Loe raamatut: «JÄRNGÅRD»
Ruben Philipp Wickenhäuser
JÄRNGÅRD
Der Fluch des Erzes
Außer der Reihe 62
Ruben Philipp Wickenhäuser
JÄRNGÅRD
Der Fluch des Erzes
Außer der Reihe 62
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© dieser Ausgabe: Oktober 2021
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Ruben Philipp Wickenhäuser
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 262 1
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 835 7
Die Nacht
Dies war ein magischer Ort. Es traf ihn wie ein Hammerschlag. Die Elchschädel. Die Hütte. Die Feuerschale. Der Wald. Dieser unvergleichliche Wald mit seinen Felsbrocken, den Moosteppichen, den Lichtbahnen der Abendsonne, den bis in den Himmel aufragenden nordischen Kiefern.
Hier hatte er sein Zentrum. Hier ballte sich seine Kraft in einem Punkt. Wie in einem Brennglas. Es war ein einzigartiger Ort auf Erden.
Und Jarrik hatte ihn gefunden. Sein Herz schlug höher als beim ersten Anblick seiner nackten Freundin. Er legte seine Kleider ab und betrat die Hütte. Wenn es einen Ort gab, um eins zu werden mit dem Universum, dann war es dieser.
Jarrik entzündete ein Feuerchen und begann mit seinem ausgedehnten Ritual der Anrufung von Mutter Erde.
Seitdem schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Er kauerte unter der hintersten Bank der achteckigen Hütte. Er biss sich auf die Fingerknöchel und zitterte am ganzen Leib. Er konnte den Blick nicht vom Eingang lösen. Ein letzter Rest Glut tauchte das Innere in schummriges Blutrot. Mit der Dunkelheit waren die Flammen gekommen, gefährlich singende Feuerbälle, die einen unheimlichen Tanz vor der Hütte aufgeführt hatten. Wenig später sollte sich Jarrik nach ihrem giftigen Zischen und Knattern zurücksehnen, als nämlich der Nebel in einem zähflüssigen Bleigrau heranwaberte und die Hütte einschloss.
Urinstinkte waren in Jarrik erwacht und hatten seinen Körper mit einer Furcht durchflutet, wie er sie noch nie gespürt hatte. Schneidend und unerbittlich war sie. Seine Knochen schienen zu Trockeneis zu erstarren, Eisgarn fesselte seine Glieder, wie er da auf dem Boden hockte. Seine Zähne klapperten, er schlotterte unkontrolliert und benässte seine bloßen Knöchel.
Als der Morgen kam, erstrahlte der Wald in zauberhafter Herrlichkeit. Nichts erinnerte mehr an das urtümliche Grauen der Nacht. Außer den Kleidern, die Jarrik vor der Hütte abgelegt hatte. Sie waren zerfetzt und starrten vor Blut und Schmutz. Auf ihnen lag ein Brocken gebrochenes Lavagestein. Die fingerdicke rote Lasur auf der Oberseite glänzte wie frisch geschmolzen.
Netz im Wald
Es war das Haus, das sie sich gewünscht hatten. Rot gestrichen, mit weißen Fensterrahmen, Traufen und Ortgängen, genau so, wie sich jeder ein schwedisches Haus vorstellte. Schon der Weg hierher war wunderschön gewesen: Von der Landstraße zweigte eine Schotterpiste ab und schlängelte sich durch einen Wald voll lichter Birkenhaine, plätschernder Waldbächlein und sich im Sonnenlicht wiegender Rispengräser auf Lichtungen, auf denen einfach ein Elch stehen musste. Felsbrocken mit von Eisen rötlich schimmernden Flanken lagen dort, und es wäre gar nicht verwunderlich gewesen, Gnome und Elfen zwischen ihnen herumtollen zu sehen. Und mittendrin in diesem Traumland, ihr Haus.
Rainer hatte als Erstes seinen Computer angeschlossen, um den Internetanschluss auszuprobieren.
»Schon erstaunlich«, rief er seiner Frau Annalisa zu, die im Erdgeschoss ein Regal aufbaute. »Wir sitzen hier mitten im Wald und sind doch vom Rest der Welt nur einen Mausklick weit entfernt. Noch dazu schneller als in mancher deutschen Kleinstadt.«
»Komm mir nicht auf die Idee, dich einzumauern!«, warnte Annalisa lachend. »Du sitzt mitten in einer Landschaft, von der andere nur träumen können! Da musst du schon auch mal weg vom Schreibtisch.«
Er hörte ihr rabiates Hämmern heraufschallen und lächelte. Am liebsten hätte er sofort mit der Aktivierung seines Börsenhandelssystems begonnen, aber das Haus forderte seine Aufmerksamkeit. Wenigstens in der ersten Woche ihres Einzugs.
»Kannst du mir bitte helfen?«, rief Annalisa. Er schaltete den Rechner ab und ging die knarzenden Stufen des alten Holzhauses hinunter. Seine Frau zog gerade eine Inbusschraube an einem Regal fest.
»Holst du bitte die Kiste mit den DVDs aus dem Keller?«
»Gern!«
Der Keller bestand aus drei Räumen. Die Umzugskartons stapelten sich im hinteren Raum, der nahe der Außentreppe lag. Im Vorbeigehen warf Rainer einen Blick durch die angelehnte Tür des ersten Raumes und sah darin eine große Holztruhe stehen.
Merkwürdig, dachte er, an die kann ich mich gar nicht mehr erinnern.
Er ging hinein. Die Truhe bestand aus grob bearbeitetem Holz; das verrostete Schloss stand offen. Neugierig hob Rainer den Deckel an. Im Halbdunkel konnte er den Inhalt kaum erkennen. Es war wie ein dunkles, struppiges Fell … und darunter war etwas Helles …
Der Schädel eines Elches grinste ihn aus der Truhe heraus an, Haarfetzen an den bleichen Knochen, die Augenhöhlen schwarze Tümpel. Ein Schwall Fäulnisgestank stieg auf. Mit einem Schrei fuhr Rainer zurück, sodass der Deckel wieder zufiel.
Als er sich einigermaßen von dem Schrecken erholt hatte, nahm er eine Taschenlampe und hob den Deckel vorsichtig wieder an.
Seine Fantasie musste ihm einen Streich gespielt haben. Was er für einen Elchschädel gehalten hatte, waren eine mottenzerfressene Wolldecke und eine Plastikflasche. Erleichtert holte er die Kiste mit den DVDs.
»Hast du gerade geschrien? Du bist ja immer noch ganz verstört. Was war denn los?«, fragte Annalisa, als er die Kiste hochbrachte.
Rainer schüttelte nur den Kopf. »Nichts, nichts.«
Als er in dieser ersten Nacht in ihrem neuen Haus einschlafen wollte, da ließ ihn das Bild des Elchschädels nicht los. Er war sich vollkommen sicher, ihn in der Truhe gesehen zu haben.
Am nächsten Morgen hieß das kristallklare skandinavische Sonnenlicht sie willkommen. Annalisa hatte bereits den Tisch auf der Terrasse gedeckt, Brötchen und Marmelade hingestellt und las in einem dicken Buch. Kaffeeduft erfüllte das Haus.
»Ach, diese Unterwerfung ist streckenweise echt vulgär!«
Sie lachte und legte das Buch beiseite, während Rainer sich setzte.
»Aber jetzt gibt’s Wichtigeres. Wir müssen die Einkäufe bündeln. Die nächste Stadt ist zwanzig Kilometer entfernt. Nicht wie zu Hause, wo wir drei verschiedene Supermärkte um die Ecke hatten.«
»Dann fahren wir ein oder zwei Mal die Woche rein und laden den Wagen voll.«
Annalisa grinste. »Wenn das Essen knapp wird, schießt du halt einen Elch.«
Rainer biss in sein Brötchen und konnte nur mit Mühe das Unwohlsein verbergen, das ihn bei der Erwähnung des inoffiziellen schwedischen Wappentiers befiel.
Gegen Mittag fuhr ein roter Volvo auf ihren Hof.
»Oh, das ist doch der, der uns das Haus verkauft hat. Lasse!«, sagte Annalisa.
Rainer legte einen Hammer beiseite. »Ja, das sieht nach seinem Auto aus! Komm.«
Lasse hieß sie willkommen im Land. Er freue sich, dass sie das Haus gekauft hatten und dadurch wieder Leben in die Gegend käme. Er wohne ja selber praktisch um die Ecke, »only two kilometers from you«, sagte er und lachte.
Sie sprachen über dies und das, und Lasse hörte sich mit großem Interesse an, dass Rainer passionierter Höhlenkletterer war.
»Da behaupte noch einer, die schwedische Wildnis wäre einsam«, kommentierte Annalisa, als das Knirschen der Reifen verhallte.
»Na ja, so belebt wie Hamburg ist es jetzt nicht.«
»Und deswegen sind wir ja hier!«
»Genau.«
Am Abend stellten sie fest, dass das Wasser aus den Leitungen eine rostrote Farbe angenommen hatte.
»Wie Blut.« Annalisa zog eine schauerliche Grimasse.
»Das ist das eisenhaltige Gestein hier. Da ist wohl der Filter in unserer Quelle kaputt!« Rainer seufzte. »Ich fahre morgen gleich mal in die Stadt und schaue nach einem neuen Filter. Ach ja, und unseren Antrag auf eine Personennummer beim Skatteverket kann ich da auch gleich abgeben.«
Als es Nacht geworden war, machten sie mit Weinbechern in der Hand einen kleinen Spaziergang. Der Mond schien über die Wipfel der Bäume und verwandelte sie in Scherenschnitte auf dem Diamantteppich der Sterne. Es war angenehm warm.
»Wie ruhig es hier ist«, flüsterte Annalisa.
»Und wie gut die Luft!« Rainer atmete tief ein. Sie gingen ein Stück auf der Schotterpiste entlang und nippten an dem vorzüglichen trockenen Rotwein. Weit vor ihnen begann ein funkelnder Fleck zwischen den Bäumen zu irrlichtern.
»Schau mal! Ist das ein Graugnom mit Laterne?«, wunderte sich Annalisa.
»Eher ein Auto. Ist ja mehr los als bei uns auf der Straße«, meinte er.
Tatsächlich kam ihnen ein Volvo im Schritttempo entgegengefahren und hielt neben ihnen. Die Fensterscheibe wurde heruntergekurbelt. Im Glimmen der Armaturen erkannten sie Lasse mit seiner Frau und einem großen, schwarzen Hund.
»Hej!«
»Hallo.«
»Wie geht es? Sollen wir euch mitnehmen? Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens!« Rainer lachte. »Wir genießen die Nacht.«
»Dann seid vorsichtig«, riet der Mann.
»Wegen der Wölfe?«, fragte Annalisa im Scherz.
Lasse blieb ernst.
»Hier lebt ein Rudel, aber Wölfe greifen Menschen nicht an. Bären schon eher.«
»Jagt ihr Bären?«
»Wir fahren Patrouille. Es ist eine Räuberbande gesichtet worden, die einsame Höfe ausräumt. Die fahren mit dem Umzugswagen vor, und in einer halben Stunde ist das Haus leer. Aber nicht mit uns.«
»Oh! Ja, über diese breiten Straßen kommt man selbst mit einem Umzugswagen mühelos durch den Wald«, sagte Rainer unbeholfen.
»Ja, das sind die alten Eisenbahntrassen«, erklärte Lasse. »Vor hundert Jahren wurde hier überall Erz abgebaut. Und genau hier stampften Dampfrösser entlang. Du bist doch interessiert an alten Gruben? Die gibt es hier überall.«
Annalisa lachte und prostete Rainer zu. »Ha, erwischt, du bist nur wegen der alten Gruben hierhergezogen! Da strahlt der kleine Höhlenforscher aber, was?«
Lasse lachte ebenfalls. »Ja, Höhlen erforschen könnt ihr hier allerdings. Für die meisten Stollen hat sich noch nie jemand interessiert.«
»Oh ja! Was für eine Gelegenheit!« Rainers Augen leuchteten auf.
»Übrigens, bald beginnt die Elchjagd, willst du nicht mit unserer Jagdgruppe mitkommen? Vielleicht kommen wir auch an ein paar alten Sachen vorbei.«
»Elchjagd? Aber … na aber gern!«, antwortete Rainer überrumpelt.
Wenig später fuhr der Wagen weiter. Als er zwischen den Bäumen verschwand, erinnerten seine Rücklichter an die Augen eines Ungeheuers.
»Elchjagd?«, wunderte sich Annalisa.
»Ähm … na ja, das klingt doch spannend. Außerdem, das Angebot hätte ich schlecht ablehnen können, oder?«, erwiderte Rainer. Aus irgendeinem Grunde hatte er dabei ein schlechtes Gefühl. Er schob es auf die unheimliche Begegnung im Keller.
»Die armen Elche. Gehen wir zurück«, sagte Annalisa und schlang ihr Jäckchen enger um sich. »Mir wird kalt.«
Auf dem Rückweg wirkte die Schotterpiste düster. Die Stille wurde drückend. Es war, als seien die Bäume näher an den Weg herangerückt. Rainer war auf unbestimmte Weise erleichtert, als er die Haustür aufsperrte und das elektrische Licht anknipste.
Feine Rinnsale zähen, grauen Nebels flossen unbemerkt am Fuß des alten Bahndamms entlang und vereinigten sich zu Strömen, ehe sie sich wieder auflösten.
Ein erster Gast
In Deutschland waren die Schweden für ihre freundliche Art bekannt, für das direkte Du und für ihr Lächeln. Alles dies traf auch zu, stellte Rainer fest, als er zu der ›Skatteverket‹ genannten Steuerbehörde fuhr. Das hinderte die freundliche, blonde, strahlendäugige Bearbeiterin aber nicht daran, bekümmert dreinzublicken und festzustellen:
»Ohne den Einkommensnachweis geht das nicht. Wir brauchen den Beleg, dass genug Eigenmittel für mindestens ein Jahr Aufenthalt vorhanden sind. Oder, dass hier in Schweden ein Beruf ausgeübt wird.«
»Aber ich hatte das doch schon bei der Einwanderungsbehörde eingereicht, beim Migrationsverket?«
Der Gesichtsausdruck der Bearbeiterin wurde um einen Deut bekümmerter. »Leider nützt uns das nichts. Skatteverket prüft die Unterlagen selber, und Migrationsverket gibt sie grundsätzlich nicht heraus.«
»Kann ich die Bankbelege ergänzen?«
»Leider nein. Es muss alles erneut eingereicht werden.«
»Da können wir nichts machen?«
Die Frau, so schön wie ein See in der Wintersonne, hob die Schultern. Sie war offensichtlich auch so hart wie das Eis eines Sees. »Leider nein.«
Ein wenig frustriert verließ Rainer das Amt und beschloss, erst einmal Wein einzukaufen. Den gab es ausschließlich in einer Handelskette namens Systembolaget. Praktischerweise lag eine Filiale gleich um die Ecke vom Skatteverket, neben der Bank. Angesichts dessen musste Rainer grinsen.
Nach einer Viertelstunde in dem Laden, der gut als Horrorkabinett für Geldbeutel herhalten könnte, entschied er sich für einen Dreiliterweinkanister. Immerhin war der in einer schönen Pappschachtel verpackt. In Deutschland hätte er nicht im Traum daran gedacht, Wein in anderen Behältern als in Glasflaschen zu kaufen, aber der Preis war hier einfach das gewichtigere Argument.
Nicht allein der Wein bot eine gewisse Herausforderung. Brot erwies sich als noch schwierigeres Terrain. Da es keine Bäckereien gab, stand Rainer wenig später vor dem Regal im Supermarkt und musterte die zahllosen Plastiktüten mit geschnittenem Industriebrot. ›Besonders malzig‹, ›mit extra Preiselbeersirup‹ und dergleichen stand auf den Packungen. Ein Brot, das nicht nach Äpfeln, Preiselbeeren, anderen Früchten oder einfach nur süß schmeckte, fand sich hingegen nicht. Nach einigem Suchen fand Rainer ein krustiges Weißbrot, aber als er es anfasste, ließ es sich zusammendrücken wie ein platter Fußball. Er seufzte und nahm ein dunkles Scheibenbrot, das wenigstens ein bisschen vertrauenerweckender aussah, und packte noch ein Preiselbeerbrot fürs Frühstück ein. Umgekehrt erwies es sich als schwierig, eine ungesalzene Butter zu finden. Rainer schüttelte den Kopf. Süßes Brot und salzige Butter, als wollte man mit dem einen das andere aufheben …
Als er zurückfuhr, nahm er nicht den direkten Weg. Die bergige Landschaft bot hinter jeder Kurve bezauberndere Ausblicke. Außerdem wollte Rainer nach ehemaligen Bergbaugruben Ausschau halten. Seine Höhlenklettererausrüstung wollte er schließlich nicht umsonst nach Schweden mitgenommen haben.
Als er die Umrisse eines großen Bauwerks zwischen den Bäumen erkannte, hielt er an und stieg aus. Da stand ein über sechs Meter hoher Klotz, zusammengefügt aus dem lavaähnlichen Gestein der Erzschmelzen; hier und da glänzte eine dicke, blaue und grüne Schmelzlasur auf dem porösen Schwarz. Die Seitenwände liefen nach oben hin schräg zu und trugen offensichtlich ein Plateau. Kiefern krallten sich in die Fugen auf der Oberseite. Nirgends war eine Treppe, ein Eingang oder sonst eine Öffnung zu entdecken.
Rainer rätselte, wozu dieses monströse Ding wohl gedient haben mochte. Es wirkte wie ein Bunker. Vielleicht gab es einen unterirdischen Zugang? Er bedauerte, dass er seine Kletterausrüstung nicht im Auto hatte, sonst hätte er sich das Ganze von oben ansehen können.
Um den gigantischen Klotz herum entdeckte er weitere Spuren: Etwas, das wohl einst eine gemauerte Rampe gewesen war, führte auf eine von Gestrüpp und Kiefern fast völlig überwucherte Ebene. Als er sie betreten wollte, blieb er mit dem Fuß in etwas hängen. Er hielt es zunächst für Brombeergestrüpp, aber die Ranken waren ungewöhnlich dick. Er erkannte, dass es eine rostige Stahltrosse war, die hier vermutlich seit einem halben Jahrhundert aufgerollt lag. Nachdem er mit seinem Mobiltelefon Fotos gemacht hatte, suchte er sich seinen Weg zum Auto zurück. Mehr würde er erst mit seiner Ausrüstung herausfinden. Und zwar bald.
Als er den Motor anspringen ließ und losfuhr, verschwand der Klotz hinter ihm zwischen den Bäumen wie das Mahnmal aus einer anderen, finsteren Welt.
Rainer war so begeistert von seinem rätselhaften Zufallsfund, dass er beinahe die Gestalt übersehen hätte, die am Straßenrand kauerte. Neben ihr stand ein schwerer Wanderrucksack. Im ersten Moment wollte Rainer einfach weiterfahren, ein rastender Wanderer war hier in Schweden wahrscheinlich kein allzu ungewöhnlicher Anblick. Aber etwas passte nicht ins Bild. Der junge Mann, eher noch Jugendliche, wirkte nicht wie einer, der sich von einem langen Marsch erholte.
Als Rainer ausstieg und näherkam, sah er, dass der Junge am ganzen Leib zitterte. Er hatte die Beine angezogen und das Gesicht auf die Arme gelegt. Erst jetzt sah er hoch, so, als habe er das Auto vorher gar nicht bemerkt. Und in sein Gesicht stand blanke Angst geschrieben.
»Was ist passiert?«, fragte Rainer.
Doch der Junge starrte ihn nur schweigend an, als müsse er sich erst davon überzeugen, dass Rainer ein Mensch war und kein Ungeheuer.
»Komm, ich nehme dich mit«, sagte Rainer kurz entschlossen. »Du siehst ja aus, als wärest du dem Teufel persönlich begegnet!«
Aus dem Rucksack hingen verschiedene Sachen heraus, und der Junge war äußerst nachlässig gekleidet. Es wirkte nicht so, wie es unter Jugendlichen Mode war, sondern vielmehr so, als habe er die Kleider in größter Hast aus dem Rucksack gezogen. Er ließ sich widerstandslos auf den Beifahrersitz bugsieren. Rainer warf den Rucksack in den Kofferraum und fuhr los.
»Nun erzähl doch«, versuchte er es erneut, während sie durch den Wald fuhren. »Was ist geschehen? Dir ist doch irgendwas zugestoßen. Oder hast du …«, er zwinkerte, »… na, hast du vielleicht irgendetwas genommen?«
»Die Nacht«, flüsterte der Junge.
»Wie?«
»Die Nacht. Die Nacht darf uns nicht einholen! Vor der Nacht!«
»Ähm … so weit wohne ich nun nicht entfernt, dass wir in die Nacht kommen könnten. Mach dir keine Sorgen. Ähm. Aber jetzt stelle ich mich erst einmal vor, ich heiße Rainer. Und du?«
»Jarrik«, antwortete der Junge so leise, dass Rainer ihn kaum verstehen konnte. Dann starrte er auf die Straße und wiederholte kaum hörbar:
»Die Nacht darf uns nicht kriegen.«
»Junge, du musst ja wirklich einen High-End-Albtraum gehabt haben!«, murmelte Rainer. Sein Gast jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
»Ist jemand in Gefahr? Braucht jemand Hilfe?«
Rainer staunte immer wieder darüber, wie Annalisa alle Verwunderung hintanstellen und übergangslos zu den wichtigsten Dingen kommen konnte. Kaum dass Jarrik ausgestiegen war, hatte sie die Lage erfasst und übergangslos ihre professionelle Art einklinken lassen. »Hast du jemanden im Wald verloren?«
Jarrik sah sie einen Herzschlag lang an, offensichtlich überrumpelt von der direkten Art der Frau, die er zum ersten Mal sah, starrte dann aber wieder ins Leere und schüttelte nur knapp den Kopf.
Annalisa kniete sich vor ihn hin, nahm seine Hände und sah ihm von unten herauf ins Gesicht. »Ich bitte dich, sag es uns, wenn jemand unsere Hilfe braucht. Wir helfen.«
Annalisa fragte noch ein wenig weiter, eindringlich, einfühlsam, einfach wunderbar, wie Rainer fand. Dann stellte sie eine letzte Frage. »Warst du allein unterwegs?«
Der Junge nickte. Annalisa erhob sich und berührte den Jungen sanft an der Schulter. »Ist gut. Nimm erst mal einen Becher Wein.«
Ihre ernsthafte Miene war wie weggeblasen, und stattdessen war da wieder die fröhliche, unbeschwert wirkende Annalisa. Kein Stück gekünstelt, erkannte Rainer voller Bewunderung. Er liebte seine Frau.
Der Junge ließ sich wie eine Puppe zu dem kleinen weißen Tischchen führen und auf einen der Stühle setzen.
»Ist er denn schon sechzehn?«, fragte Rainer, während er sich mit dem Zapfhahnsystem des Dreiliterkanisters abkämpfte.
Annalisa schenkte ihm einen schiefen Blick. »Das fragt ja genau der Richtige. Erstens, guck ihn dir an, der ist älter. Okay, vielleicht nicht viel, aber bestimmt nicht jünger. Zweitens ist das jetzt kein Wein, sondern ein Medikament in seinem Zustand. Sofern du den Schlauch heute noch aufbekommst, heißt das.«
Rainer fluchte, als er den Plastikzapfhahn aus dem Pappkarton herauspulte und sich dabei den Finger einklemmte.
»Autsch, wer zum Teufel hat sich denn diesen Mist ausgedacht! – So, jetzt aber … bitte die Tassen!«
Der Wein schäumte in die Tonbecher.
»Also, gut sieht das aus, den Wein so zu zapfen. Wie in einem Weinkeller!«, kommentierte Rainer und zwinkerte Jarrik zu. Doch der starrte nur geradeaus. Immerhin hatte er zu zittern aufgehört und nahm auch den Becher entgegen.
»Auf unseren ersten Besucher!«, rief Annalisa und prostete ihm zu.
Zögerlich nippte der Junge am Wein. Annalisa musste lachen, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
»Du trinkst nicht oft trockenen Roten, was?«, fragte sie.
Die Ahnung eines Lächelns schlich sich auf Jarriks düsteres Gesicht. Er setzte den Becher an und probierte erneut.
Ein Vorteil, in ein Haus inmitten schwedischer Wälder gezogen zu sein, war, keine Termine zu haben. So ließen sie den Nachmittag im Garten verstreichen, und ganz langsam entspannte sich Jarrik. Es war allerdings nicht aus ihm herauszubekommen, was mit ihm geschehen war.
Am Abend richteten sie ihm eine provisorische Bettstatt ein. Da die Verkäufer des Hauses der Tradition gemäß viele Möbel dagelassen hatten und sich darunter auch zwei Bettgestelle befanden, konnten sie ihm sogar ein richtiges Bett bieten.
Tasuta katkend on lõppenud.