardess hatte. Tja, und er hatte sie geschwängert. Die Ärmste. Vermutlich würde er sie bald mit ihrem kommenden Nachwuchs sitzen lassen und zur nächsten Dame abschwirren.
Wie hatte sie sich so von ihm täuschen lassen können?
Energisch schloss Pauline das Fenster.
Am nächsten Morgen wachte Pauline mit rasenden Kopfschmerzen auf. Sie fühlte sich, als hätte sie die vergangene Nacht literweise Wodka oder ähnliches Zeug in sich hineingekippt. Hätte sie vielleicht tun sollen. Das Ergebnis wäre das Gleiche gewesen. Mit dem winzigen Unterschied, dass ihr der Alkohol vermutlich für ein paar Stunden Vergessen beschert hätte. Mit geschlossenen Augen blieb Pauline liegen. Bloß nicht bewegen, vielleicht würde es von allein besser werden. Mit einem nervtötenden Geräusch bimmelte der Wecker. An den hatte sie gar nicht gedacht. Nach einem Schlag auf die Austaste herrschte Ruhe. Die Erinnerung kam und mit ihr die Erkenntnis, dass nichts mehr so war, wie vierundzwanzig Stunden zuvor. Wie sollte es weitergehen? Kraftlos setzte sich Pauline auf und tappte ins Bad. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, kannte sie nicht. Die sah ja grauenvoll aus. Lange, wirr abstehende strohige Haare, dicke verquollene Augen … Sie zog die Schublade des kleinen Hängeschränkchens heraus und wühlte darin herum. Schließlich fand sie eine zerdrückte Packung mit Schmerztabletten. Zwei davon schluckte sie und spülte sie mit Leitungswasser hinunter.
Sie ging unter die Dusche und drehte den Wasserhahn voll auf. Minutenlang ließ sie das Wasser auf ihren Körper prasseln. Doch das Wasser spülte weder ihren Kummer noch die Sorge wegen ihres Arbeitsplatzes fort.
Nach einer Tasse starken Kaffees arbeiteten ihre Gehirnzellen allmählich. Musste – durfte sie die Agentur eigentlich noch mal betreten? Oder würde man sie dort achtkantig hinauswerfen, nach dem, was sie gestern von sich gegeben hatte? Pauline hatte keine Ahnung. Wieso hatte sie sich dazu hinreißen lassen nach dem Rüffel, den ihr der Chef wegen eines missglückten Werbekonzepts erteilt hatte, ihren Job zu kündigen? Hinzu kam, dass sie die Kündigung wenige Tage vor Ablauf der Probezeit ausgesprochen hatte. Innerhalb der Probezeit konnten Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit sofortiger Wirkung kündigen. Echt blöd gelaufen. Sie war sich so sicher gewesen, dass sie sowieso bald zu Ralf ziehen würde – dass er mit Freuden ihren Antrag annehmen würde. Über die Konsequenzen ihrer gestrigen Aktion hatte sie nicht nachgedacht. Die waren nämlich, wie ihr erst jetzt bewusst wurde, dass sie kein Geld verdienen würde, außer dem Gehalt, das ihr noch für die geleistete Arbeit zustand. Arbeitslosengeld war für die ersten Wochen auch nicht zu erwarten. Tränen traten ihr in die Augen, als ihr die Tragweite ihres Handelns deutlich wurde. Sie musste schleunigst ihre Finanzen überprüfen und sich einen anderen Job suchen. Schuld an allem war natürlich Ralf. Ohne ihn wäre sie niemals auf die Idee gekommen, ihren Job hinzuschmeißen und ohne ihn würde sie sich nicht so verdammt schlecht fühlen und ständig heulen müssen.
Um sich abzulenken, schaltete Pauline ihren Laptop ein. Später würde sie zum Arbeitsamt fahren müssen, aber zuerst mussten die verheulten Augen abschwellen. So konnte sie nicht unter die Leute gehen. Im E-Mail-Postfach fand Pauline eine Nachricht von Sigrid Mölder, ihrer Lektorin.
Sie warte immer noch auf Exposé und Leseprobe, schrieb sie. Pauline seufzte. Ja, sie wartete auch. Auf eine Idee nämlich. Der nächste Roman sollte heiter und amüsant sein, forderte Paulines Lektorin. Doch Pauline hatte keinen blassen Schimmer, worüber sie schreiben sollte. Heiter und amüsant waren zwei Begriffe, die seit gestern in ihrem Leben nicht vorkamen, deren Bedeutung sie lediglich im Wörterbuch nachlesen konnte. Resigniert klappte Pauline den Laptop zu. Sie würde später auf die Mail antworten. Erst noch eine Tasse dieses schwarzen Gebräus, dann musste ein Plan her. Ein ganz neuer Lebensplan.
Als Pauline am Nachmittag ihre Wohnungstür aufschloss, konnte sie den unangenehmsten Punkt auf ihrer Liste der unerledigten Dinge abhaken. Der Gang zum Arbeitsamt lag hinter ihr und sie konnte nichts anderes tun, als die Bearbeitung seitens des zuständigen Mitarbeiters abzuwarten. Vermutlich musste sie mit einer Sperre von zwei Monaten bezüglich des Arbeitslosengeldes rechnen. Pauline hoffte, so schnell wie möglich einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Aber Werbeagenturen gab es in Hameln und Umgebung nicht gerade viele.
Um sich zu beschäftigen, räumte Pauline auf und putzte die Küche. Doch die Arbeit lenkte sie nicht ab. Immer wieder überfiel sie ein Schluchzen, wenn sie an Ralf dachte. Sie hatte ihm blind vertraut, wenn er tagelang in der Weltgeschichte herumflog oder in seiner Wohnung in Frankfurt blieb, weil zu wenig Zeit für eine Fahrt nach Hameln war, bis sein nächster Flug ging. Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können? Eis. Sie brauchte dringend ein Eis. Nach einem Blick in das Eisfach stellte Pauline fest, dass ihr Vorrat aufgebraucht war. Es musste Nachschub her. Nur eine große Portion ihrer Lieblingsspeise würde sie trösten können.
Wenig später saß sie mit einer Familienpackung Schoko-Karamell-Eis, das durchzogen war von hauchdünnen, knackigen Schichten aus Vollmilchschokolade, am schmalen Küchentisch. Während sie Löffel für Löffel dieser Köstlichkeit in sich hineinschaufelte, öffnete sie ihren Laptop und antwortete auf die Mail ihrer Lektorin. Sie sei gerade dabei, erste Ideen zu Papier zu bringen, und würde das Exposé bald schicken, schrieb sie. Sie bekam Bauchschmerzen bei dieser Flunkerei. Na ja, vielleicht kamen die Bauchschmerzen auch von ihren Sorgen – oder von zu viel Eis.
Den Rest vom Schoko-Karamell-Eis hatte Pauline ins Eisfach gelegt und die Küche so gründlich geputzt, dass sie sogar vom Fußboden hätte essen können. Ermattet saß sie vor dem Fernseher und zappte durch die Programme, als das Telefon klingelte. Ralf? Wollte er sich entschuldigen? Ihr Herz klopfte plötzlich schneller. Es war jedoch nicht Ralf.
„Hallo, Jule. Alles klar?“ Pauline begrüßte ihre Freundin aus Schultagen und versuchte, etwas Fröhlichkeit in ihre Stimme zu legen.
„Überhaupt nichts ist klar.“ Jule stöhnte zum Herzerweichen. „Mir wächst alles über den Kopf. Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll.“
„Was ist passiert?“
„In der nächsten Woche fangen in den ersten Bundesländern die Ferien an. Von da an bin ich ausgebucht.“
„Ist doch bestens.“
„Eigentlich schon, wenn ich nicht auf meine feste Kraft und eine Aushilfe verzichten müsste. Die Aushilfe musste ich feuern, mehrere Gäste haben sich über sie beschwert. Frau Sörens ist gestern gestürzt und hat sich ein Bein gebrochen. Sie fällt für mehrere Wochen aus. O Mann, Pauline. Gerade jetzt!“
„Das hört sich übel an. Hast du schon nach Ersatz gesucht?“
Jule seufzte. „Was glaubst du denn? Aber hier ist in Kürze der Teufel los. Da stellen etliche Vermieter und Wirte Aushilfskräfte ein. Ich bin mit meiner Suche verdammt spät dran.“
„Das konntest du ja vorher nicht wissen.“ Pauline versuchte, Jule aufzumuntern. Ihre Freundin hatte es wirklich nicht leicht. Vor zwei Jahren hatte sie bei einem Segelunfall ihren Mann verloren. Seitdem lag die Verantwortung für die kleine Pension, die die beiden aufgebaut hatten, allein auf ihren Schultern.
„Ach Pauline, ich vermisse dich so. Wann kommst du mich endlich mal wieder besuchen?“
„Ja, also …“ Pauline beabsichtigte, Jule ihren eigenen Kummer zu verschweigen. Schließlich hatte die Freundin im Moment genug um die Ohren.
„Du kannst gern Ralf mitbringen.“
Musste Jule ausgerechnet damit anfangen? Nach einigen heftigen Schluchzern und Jules drängenden Nachfragen sprudelte es aus Pauline heraus.
„O verdammt. Dieser Mistkerl“, schimpfte Jule.
„Ich hab obendrein keinen Job mehr.“ Pauline schniefte. „Und ich weiß nicht, worüber ich schreiben soll. Es ist einfach zum Heulen. Mein ganzes Leben liegt in Trümmern vor mir.“
„Nun mal nicht so dramatisch. Heb dir das für deine Romane auf.“
„Du hast gut reden.“
„Mensch Pauline! Wieso kommst du nicht zu mir? Genau! Du brauchst Geld und ich eine Arbeitskraft. Das ist doch die ideale Kombination. Was sagst du?“
Pauline zögerte. „Ja, also … ich weiß nicht, ob ich hier wegkann.“
„Wieso nicht? Du bist doch ungebunden. In jeder Hinsicht.“
„Danke, dass du mich daran erinnerst.“
„Entschuldige. Aber es stimmt doch. Wir könnten endlich mal wieder endlos quatschen.“
„Das hätte schon was.“ Das musste Pauline zugeben. Sie vermisste die stundenlangen Gespräche von früher. Manchmal hatten sie die ganze Nacht geredet. „Ich muss erst einmal meine Finanzen überprüfen und sehen, ob ich mir die Fahrt überhaupt leisten kann.“
„Die Fahrt bezahl ich natürlich. Schließlich kommst du, weil du bei mir arbeiten wirst.“
„Nee, Jule. Das kann ich nicht annehmen.“ Pauline nagte ratlos an ihrer Unterlippe.
„Natürlich kannst du.“
Konnte sie das wirklich? So einfach nach Amrum fahren und dort arbeiten? Das musste sie erst mit dem Arbeitsamt klären. Schön wäre es schon. Jule endlich wiederzusehen, Strandspaziergänge, Wind und Wellen und vor allen Dingen, von hier wegzukommen.
„Ich sehe schrecklich aus …“
„Dann geh zur Kosmetikerin oder zum Friseur. Tu dir was Gutes.“
„Muss sparen.“
„Papperlapapp. Sieh es als Investition in einen Neuanfang.“
„Ich weiß nicht. Außerdem muss ich schreiben.“
„Du würdest mich mit deinem Besuch wirklich retten. Ehrlich Pauline. Schreiben kannst du übrigens auch hier.“
„Meinst du wirklich?“
„Natürlich. Ich beute dich nicht aus, keine Angst. Du wirst genug Zeit für dich haben.“
„Okay, Jule.“ Pauline gab sich einen Ruck. „Danke für deinen tollen Vorschlag. Ich werde mit dem Arbeitsamt klären, ob es in der Hinsicht Probleme gibt. Wenn nicht, dann nehme ich dein Angebot an.“
„Na siehst du. Geht doch. O Pauline, ich freu mich so auf dich. Wir werden eine tolle Zeit haben. Wirst schon sehen.“
2. Kapitel
Drei Tage später stand Pauline an der Reling der Fähre, die sie von Dagebüll nach Amrum brachte. Gut fünfeinhalb Stunden Bahnfahrt und fast eineinhalb Stunden auf dem Schiff lagen hinter ihr. Das Schiff hatte bereits die Nachbarinsel Föhr passiert, die rechts der Fahrrinne lag. Wenn Pauline nach links blickte, konnte sie am Horizont die kleinen Erhebungen der Halligen erkennen. Vor ihr kam die Silhouette ihres Ziels langsam näher. Die Fähre steuerte schon die Hafeneinfahrt von Wittdün an. Obwohl ein heftiger Wind wehte und die Sonne nur ab und an zwischen dicken weißgrauen Wolken hervorlugte, hatte Pauline die ganze Zeit an Deck verbracht. Tief sog sie die salzige Meeresluft ein. Herrlich, wie gut das tat. Es machte ihr nichts aus, wenn ihr der Nordseewind um die Nase wehte und die Frisur zerzauste. Unwillkürlich griff sie sich an den Kopf und stutzte. Sie hatte Jules Rat befolgt und sich eine neue Frisur gegönnt. Nicht einen Moment hatte sie den langen Strähnen nachgeweint, die sich mit jedem „Schnipp“ mehr und mehr auf den Boden rund um den Friseurstuhl häuften. Mit jedem Schnitt, mit jeder fallenden Strähne fiel ein Stück Vergangenheit – ein Stück Ralf – von ihr ab. Das hatte sie jedenfalls in diesem Augenblick geglaubt. Leider hielt dieses Gefühl nicht lange an. Zwar hatte die Friseurin ihr einen flotten Kurzhaarschnitt verpasst, mit dem sich Pauline jünger und rundum erneuert fühlte, aber der Kummer über Ralfs Verrat nagte schon bald nach Verlassen des Friseurgeschäfts erneut an ihrem Herzen.
Ein Ruck und ein Poltern verrieten Pauline, dass die Fähre gerade anlegte. Ob Jule am Hafen stand und auf sie wartete? Suchend ließ Pauline ihren Blick über die Menschen schweifen, die entweder auf Ankömmlinge warteten oder darauf, an Bord gehen zu dürfen. In mehreren Reihen standen etliche Autos auf der Hafenanlage. Ob die alle einen Platz auf diesem Fährschiff finden würden? Aber erst einmal mussten die ankommenden Passagiere und Pkws von Bord. Pauline bedauerte, dass auf Amrum Autoverkehr erlaubt war. Sie war schon einmal während der Sommersaison auf Urlaub hier gewesen und hatte die vielen Pkws als störend und luftverschmutzend empfunden. Ach ja, als Jules Mann gestorben war, war sie zu Jan-Eriks Beerdigung ebenfalls hier gewesen.
Jule stand abseits vom Menschenpulk. Pauline erkannte sie sofort an ihrem leuchtend orangeroten Haarschopf, naturrot wohlgemerkt. Pauline winkte ihr mit beiden Armen zu. Zögernd hob Jule ihren Arm, so, als hätte sie Pauline nicht richtig gesehen oder erkannt. Hatte sie vielleicht auch nicht. Pauline schmunzelte. Die würde Augen machen, wenn sie sich gleich gegenüberstanden. Pauline freute sich auf das Wiedersehen mit ihrer besten Freundin und schon jetzt stand für sie fest, dass ihre Entscheidung, Jule in der Pension zu helfen, die vermutlich beste war, die sie in den vergangenen Monaten getroffen hatte.
Wenig später schob sich Pauline, ihren dicken übergroßen Koffer hinter sich herziehend und mit einer prall gefüllten Tasche über der Schulter, mit all den anderen Passagieren von Bord. Die kleinen Rollen ihres Trolleys klackerten mit denen anderer Gepäckstücke um die Wette. Zielstrebig steuerte sie auf Jule zu. Sie sah, wie sich Jules Gesicht erhellte und die Freundin mit ausgebreiteten Armen auf sie zustürmte.
„Da bist du ja endlich!“ Sie lagen sich in den Armen. Freudentränen flossen bei ihnen beiden, schließlich hatten sie sich zwei Jahre nicht mehr gesehen. Jule grinste und strubbelte durch Paulines Haare. „Sind die schon länger so kurz? Ich hätte dich fast nicht erkannt. Ähm … jedenfalls von Weitem nicht.“
Pauline hakte sich bei Jule ein. „Ich hab mir deinen Ratschlag zu Herzen genommen und mir trotz meiner mageren Finanzen einen Friseurtermin gegönnt. Ich bin echt froh darüber.“
„Komm, wir sollten los. Ich habe vorn an der Straße geparkt, damit wir schneller verschwinden können, bevor sich die anderen Ankömmlinge auf den Weg machen.“
Kurz darauf hievten sie Paulines Koffer und Tasche in Jules betagtes Gefährt und nahmen im Wagen Platz. Während der Fahrt gen Norddorf informierte Jule Pauline darüber, welche Aufgaben sie in der Pension übernehmen sollte. Paulines Arbeit bestand hauptsächlich in der Reinigung der Zimmer. „Oder hast du damit ein Problem?“, fragte Jule. „Wir könnten auch tauschen. Ich sorge für Sauberkeit und Ordnung und du machst den Bürokram.“
„Nee, schon in Ordnung. In deine Büroarbeit will ich lieber nicht reinpfuschen.“ Pauline genoss die Fahrt über die Insel und die Tatsache, neben Jule zu sitzen. Süddorf hatten sie bereits passiert und näherten sich ihrem Lieblingsdorf Nebel. Wann sie wohl Zeit für einen Besuch dieses zauberhaften Friesendorfes finden würde? So bald wohl nicht. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten. Zum einen in Jules Pension, zum anderen an einem neuen Manuskript. Den Gedanken daran schob Pauline weit von sich und hörte viel lieber Jule zu, die allerlei Tratsch von der Insel zum Besten gab. Eine Viertelstunde später bog Jule von der Landstraße in den Dünemwai ein. Nach wenigen Grundstücken erreichten sie die Pension Jule. Das reetgedeckte Häuschen aus rotem Backstein lag ruhig am Ende der Straße auf der linken Seite. Eine Findlingsmauer begrenzte das Grundstück zur Straße hin. Im Vorgarten blühten üppig die verschiedensten Stauden. Neben dem Haus befand sich ein Parkplatz, auf dem Jule ihren Wagen abstellte. Sie drehte sich zu Pauline um und lachte sie an. „Willkommen im Haus Jule. Danke, dass du mir aus der Patsche hilfst.“
Pauline zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab sowieso gerade nicht viel vor.“ Mit Schwung öffnete sie die Beifahrertür, stieg aus dem Wagen und streckte sich. „Endlich angekommen.“ Sie sah sich um. „O Jule, ich hatte gar nicht mehr in Erinnerung, wie schön du es hier hast.“
Jule hatte inzwischen Paulines Gepäck aus dem Kofferraum gezerrt. „Komm, ich zeig dir dein Zimmer. Sicher möchtest du dich frisch machen. Ich brüh uns derweil einen Kaffee auf. Mit dem setzen wir uns später in den Wintergarten.“
„Du hast einen Wintergarten? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“ Pauline staunte nicht schlecht. Jule schien auch ohne ihren Jan-Erik alles im Griff zu haben.
„Davon erzähl ich dir später.“ Jule hakte sich bei Pauline ein und zog mit der anderen Hand den Trolley hinter sich her. Gemeinsam betraten sie Jules Heim.
Pauline bezog ein kleines Zimmer im obersten Geschoss, das Jule als Privatbereich nutzte. „Ich hätte dir gern eines meiner Gästezimmer gegeben. Die sind größer“, sagte Jule entschuldigend. „Aber die sind in nächster Zeit belegt.“
„Ich bin ja auch nicht zum Urlaub hier. Außerdem ist es hier sehr gemütlich.“ Sie trat an das kleine Erkerfenster, öffnete es weit und beugte sich hinaus. „Der Ausblick auf Norddorf ist auch nicht zu verachten.“ Sie drehte sich wieder um, eilte zu Jule und umarmte sie. „Ach Jule, ich kann gar nicht sagen, wie schön ich es finde, bei dir zu sein.“
„Dann lass es.“ Jule löste sich lachend aus Paulines Umarmung. „Beeil dich lieber. Ich setz inzwischen den Kaffee auf. Dann machen wir es uns ein Stündchen gemütlich.“
Zwanzig Minuten später hatte Pauline geduscht und sich umgezogen. Ausgepackt hatte sie ebenfalls schon. Sie machte sich auf die Suche nach Jule. Da die Freundin in der oberen Etage nicht zu finden war, eilte Pauline die Treppe hinunter und zielstrebig auf den Aufenthaltsraum zu, der morgens als Frühstücksraum genutzt wurde. Den Wintergarten vermutete sie dahinter. Sie hatte recht, wie sie feststellte. Die Tür, durch die man früher auf die Terrasse gelangte, führte nun in den Wintergarten. Neugierig trat Pauline näher.
„Da bist du ja“, rief Jule, die Tassen auf einen kleinen runden Glastisch stellte. Eine Thermoskanne stand auch schon bereit.
Beeindruckt sah sich Pauline um. Jeweils vier Korbsessel, bestückt mit gemusterten Kissen, umrahmten kleine Glastische. Etliche Grünpflanzen standen an der Hauswand und vor der Glasfront, durch die man in den Garten blicken konnte. Überall hatte Jule hübsche Dekoartikel verteilt. Auf den Tischen standen frische Blumensträuße. Um die Vasen herum hatte sie hauchdünnen orangefarbenen Organzastoff drapiert.
„Schön sieht es hier aus. Richtig gemütlich.“ Pauline setzte sich in einen der Sessel. „Erzähl mal, seit wann es dieses Plätzchen gibt.“
„Gleich. Erst muss ich noch den Rest holen.“ Jule eilte hinaus und kam wenig später mit einem Tablett zurück. Sie grinste. „Ich kenn dich Leckermäulchen doch. Du lechzt bestimmt schon seit Stunden nach deiner Lieblingsspeise.“ Mit den Worten stellte Jule das Tablett ab und Pauline entdeckte zwei großzügig gefüllte Schälchen mit Eis und einer dicken Haube Sahne, dekoriert mit Schokoraspeln.
Pauline lachte laut auf. „Du kennst mich.“ Sie griff nach der Schale, die ihr Jule reichte, und löffelte sogleich.
„Mmh, Himbeere und Schoko. Himmlisch.“ Sie seufzte genießerisch.
Mit einem Schmunzeln setzte sich auch Jule. Sie zwinkerte Pauline zu und nahm sich das andere Schälchen.
„Alles Berechnung. Man muss seine Angestellten hegen und pflegen, sage ich immer.“
„Scherzkeks“, murmelte Pauline mit vollem Mund.
„Wahrheit.“
Es tat so gut, bei Jule zu sein. Erst jetzt wurde Pauline bewusst, wie sehr sie die kleinen Neckereien zwischen ihnen vermisst hatte. Eine Weile schwiegen die beiden und genossen das Eis und das Beisammensein.
„Jan-Erik wollte unbedingt einen Wintergarten bauen“, nahm Jule das Gespräch auf. „Davon träumte er, seit wir die Pension eröffnet hatten. Er hatte die Zeichnung angefertigt und Angebote verschiedener Firmen eingeholt.“ Jule seufzte tief. „Leider kam er nicht mehr dazu, seine Pläne zu verwirklichen.“
Pauline spürte, wie schwer es Jule fiel, über dieses Thema zu sprechen, und bedauerte, davon angefangen zu haben. Wieso hatte Jule nie am Telefon von diesen Plänen gesprochen?
„Ich wollte – ich musste Jan-Eriks Traum verwirklichen.“ Eindringlich sah Jule zu Pauline. „Verstehst du das?“ Pauline beugte sich zu Jule hinüber und tätschelte deren Arm. „Natürlich verstehe ich das.“
Jule wandte ihren Blick von Pauline ab und sah hinaus in den Garten. Nein, sie blickte eher in die Ferne, fand Pauline. Irgendwohin, ganz weit weg. Vielleicht dorthin, wo sie Jan-Erik vermutete.
„Die Finanzierung ist mir nicht leichtgefallen. Damals, bei der Beerdigung habe ich ihm aber geschworen, dass ich ihm seinen Traum erfüllen werde. Da konnte ich doch nicht einfach aufgeben, oder? Nur, weil nicht so viel Geld in die Kasse kam, wie ich mir erhofft hatte …“
„Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“
Jule zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht wollte ich dich damit nicht belasten. Hab mir über die Gründe nie Gedanken gemacht.“
Pauline konnte Jules Haltung nicht fassen. „Wozu sind wir gute Freundinnen, wenn wir uns unsere Probleme und Sorgen nicht anvertrauen?“
Jule war über Paulines Tonfall sichtlich erschrocken.
„Bitte schimpf nicht mit mir. Das hatte keinen besonderen Grund. Ich stand ziemlich neben mir, als ich so plötzlich alles allein managen musste. Der Sörens, der Mann meiner erkrankten Mitarbeiterin, übernahm die Verhandlungen mit den Firmen. Er ist handwerklich sehr begabt, im Gegensatz zu mir. Ich war sehr froh darüber, dass er mir in der Zeit zur Seite stand, und bin es noch heute. Alle paar Tage ruft er an oder kommt vorbei und fragt nach, ob es etwas auszubessern gibt. Du wirst ihn sicher noch kennenlernen. Er taucht bestimmt in den nächsten Tagen hier auf. Er ist Rentner und ich schätze, ihm ist ziemlich langweilig. Jetzt, wo seine Frau im Krankenhaus liegt, glaubt er sicherlich, dass hier noch mehr zu tun ist. Dabei hatte ich ihm erzählt, dass meine beste Freundin einspringt, solange seine Frau krankgeschrieben ist.“
Obwohl Pauline versuchte, sich in Jule hineinzuversetzen, und darüber nachdachte, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten hätte, verletzte sie Jules Vorgehensweise. Dabei wusste sie, wie schlimm es für Jule gewesen war, als Jan-Erik so plötzlich tot war. Reagierte sie selbst so empfindlich, weil in ihrem Leben momentan alles drunter und drüber ging? Irgendwie befand sie sich gerade in einer ähnlichen Ausnahmesituation wie Jule damals. Ihr Leben war ebenfalls gerade Knall auf Fall zusammengebrochen. Allerdings weilte Ralf noch unter den Lebenden – irgendwie. Für sie war er jedenfalls gestorben. Für immer und ewig. Wenn sich dieser Mistkerl bloß nicht immer in ihre Gedanken schleichen würde. Warum tat er das? Es schien ihm eine geradezu diebische Freude zu bereiten. Pauline verfluchte ihn und wünschte ihn dahin, wo der Pfeffer wächst, und sie wünschte ihm, dass er irgendwann in seinem Leben die gleichen Qualen durchlitt, die er ihr zugefügt hatte.
„Pauline?“
„Ähm … was?“ Pauline schrak aus ihren Gedanken auf.
„Alles in Ordnung? Ich hatte den Eindruck, dass du mit deinen Gedanken weit weg warst.“
„War ich auch. In meinem Kopf herrscht gerade ein ziemliches Durcheinander.“ Sie rümpfte die Nase. „Du kennst den Grund. Mir fiel auf, dass in unser beider Leben von einer auf die andere Sekunde alles zusammengebrochen ist – wenn es bei dir auch bedeutend schlimmer war.“ Pauline nahm einen Schluck von dem Kaffee, den Jule ihr, ohne dass sie es bemerkt hatte, eingeschenkt haben musste.
„Ich brauche vermutlich noch einige Zeit, bis ich das Thema Ralf innerlich abgearbeitet habe. Mal ehrlich, wie konnte ich auch noch so dämlich sein und meinen Job hinschmeißen?“
„Ja, das war wirklich selten dämlich.“ Jule nahm die Thermoskanne und schenkte ihnen beiden Kaffee nach.
„Warst du noch mal bei deinem Chef?“
Pauline schüttelte den Kopf. „Nee, das wäre mir zu peinlich gewesen. Es war schon schlimm genug, dass ich dem Typ vom Arbeitsamt erklären musste, wieso ich das gemacht habe. Ich hab auch noch angefangen zu heulen.“
„Ach du Schande. Wie geht’s weiter?“
„Erst einmal bearbeiten sie die Akte. Dann bekomme ich Bescheid, ab wann ich Arbeitslosengeld zu erwarten habe. Vermutlich bekomme ich zwei Monate nichts, hat er gesagt. So was Blödes aber auch.“ Pauline atmete tief durch. „Ich habe übrigens angegeben, dass ich eine Zeit lang hier wohne und sie die Post hierher schicken sollen. Jobangebote bekomme ich natürlich auch. Allerdings muss ich auch selbst auf Arbeitssuche gehen. Aber das ist kein Problem. Meinen Laptop habe ich sowieso dabei.“
„Hoffentlich finden die nicht so schnell eine neue Stelle für dich“, sagte Jule und schlug sich gleich darauf mit der Hand vor die Stirn. „Ich meine, damit ich dich nicht so schnell wieder ziehen lassen muss.“
Pauline grinste. „Ich hab’s schon richtig verstanden. Du willst, dass ich die Saison über hier schufte und du dir nicht noch eine andere Aushilfskraft suchen musst.“
„Genau!“ Jule grinste ebenfalls. „Du hast mich durchschaut. Aber mal ehrlich. Das wäre doch wirklich blöd, wenn du gleich wieder wegmüsstest.“
„Ja, stimmt. Ich habe mich schon darauf eingestellt, für längere Zeit hierzubleiben. Zu Hause würde mir sowieso die Decke auf den Kopf fallen. Hier lerne ich neue Leute kennen, und verdiene ein bisschen Geld. Vielleicht kommt mir hier auch eine Idee für meinen neuen Roman. Meine Lektorin drängelt schon.“
„Das wird schon. Magst du noch Kaffee?“
Pauline schüttelte den Kopf. „Viel lieber würde ich mit dir einen Spaziergang durch den Ort oder zum Strand machen.“
„Das ist eine gute Idee. Sieh dich um, erneuere deine Eindrücke von der Insel. Aber ich muss passen. Hab noch dringende Büroarbeiten zu erledigen.“