Zeichentheorie

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Zeichentheorie
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Rudi Keller

Zeichentheorie

Zu einer Theorie semiotischen Wissens

A. Francke Verlag Tübingen

[bad img format]

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8463-4878-9

Inhalt

  „Was ihr denkt, das ...

 Vorbemerkungen1 Vorwort2 Zeichen im Alltag

 I Zwei Zeichenauffassungen3 Platons instrumentalistische Zeichenauffassung4 Aristoteles’ repräsentationistische Zeichenauffassung5 Freges repräsentationistische Zeichenauffassung6 Wittgensteins instrumentalistische Zeichenauffassung

 II Semantik und Kognition7 Begriffsrealismus versus Begriffsrelativismus8 Begriffstypen versus Regeltypen9 Ausdruck und Bedeutung

 III Zeichenbildung10 Grundverfahren der Interpretation11 Schlussprozesse12 Arbitrarität versus Motiviertheit

 IV Zeichenmetamorphosen13 Ikonifizierung und Symbolifizierung14 Metaphorisierung, Metonymisierung und Lexikalisierung15 Wörtlicher und metaphorischer Sinn16 Rationalität und Implikaturen

 V Die diachrone Dimension17 Kosten und Nutzen des metaphorischen Verfahrens18 Der metaphorische Gebrauch von Modalverben19 Das epistemische weil

  20 Resümee

  Literaturverzeichnis

  Personenregister

  Sachregister

„Was ihr denkt, das weiß ich nicht“, antwortete der Schalk, „wie kann einer des anderen Gedanken erraten! Aber was ihr mir gesagt habt, das weiß ich.“

Till Eulenspiegel (1519/1948: 82)

Vorbemerkungen
1 Vorwort

Dieses Buch handelt von sprachlichen Zeichen und ihrer Dynamik. Es will zeigen, wie Zeichen entstehen, funktionieren und sich verändern im Zuge der menschlichen KommunikationKommunikation. Sprachliche Zeichen sind nicht Voraussetzungen unserer kommunikativen Bemühungen, sondern deren (meist unintendierte) Folge. Dass der unüberschaubar großen Zahl an Publikationen über diesen Gegenstand eine weitere hinzugefügt wird, ist erläuterungsbedürftig. „Most of what we know about language has been learned in the last three decades“, schrieb Derek BickertonBickerton im Jahre 1990.1 Wenn diese Aussage mehr sein soll als ein autobiographisches Vermächtnis, so dürfte sie falsch sein. Mit Sicherheit trifft sie nicht zu für den Bereich der linguistischen Zeichentheorie. Alles was über sprachliche Zeichen gesagt werden kann, ist vermutlich irgendwann zwischen PlatonPlaton und heute gesagt worden. In einem sprachphilosophischen Gebiet mit mehr als zweitausendjähriger Tradition lässt sich wirklich Neues wohl kaum mehr entdecken. Mit anderen Worten, keine der wahren Aussagen dieses Buches erhebt Originalitätsanspruch. (Die falschen mögen origineller sein.) Allerdings bin ich der Meinung, dass dem vorschnellen Defensivargument „Das hat doch schon XY gesagt“ nicht allzuviel Gewicht zuzubilligen ist. Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich meist, dass mindestens die Zusammenhänge, in denen etwas bereits früher gesagt wurde, andere waren. Den Nutzen dieser Arbeit sehe ich in erster Linie in der Rekombination von Ideen und Überlegungen, die verschiedenen Traditionen entnommen sind, sowie in der Perspektive ihrer Auswahl. Zeichentheoretische Überlegungen mögen auf den ersten Blick den Eindruck empirisch irrelevanten und unnützen Philosophierens erwecken. Martti NymanNyman sagt deutlich, weshalb dies falsch ist: „A theory of language change depends on the underlying theory of language. Therefore […], it is not at all idle ivory-towering to dwell upon ontological questions about language. For example, if we look upon language as an abstract Platonic object […], we get virtually no theory of language change at all.“2 All die psychologistischen Sprachauffassungen, die den Ort der Existenz der Sprache ausschließlich im Kopf des Menschen ansiedeln, sind ebensowenig in der Lage, Sprachwandel als inhärentes Phänomen zu konzipieren. „Die Sprache hat schließlich keine eigene Existenz unabhängig von ihrer mentalen Repräsentation“,3 schreibt ChomskyChomsky und entzieht sich damit der Möglichkeit, den Zustand einer Sprache (auch) in seiner historischen Bedingtheit zu begreifen. Das Verständnis von WandelWandel und Genese der Sprache ist ein konstitutives Moment des Verständnisses ihres Wesens, und vice versa. Grundlage einer jeden Sprachtheorie ist der Zeichenbegriff. Auch sprachliche Zeichen fallen nicht vom Himmel. Was Nyman von der Sprache allgemein sagt, gilt auch von Zeichen im Besonderen. Wenn wir sie im platonischen Himmel ansiedeln oder ausschließlich im menschlichen Kopf, erfahren wir nicht, woher sie kommen. Dass wir sie verwenden, um kommunikative Ziele zu erreichen, ist psychologistischen Auffassungen gemäß kontingent. Und dass sie entstehen im Zuge unserer Bemühungen, kommunikative Ziele zu verwirklichen, muss einer solchen Theorie verborgen bleiben. Die vorliegenden zeichentheoretischen Überlegungen gehen von dem Faktum aus, dass die Sprache, die wir heute sprechen, samt der Zeichen, die wir heute benutzen, eine Episode im permanenten Prozess sprachlichen Wandels sind.4Keller

Platon stellte in seinem Kratylos-Dialog unter anderem die folgende Frage: „Wenn ich dieses Wort ausspreche“ und dabei „jenes denke“, wie ist es dann überhaupt möglich, „daß du erkennst, daß ich jenes denke“?5 Er formuliert damit ein zeichentheoretisches Grundproblem, das bis auf den heutigen Tag in verschiedenen Versionen diskutiert wird. Till EulenspiegelEulenspiegel formulierte es so: „Was Ihr denkt, das weiß ich nicht[…], wie kann einer des anderen Gedanken erraten! Aber was Ihr mir gesagt habt, das weiß ich.“6 In Ludwig WittgensteinsWittgenstein Philosophischen Untersuchungen findet sich die folgende Version: „Wenn man aber sagt: ‚Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‘, so sage ich: ‚Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.‘“7 Was Platon, Till EulenspiegelEulenspiegel und Wittgenstein mit unterschiedlicher Akzentuierung thematisieren, ist die Frage, vermöge welcher Eigenschaften Zeichen zu erkennen geben, welche kommunikative Absicht der Sprecher mit ihrer Verwendung zu realisieren beabsichtigt. Dies ist die zentrale Frage, die in diesem Buch erörtert wird. Das Leitmotiv, unter dem es geschrieben wurde, haben Raimo AnttilaAnttila und Sheila Embleton formuliert: „Change is the essence of meaningmeaning.“8 An anderer Stelle schreibt Anttila: „Only a full understanding of the notion ,linguistic sign‘ makes both change and reconstruction comprehensible and theoretically explainable.“9 Es ist meine Absicht, einen kohärenten zeichentheoretischen Entwurf vorzuschlagen, der in der Lage ist, einen Beitrag zum Verständnis der Dynamik und der EvolutionEvolution natürlicher Sprachen zu leisten. Dabei bin ich mir bewusst, dass die Chance, ein solches Ziel zu treffen, geringer ist, als es zu verfehlen.

„The recent history of semiotics has been one of simultaneous institutional success and intellectual bankruptcy“,10Sperber und Wilson schreiben Dan Sperber und Deirdre Wilson mit einem gewissen Mangel an Selbstkritik. Aber selbst wenn man den Bankrott nicht ganz so dramatisch sieht, muss man wohl zugestehen, dass die zeichentheoretischen Überlegungen für die Sprachwissenschaft (mit wenigen Ausnahmen11Grice) weitgehend folgenlos waren. „After the publication in 1957 of Noam Chomsky’s Syntactic Structures, linguistics took a new turn and did undergo remarkable developments; but these owed nothing to semiotics.“12 Nun könnte man argumentieren: Das liegt nicht an der Zeichentheorie, sondern am chomskyschen Paradigma. Zu welchem Urteil man auch immer kommen mag, die Konsequenzlosigkeit der Zeichentheorie scheint mir für jedes andere linguistische Paradigma in gleicher Weise zuzutreffen. Dafür gibt es meiner Ansicht nach zwei Gründe.

 

Zum einen ist die herrschende Metapher, in deren Licht KommunikationKommunikation gemeinhin gesehen wird, inadäquat. Das Problem des Kommunizierens wird als Transportproblem konzeptualisiert. Der in diesem Buch vorgetragenen Ansicht gemäß hat Kommunikation nichts mit dem Vorgang des Einpackens, Wegschickens und Wieder-Auspackens zu tun. Kommunizieren ist vielmehr ein inferentieller Prozess. Kommunizieren heißt versuchen, den Adressaten zu bestimmten Schlüssen zu bewegen. Demgemäß haben Zeichen nicht den Charakter von Versandkartons, sondern vielmehr den von Prämissen für interpretiereninterpretierendes Schließen.

Zum anderen werden sprachliche Zeichen als im Grunde stabile Einheiten gesehen, denen bisweilen das Missgeschick des Wandels widerfährt. Zeichentheorien befassen sich gemeinhin mit Fragen der Architektur von Zeichen: Wie sind sie gebaut? Wieviele Seiten haben sie? Welches sind ihre Teile? Wie lassen sie sich ihrem Aufbau gemäß klassifizieren? Solche zeichentheoretischen Fragen passen zu der vorchomskyschen Syntax, die sich im Wesentlichen mit der Architektur von Sätzen befasste. Die hier vorgeschlagene Zeichentheorie versucht, einen anderen Weg zu gehen. Ihr oberstes Ziel ist nicht, die Frage nach der Architektur von Zeichen zu beantworten, sondern die nach den Prinzipien ihrer Bildung. Antworten auf die Frage der Architektur ergeben sich dabei von selbst. Menschen verfügen über die Fähigkeit, Dinge (im weitesten Sinne) als Zeichen zu interpretieren. Sie sind in der Lage, aus ‚Dingen‘, die sie sinnlich wahrnehmen, interpretierende Schlüsse zu ziehen. Genau diese Fähigkeit beuten sie zum Zwecke des Kommunizierens aus. Kommunizieren besteht darin, sinnlich Wahrnehmbares zu tun bzw. hervorzubringen in der Absicht, einen anderen damit zu interpretierenden Schlüssen zu verleiten. Kommunizieren ist ein intelligentes Ratespiel.13García Die Fähigkeit, dem Adressaten Interpretationsvorlagen zu geben, die ihm das Erraten des Kommunikationsziels erlauben, möchte ich semiotische Kompetenz nennen. Das Wissen, das dieser Fähigkeit zugrunde liegt, sei semiotisches Wissensemiotisches Wissen genannt. Die hier vorgelegte Zeichentheorie ist konzipiert als eine Theorie unseres semiotischen Wissens. Semiotische Kompetenz und semiotisches Wissen sind der sprachlichen Kompetenz logisch vorgeordnet: Dank unserer Fähigkeit, Wahrnehmbares interpretativ zu nutzen, und dank der Fähigkeit, diese Fähigkeit wiederum zum Zwecke der KommunikationKommunikation auszubeuten, bilden sich sprachliche Zeichensysteme als spontane Ordnungen heraus. Etwas verkürzt kann man sagen: Sprachen entstehen durch die Nutzung semiotischen Wissens zum Zweck der Beeinflussung von Mitmenschen.

Das Buch besteht aus fünf Teilen mit insgesamt zwanzig Kapiteln. Im ersten Teil werden zwei prototypische Zeichenauffassungen einander gegenübergestellt. Jeweils am Beispiel eines klassischen und eines modernen Sprachphilosophen wird die instrumentalistische und die repräsentationistische Zeichenauffassung vorgestellt. Erstere wird durch PlatonPlaton und WittgensteinWittgenstein dokumentiert, letztere durch AristotelesAristoteles und FregeFrege. Der instrumentalistische Gedanke wird zur Grundlage der weiteren Überlegungen gewählt. Im zweiten Teil wird die BeziehungBeziehung von SemantikSemantik und Kognition angesprochen. Ich versuche zu zeigen, dass eine Identifikation der BedeutungBedeutung sprachlicher Zeichen mit den ihnen (möglicherweise) entsprechenden kognitiven Einheiten den in diesem Buch verfolgten Erklärungszielen inadäquat ist. Plakativ gesagt: Begriffe eignen sich nicht als Kandidaten für Bedeutungen. Der dritte Teil befasst sich mit den drei zeichenbildenden Verfahren, die den Kernbereich unserer semiotischen Kompetenz ausmachen: dem symptomischen, ikonischen und symbolischen Verfahren. Im vierten Teil versuche ich zu zeigen, dass diese drei grundlegenden zeichenbildenden Verfahren eine Art eingebaute Dynamik haben. Ein Verfahren kann von einem anderen abgelöst werden, ohne dass planende Absicht im Spiel ist. So können Symptome und Ikone zu Symbolen werden, und zwar ausschließlich durch die Art und Weise, in der sie zum Zwecke des Kommunizierens verwendet werden. Die drei gundlegenden zeichenbildenden Verfahren sind auf einer höheren Ebene erneut anwendbar. Wir nutzen sie, um Metonymien, Metaphern zu bilden, und um mittels Sprache über Sprache reden zu können. Im fünften Teil zeige ich an einigen Beispielen die Relevanz der dargelegten zeichentheoretischen Überlegungen im Rahmen erklärender Theorien des Sprachwandels.

Zeichentheoretische Schriften sind meist schwer zu verstehen. Es ist mein Wunsch, dass dies für den vorliegenden Text nicht gelten möge. Ich habe mich jedenfalls bemüht, so klar, unprätentiös und verständlich zu schreiben, wie es mir möglich ist. Um das Buch für die Leserin und den Leser und nicht zuletzt auch für den akademischen Unterricht benutzerfreundlich zu machen, habe ich versucht, jedes einzelne Kapitel so zu verfassen, dass es möglichst autonom ist. Jedes Kapitel sollte idealiter auch einzeln lesbar und aus sich selbst heraus verständlich sein. Ich hoffe, dass mir dies einigermaßen gelungen ist, wenngleich mir bewusst ist, dass dieses Ziel nur um den Preis unzumutbarer Redundanz wirklich konsequent durchführbar gewesen wäre. Insbesondere gilt für das zehnte Kapitel, dass es Voraussetzung für das Verständnis aller nachfolgenden Kapitel ist.

Vorfassungen des vorliegenden Textes wurden ganz oder teilweise gelesen und konstruktiver Kritik unterzogen von Raimo AnttilaAnttila, Axel Bühler, Sheila Embleton, Fritz Hermanns, Jochen Lechner und Frank LiedtkeLiedtke. Ihnen sei für ihre Hilfe sehr herzlich gedankt. Ständige Gesprächspartnerin in jeder Phase der Entstehung dieses Buches war mir Petra RadtkeRadtke. Ihre inhaltlichen wie sprachlichen Einflüsse, die in die vorliegende Fassung eingingen, sind so zahl- und umfangreich, dass es ein unmögliches Unterfangen wäre, sie im Einzelnen lokalisieren zu wollen. Sie wird das Maß des Dankes, das ich ihr schulde, selbst am besten einzuschätzen wissen. Nicole Schmitz hat mir bei der redaktionellen Überarbeitung und der Erstellung der Register sehr geholfen. Dafür sei auch ihr gedankt. Schließlich haben die Studierenden, Kollegen und Diskutantinnen, die Teile dieses Buches in Form von Vorlesungen und Vorträgen gehört haben, viel zum Entstehen beigetragen. Dankbar bin ich auch dem Verlag für die zuverlässige Betreuung und stets kooperative Unterstützung.

2 Zeichen im Alltag

Zeichen bestimmen unser Leben. Dies gilt nicht nur für die sprachlichen Zeichen. Wir sind umgeben von Zeichen, wir umgeben uns mit Zeichen, und meist ist uns dies gar nicht bewusst. Bewusst wird uns die Tatsache, dass unser Leben nahezu vollständig zeichenimprägniert ist, oft erst dann, wenn die Zeichen, mit denen wir uns umgeben und die wir verwenden, Anlass zu unerwarteten Interpretationen sind. Mein Auto ist zeichenhaft, mein Fahrrad auch. Hätte ich kein Auto, wäre auch dies zeichenhaft. Austern essen ist ebenso zeichenhaft wie der Verzehr von Hamburgern. Wenn ich eine Krawatte trage, so ist dies zeichenhaft, ebenso wenn ich auf sie verzichte. Das gleiche gilt für die Cordhosen, die Jeans und meine Anzüge. Jemand könnte auf die Idee kommen zu sagen: „Ich habe es satt, dass alles stets interpretiert wird; ich mache nicht mehr mit!“ Auch für diese Haltung gibt es die geeignete Kleidung. Individualisten erkennt man, wie die Spießer, an ihren Zeichen. Es gibt kein Entrinnen aus der InterpretierbarkeitInterpretierbarkeit. Dies erinnert an den berühmt gewordenen Satz von WatzlawickWatzlawick, Beavin und Jackson: „Man kann nicht nicht kommunizierenkommunizieren.“1 Aber diese These soll hier nicht vertreten werden. Ihr liegt der, wie wir noch sehen werden, unangemessene Schluss zugrunde, dass alles, was interpretierbar ist, kommuniziert sein muss. Dem ist jedoch nicht so.

Bedeutsam ist in unserem Leben nicht nur wie etwas interpretiert wird, sondern auch das Was. KulturKulturen und Subkulturen unterscheiden sich im Ausmaß und in den Bereichen, die Gegenstand zeichenhafter Interpretation sind. Das Maß der ZeichenhaftigkeitZeichenhaftigkeit der verschiedenen Lebensbereiche einer Gruppe ist nachgerade das Maß der Zivilisiertheit, die dieser Gruppe zugebilligt wird. In je höherem Maß das Leben einer Gruppe „durchsemiotisiert“ ist, desto mehr Kultur (im umgangssprachlichen Sinne) schreiben wir ihr zu. Kultur besteht unter anderem darin, Dingen des täglichen Lebens Zeichenhaftigkeit beizumessen. „Culture depends on symbolic structure“, schreibt Raimo AnttilaAnttila. „Culture is learned sign behavior.“2 Es ist die Regelhaftigkeit, die Verhalten zeichenhaft zu machen im Stande ist – eine Tatsache, die uns noch ausgiebig beschäftigen wird. Wenn wir von „primitiven Kulturen“ reden, meinen wir Kulturen, deren Lebensformen mehr zeichenfreie Räume enthalten als die unsrigen oder deren Zeichenhaftigkeit wir nicht als zeichenhaft erkennen. Wenn wir in einer Kultur einen zeichenfreien Bereich entdecken, der in unserer Kultur zeichenhaft ist, so tendieren wir dazu, jene Kultur als in diesem Bereich „unzivilisiert“ zu bewerten. Betrachten wir ein einfaches Beispiel: Bei uns sind Körpergeräusche wie Schmatzen, Rülpsen oder noch Unanständigeres streng reglementiert. Wir bringen unseren Kindern mit einigem Aufwand bei, wo und wann man was tun darf und wann nicht; beispielsweise, dass man bei Tisch nicht schmatzt. Es gibt jedoch genau ein körperliches Geräusch, das zu allem Überfluss noch mit einer unappetitlichen Körperausscheidung verbunden ist, das hierzulande so gut wie nicht reglementiert ist: das Schneuzen. Die Nase darf man sich überall putzen und zu jeder Zeit: in der Straßenbahn, im Unterricht, sogar bei Tisch. Nicht so beispielsweise in Korea und anderswo in Ostasien. Dort ist es nachgerade der Gipfel an Barbarei, sich etwa bei Tisch Schleim aus den Nasenlöchern in ein Tuch zu pusten. Was hierzulande weitgehend unreglementiert ist, ist anderswo Gegenstand der Interpretation. Es gilt als unanständig, unzivilisiert und eklig. Regelungslücken erzeugen semiotische Löcher. Sie fallen meist nur denen auf, bei denen sie geschlossen sind.

Es scheint ein Kennzeichen sogenannter Hochkulturen zu sein, Wünsche und Bedürfnisse nicht (nur) real, sondern (auch und) vor allem symbolisch zu verarbeiten. Wer hierzulande Abenteuerlust verspürt, geht nicht in die Wildnis, sondern raucht Marlboro oder Camel und fährt mit dem allradgetriebenen Geländewagen ins Büro. Große Männer, und solche, die sich für wichtig halten, haben große Büros, große Schreibtische, große Sessel, und rauchen dicke Zigarren. Es handelt sich hierbei um die Symbolisierung sozialen Revieranspruchs. Natürlich ist das karikierend überzeichnet. Aber wahr daran ist: Wenn wir unsere Lebensform verstehenverstehen wollen, müssen wir sie in ihrer Zeichenhaftigkeit interpretiereninterpretieren. Wählen wir als Beispiel die Wohnung. Sie ist ein Teil unserer Lebensform, der weitgehend semiotisiert ist; insbesondere das Wohnzimmer. Alphons SilbermannSilbermann spricht von einem „Symbolmilieu“.3 Wir leben in einer KulturKultur, in der es üblich ist, Gäste bei sich zu Hause zu empfangen und zu bewirten. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Struktur unserer Wohnungen.4Kanacher Es folgt beispielsweise daraus, dass der „öffentliche“ Teil der Wohnung zur Selbstdarstellung genutzt wird. Öffentlich zugängliche Bereiche der Wohnung sind in erster Linie Flur und Wohnzimmer, in zweiter Linie Küche und Bad. Der Besucher soll von dem ihm zugänglichen Teil der Wohnung auf den Rest der Wohnung und letztlich auf die Persönlichkeit des Bewohners selbst schließen. Untersuchungen zeigen, dass diesen Bereichen die größte Sorgfalt und der größte finanzielle Aufwand bei der Einrichtung und Gestaltung gewidmet wird.5Tränkle Auch dies dient der Symbolisierung sozialen Revieranspruchs.

Betrachten wir für einen Augenblick das Wohnzimmer des deutschen Mittelstandes im Lichte seiner Zeichenhaftigkeit als Beispiel unserer Alltagssemiotik.

1. Ein Vergleich der Grundrisse handelsüblicher Fertighäuser macht folgendes deutlich: Während das Kinderzimmer im Durchschnitt 8 % der Gesamtfläche ausmacht, entfallen auf das Wohnzimmer durchschnittlich 30 % der Wohnfläche. Insgesamt gilt: Je größer die Gesamtfläche ist, desto geringer ist der prozentuale Anteil des Kinderzimmers; der Zuwachs geht stets zugunsten der Wohnzimmergröße.6 Das Wohnzimmer ist gleichsam die republikanische Weiterentwicklung des aristokratischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts. Es „erinnert“, wie MitscherlichMitscherlich feststellt, „an ein Fürstenzimmer ohne das Schloß im Hintergrund“.7Elias

 

2. Früher, etwa bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gab es die sogenannte „gute Stube“. Das war ein Raum, der ausschließlich Repräsentationszwecken diente. Er wurde nur genutzt, um Besuch zu bewirten und zu besonderen familiären Anlässen. Der Tatsache, dass die gute Stube auch nur zu diesen Anlässen beheizt wurde, verdankte sie die ironische Bezeichnung „die kalte Pracht“.8 Das alltägliche Leben fand in der Küche statt. Unser heutiges Wohnzimmer hat beide Funktionen zu erfüllen. Es ist Repräsentationsraum und Hauptlebensraum. Damit aber sind Konflikte programmiert. Als Repräsentationsraum muss er stets „vorzeigbar“ sein, d.h. sauber und aufgeräumt, als Hauptlebensraum kann er das nicht sein. Das hat mindestens drei Konsequenzen, die jedem (mindestens vom Hörensagen) vertraut sind: a) Es gibt einen permanenten Konflikt mit den Kindern, die da spielen wollen, wo die Erwachsenen sich aufhalten, dies aber nur in bescheidenem Umfang dürfen, da das Wohnzimmer zu jeder Zeit Repräsentationszwecken dienlich sein muss. b) Die sogenannte Essecke des Wohnzimmers wird, um „unnötiges Durcheinander“ zu vermeiden, nur benutzt, wenn Gäste zu Besuch kommen. Ansonsten wird für die alltägliche Nahrungsaufnahme der Familienmitglieder in die zu kleine Küche ein kleiner Esstisch gezwängt. c) Fröhlichere Feste werden in den Partykeller, so vorhanden, ausgelagert, um die Repräsentativität des Wohnzimmers nicht zu gefährden.

3. Wohnzimmereinrichtungen zeigen, wie Untersuchungen belegen,9 ein überraschend hohes Maß an KonformitätKonformität, und zwar in zunehmendem Maße mit abnehmendem Sozialprestige ihrer Bewohner. Wohnzimmer der unteren Mittelschicht weisen ein höheres Maß an Konformität auf als Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht, und diese wiederum sind weniger individuell als Wohnzimmer der sozialen Oberschicht. Auch dies ist, wie wir gleich sehen werden, eine Folge ihres Zeichencharakters.

Das Wohnzimmer einer Familie der unteren Mittelschicht ist üblicherweise möbliert mit schweren Polstersitzmöbeln, bestehend aus einem dreisitzigen Sofa und zwei mächtigen Sesseln in überladenem Mischstil oder im sogenannten altdeutschen Stil. Ein Blick in die entsprechenden Werbebroschüren der Möbelhäuser zeigt, dass in den Beschreibungen der Abbildungen Adjektive wie schwer, repräsentativ, rustikal, massiv eine besondere Rolle spielen. Das Polsterensemble nennt man wie das obligatorische Petersiliensträußchen auf dem Tomatenachtel am Tellerrand eines Jägerschnitzels bezeichnenderweise „Garnitur“. Zu der Polstergarnitur kommt ein halbhoher Couchtisch, ein Wohnzimmerbüffet mit Glasvitrine für das Schaugeschirr oder, alternativ dazu, eine Schrankwand. Der dominierende Punkt, auf den die Einrichtung ausgerichtet ist, ist der Fernsehapparat. Der Tatsache, dass Wohnzimmer in früheren Zeiten (wie auch die Salons) stets zur Straßenseite lagen, ist wohl noch die vor allem in der unteren Mittelschicht ausgeprägte Vorliebe zu „Gardinenkult“ und überladener Fensterdekoration zu verdanken.10 Während in der unteren Mittelschicht Wertsymbole überwiegen, überschwere Sessel, Eichenholz usw., finden sich im Wohnzimmer der gehobenen Mittelschicht eher Bildungssymbole: Bücherregale, Kunstdrucke, Antiquitäten und Musikinstrumente.11 Die Möbel sind im Allgemeinen leichter. Kehren wir zurück zu der Frage, wie es zu dem hohen Maß an Konformität kommt, obgleich sich die Bewohner bei Befragungen allgemein zu einer Hochschätzung von Individualismus und Originalität bekennen.12 Die Antwort folgt aus dem Repräsentationscharakter des Wohnzimmers. RepräsentationRepräsentation (im hier relevanten Sinne) ist die Darstellung von Werten, die man hat oder gerne beanspruchen würde, mit Hilfe von Symbolen. Ein Zimmer, das eine Person bzw. eine Familie repräsentieren soll, muss also die Werte, auf die es ankommt, das sind im wesentlichen Wohlstand, Sozialprestige und Bildung, symbolisch ausdrücken. Der Erfolg der Repräsentation ist davon abhängig, dass die verwendeten Symbole verstanden werden, d.h. die intendierte Wertschätzung finden. Somit muss sich jeder, der seine Werte auf verständliche Weise symbolisch darstellen will, nach den Interpretationsmöglichkeiten und antizipierten Werturteilen seiner Adressaten richten. Das Streben nach Verständigung führt zu Homogenität der Mittel in der entsprechenden Gruppe.

Je höher die soziale Schicht, desto subtiler und versteckter werden (hierzulande) die Symbole der Selbstdarstellung. Das liegt zum einen am umfassenderen Bereich der zu repräsentierenden Werte, zum zweiten an der größeren Interpretationsfähigkeit der Adressaten und zum dritten an unserer Ethik der Bescheidenheit.13 Der Gebildete ist gerne wohlhabend, aber er verachtet den, der es zu offen zeigt. Sich die Schneidezähne vergolden zu lassen, gilt als unfein. Das Bescheidenheitsgebot führt zu einem Paradox der Selbstdarstellung der Art: „Ich bin wohlhabend und gebildet; das soll jeder wissen, aber ich darf es nicht zeigen.“ Diese Situation führt notwendigerweise zu einer Selbstdarstellung nach der MaximeMaxime: „Gib dem andern zu erkennen, was du hast und was du bist, und zwar so, dass er nicht erkennt, dass du beabsichtigst, ihm dies erkennen zu geben.“ Die vollkommene Kunst der Selbstdarstellung besteht gemäß dieser Maxime darin, dem andern erkennen zu geben, dass man so wohlhabend und gebildet ist, dass man es nicht nötig hat, dies dem andern zu zeigen. Dies ist das Ziel der StrategieStrategie des sogenannten „Understatement“. Das angemessene Mittel, diesen Effekt zu erreichen, besteht darin, Symbole zu verwenden, deren Entschlüsselung Kennerschaft voraussetzt: Kunst, Exotik, Antiquitäten, Designermöbel, Teppiche usw. Sie sind von hoher Zielgenauigkeit; denn nur diejenigen, die auch Ziel der Botschaft sind, sind in der Lage, die Zeichen zu interpretiereninterpretieren. Da aber auch das Understatement darauf angewiesen ist, verstanden zu werden, entstehen auch hier Konventionen seiner Symbolik, die den Bereich der theoretischen Möglichkeiten auf ein überschaubares Repertoire der faktisch genutzten reduziert.

4. Betrachten wir zum Abschluss des Exkurses über das Wohnzimmer noch einen Aspekt, der ebenfalls eine Folge seiner Zeichenhaftigkeit sein dürfte, seine Kommunikationsfeindlichkeit. Jeder hat es schon erlebt: Nach dem Essen hebt die Gastgeberin oder der Gastgeber die Tafel auf mit den Worten: „Kommt, wir setzen uns noch ein bisschen gemütlich ins Wohnzimmer.“ Dies ist das sichere Ende der Gemütlichkeit und/oder der angeregten Gespräche. Die Gäste sitzen weit auseinander in tiefen, weichen Sesseln bei gedämpfter Beleuchtung. Drei davon sitzen, wie die Hühner, nebeneinander auf der Couch, einem "Dreisitzer". Sie haben nun die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder sie nehmen die Körperhaltung ein, die von den Sitzmöbeln vorgesehen und vorgegeben ist: tief in den Polstern sitzend mit behaglich zurückgelehntem Oberkörper. Das ist genau die Haltung, mit der man das Gegenteil von Zuwendung und Gesprächsbereitschaft signalisiert. In dieser Haltung ist ein lebendiges Gespräch so gut wie unmöglich. Die andere Möglichkeit ist, dass das Kommunikationsbedürfnis über das Verhaltensangebot der Polstermöbel siegt. In diesem Falle sitzen die Gäste auf der vorderen Kante der für diese Haltung zu weichen Sitzposter mit auf den Knien aufgestützten Ellenbogen. Am härtesten trifft es dabei die drei auf der Couch: Die mittlere Person beugt sich zurück, um den beiden äußeren, schräg auf der Kante sitzenden Personen den Blickkontakt zu gewähren. Die zweite Option erlaubt es, unter erheblichen körperlichen Opfern, gleichsam den Möbeln zum Trotz, die KommunikationKommunikation aufrecht zu erhalten.

Das Fazit lautet: Unsere Wohnzimmer sind dazu da, Wohlstand, Sozialprestige und Bildung zu symbolisieren. Ihre Größe, der Ausstattungsaufwand sowie das hohe Maß an KonformitätKonformität sind eine Folge der ZeichenhaftigkeitZeichenhaftigkeit. Die Sitzmöbel sind Zeichen der Muße. Für angeregte Gespräche sind sie nicht gemacht. So gesehen ist es nur konsequent, dass die Gäste einer Party im Allgemeinen der Küche, auch wenn sie noch so klein ist, als Aufenthaltsraum den Vorzug geben.

Was haben Wohnzimmermöbel mit sprachlichen Zeichen gemein? Beides sind Mittel der Beeinflussung. Wir nutzen sie in der AbsichtAbsicht,dem anderen damit etwas zu erkennen zu geben. Dies ist die wesentliche Eigenschaft kommunikativ genutzter Zeichen. Von nun an werden wir uns im Wesentlichen mit sprachlichen Zeichen und den Formen ihrer Genese befassen. Beginnen werden wir mit der ersten überlieferten Zeichentheorie, die, im Gegensatz zu Sprachursprungsmythen, wissenschaftlichen Anspruch erheben darf, Platons Kratylos.