Loe raamatut: «Das Licht und der Bär»
RUDOLF ALEXANDER MAYR
DAS LICHT
UND DERBÄR
Erzählungen vom Bergsteigen und anderen Abwegigkeiten
Inhalt
Das Licht und der Bär
Wolfi, der Dhaulagiri und die blauen Bomber
Biratnagar
Der sterbende Yak
Die Spucknäpfe von Xangmu
Mit leeren Händen
Diana
Lunag
Franz
Das Brockengespenst
Die Hütte, die Wand und die zwei Seiten des Lebens
Die Lawine, das Land Tirol und der Buckingham Palast
Fitz Roy
Santiago
Die Berge als Kulisse
Ein Jahr mit Naomi
Alaska
Zeiten des Übermuts oder My house is my castle
Dank
There is a crack, a crack in everything That’s how the light gets in.
Leonhard Cohen
Das Licht und der Bär
Ihr Bergsteiger kennt alle das erschöpfte Licht, das sich nicht zwischen Tag und Nacht entscheiden kann und doch eine Schärfe unseres Sehens und eine Klarheit unserer Gedanken bewirkt, wenn wir bis in diese Stunden der Dämmerung hinein eine lange Zeit unterwegs waren und erschöpft genug sind, dass uns die Erinnerung daran bis zu unserem Ende begleiten wird. Die Sehkraft stärkt sich ab einem Grad der Ermüdung, weil es eben notwendig ist, und die Geschwindigkeit und Ausdauer des Körpers steigen bis zu jenem Zustand, der autochthon zu nennen ist, während uns nur mehr die Geräusche und Gerüche unserer Umgebung und unser eigener Herzschlag erreichen. Dann sind wir wir selbst und eben deshalb glücklich und einverstanden mit unserem möglichen Ende, weil wir erkennen, dass alles endlich ist, und gleichzeitig unser Leib uns ein jahrtausendealtes Vertrauen in die Idee der Schöpfung wieder zurückgegeben hat.
Was möchte man nicht alles darum geben, wenn man diese Minuten oder Stunden des Müdewerdens nach vielen Stunden der Bewegung und zugleich dieses Lebens, auf immer in sich bewahren könnte. Es ist, als wenn die Leere uns ausfüllen würde, und wir erkennen, dass keine Kraft der Welt imstande wäre, uns diese Fülle noch jemals zu nehmen.
Das ist der Zustand jenseits der Erschöpfung, ein Delirium, das aus fernen Speichern gespeist wird. Ein Zustand, den jeder Bergsteiger kennt und der dem Einsamen bescheinigt, dass er nicht allein in diesem Kosmos ist.
Ich war allein von Nepal aus über den gut fünftausendsiebenhundert Meter hohen Nangpa La in das verbotene Tibet gegangen und in die früh einsetzenden Winterstürme geraten. Diese Winterstürme, die mit dem die Erde umspannenden Windsystem des Jetstreams zusammenhängen, haben ihren Ausgangspunkt in Sibirien und brechen sich etwa ab Mitte Oktober an der gewaltigen Mauer des Himalaya. Der mit dem eiskalten Wind einhergehende Temperaturwechsel hatte einen Bruchharsch auf dem Gletscher bewirkt, was mich nun bis über die Knie mit meiner schweren Last einbrechen ließ. Ich hatte drei Wochen lang kein lebendes Wesen mehr gesehen, außer einem Raben, der mich an den ersten zehn Tagen begleitete, und als ich nun mit gebücktem Kopf langsam gegen den Sturm in Richtung Passhöhe stieg, sah ich auf einmal in etwa zweihundert Metern seitlicher Entfernung eine Yak-Karawane mir entgegenkommen. Die Yaks wechselten sich im Spuren ab, indem der jeweils erste mit seinen Vorderbeinen in die Höhe stieg und sich dann mit seinem mächtigen Oberkörper wie ein Eisbrecher in den Schnee fallen ließ. Zwei Frauen und ein Mann begleiteten die Karawane, die aus etwa dreißig schwer beladenen Tieren bestand.
Wahrscheinlich hatten sie von Tibet das begehrte Salz der Inlandsseen, übrig geblieben aus der Auffaltung der Hochebene durch den Schub des indischen Subkontinents vor hundert Millionen Jahren, also frühes Meeressalz, nach Nepal gebracht. Nun, auf dem Rückweg, befanden sich in ihren Lasten Leder, und vielleicht Armbanduhren und Edelsteine aus Bangkok, von Händlern aus Manang nach Nepal gebracht, und in ihrem Anhang Yakkälber. Sie waren in diesem Schneefegen wie ein Bild aus einer anderen Welt, und ich blieb stehen, und auch sie mussten mich wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt wahrgenommen haben, denn ohne dass ich ein Kommando vernommen hätte, blieben alle, die Tiere und die Yaktreiber, mit einem Schlag wie festgewurzelt stehen.
Der Nangpa La, ein Pass im Westen des Cho Oyu, dient seit alters her als Verbindung zwischen Tibet und Nepal. Im Hintergrund erhebt sich der Lunag Ri.
Ich stützte mich auf meine Skistöcke und verschnaufte und starrte hinüber, und sie starrten stumm zurück. Sie würden in wenigen Stunden in Sicherheit und in den grasigen Tälern von Tibet sein, aber auf mich wartete noch der fast sechstausend Meter hohe Pass, und zwei Tage später noch ein Pass, bevor ich auf der nepalesischen Seite wieder die erste Alm mit Menschen erreichen würde.
Der Gedanke daran, in der Sicherheit dieser Karawane in die nächste tibetische Siedlung, nämlich Tingri, absteigen zu können, war dermaßen verlockend, dass ich noch einige Minuten stehen blieb und beim Hinüberstarren das Gefühl hatte, als warteten sie nur auf ein Zeichen von mir, um mir zu helfen. Dann fiel mir ein, dass ich mich in Tingri, verdächtigt als Spion, wohl kaum vor dem chinesischen Militär verstecken konnte und dass ich mit Sicherheit im Gefängnis landen würde.
In diesem Moment tat ich den nächsten Schritt, und wieder setzte sich fast zugleich die Karawane in Bewegung, ohne dass ich ein Kommando vernommen hätte. Die Karawane zog weiter und blickte nicht mehr zu mir herüber, während ich mir mühsam Schritt für Schritt den Weg durch den Bruchharsch zurück in das sichere Nepal bahnte.
An diesem Tag war ich wieder fast achtzehn Stunden unterwegs und mein Zustand zugleich entspannt und auf das Äußerste aufmerksam, als ich bei einer Rast, die mich auf einem Stein mit meiner Last verweilen ließ, zu meiner Linken einen großen, etwa dreieinhalb Meter hohen Bären an einer Felswand kratzen sah. Es war bereits dunkel, aber das Streiflicht des Halbmondes gerade stark genug, um den Bären in aller Klarheit erkennen zu können. Ich dachte nicht an den sagenumwobenen Yeti, denn der Bär war ja hier, gegenständlich hier. Ich dachte an überhaupt nichts und sah dem aufgerichteten Tier eine Weile beim Kratzen zu. Dann wollte ich wissen, ob der Bär echt war. So stand ich auf und näherte mich der riesigen Kreatur ohne jede Angst. (Jahre später erst fiel mir ein, dass dieses Tier keinen Geruch ausgeströmt hatte. Auch hatte es beim Kratzen kein Geräusch von sich gegeben. Das hätte mir auffallen müssen, denn nach dieser so langen Zeit fern von jedem Lebewesen war mein Geruchssinn dermaßen geschärft, dass mir schien, ich könnte meine Umgebung einzig und allein nur durch die Nase wahrnehmen. Doch das alles hier hatte mit bewusstem Erkennen rein gar nichts zu tun.) Ich ging also die wenigen Schritte weiter und berührte den Bären – und im gleichen Moment war er nicht mehr da. Ich begriff, dass ich einer Halluzination aufgesessen war.
Oder aber war der Bär mein Schutztier gewesen, wie es die amerikanischen Ureinwohner kennen, und hatte er mich vor einer Gefahr warnen wollen, die vor mir lag? War er nur eine Verkörperung, eine Versinnbildlichung von körperlosen, schutzhaften Wesen gewesen, wie sie der Glaube an Mohammed oder Jesus oder Buddha im Laufe von jahrtausendealten Erinnerungen in uns wachrief? Vielleicht noch früher angelegt, viel früher, vor allen diesen Propheten, die schlussendlich nur durch die Reflexion der Menschen zustande gekommen waren und durch ihre ewige Sehnsucht nach Erlösung? Was waren schon zweitausend oder zweitausendfünfhundert Jahre in diesem Urgebirge, nicht überlagert und in Besitz genommen von den Dogmen angsterzeugender Religionen? Hier gab es keine Zeit. Hier regelte sich alles von selbst. Als wirkte ein Urgrund von einer Idee eines Menschen, der sich nicht in Jahren bestimmen und abschließen lässt. Denn was bedeutete es, wenn der Mensch aufgrund von Zufälligkeiten, etwa durch ein Karzinom bedingt, nur fünf Jahre alt oder hundert werden sollte, wo doch die Zeit so relativ ist? Was hatte der Wiener Kinderarzt Hans Asperger uns alles mitteilen wollen, als er im Jahre 1969 einen Text in der Wiener Klinischen Wochenschrift veröffentlicht hatte, mit dem Titel „Frühe seelische Vollendung todgeweihter Kinder“, der von Kindern handelte, die ihrem eigenen Lebensalter, ja der eigenen Zeit weit voraus waren, als sie starben?
Hier, in dieser Landschaft, herrschten die Bestimmungen der Zeitlosigkeit. Und die der grenzenlosen Hoffnung und unerbittlichen Freiheit. Ihr alle, liebe Bergsteiger, kennt dieses Gefühl des Urvertrauens, frei von anerzogener Strenge und Intellektualität.
Ohne jede emotionale Reaktion wandte ich mich ab und meinem Weiterweg zu. Ich ging aus dieser vom Halbmond erhellten Szenerie in die endgültige Nacht hinein und erreichte gegen Morgengrauen einen Ort, der auf der Karte als Lunag bezeichnet war. Der Ort bestand aus zwei winzigen, eingefallenen Almhütten und lag am östlichen Rand des Lunag-Gletschers auf einer Höhe von etwas mehr als fünftausend Metern. Die Stille der Landschaft war nur durch das ferne Krachen von Eislawinen unterbrochen. Ich kletterte auf einen etwa zehn Meter hohen Felsen und schlief auf seinem flachen Gipfel für einige wenige Stunden. So hatte ich es auch auf dem Herweg gehalten, wo auch immer die Möglichkeit dafür bestanden hatte. Denn es gab hier manchmal Räuber, so hatte ich mir erzählen lassen, und ich wollte ihnen nicht in die Hände fallen.
Ein Jahr später berichtete man mir in Kathmandu, dass Monate danach ein Franzose meinem Weg gefolgt war. Er war nicht wiedergekommen. Man fand schließlich nur mehr seinen kopflosen Körper, was auf einen Überfall durch tibetische Räuber schließen ließ. (Tibetische Räuber pflegen die Köpfe ihrer Opfer zu vergraben, denn nach ihrer Überzeugung verrät die Richtung der Augen den Wohnort der Täter.)
Ich brach wieder auf und marschierte nach einigen Stunden wieder in die beginnende Nacht hinein, denn ich musste jetzt vorwärts kommen, weil ich mir in meinem geschwächten Zustand keine zusätzlichen Risiken wie etwa einen Wettersturz mehr erlauben durfte. Ich hatte schon am Tag vorher begonnen, Ausrüstungsgegenstände, die ich nun nicht mehr benötigte, zurückzulassen, um meine Last zu erleichtern. Und so folgten jetzt, besonders bei Gegenanstiegen, erst die Zeltstangen, dann die Steigeisen, die beiden Eispickel, die Reservekartuschen. Ich warf sie einfach zur Seite, fast während des Gehens, wie lästig gewordene Anhängsel.
Wieder war es fast Mitternacht, als ich am Rande einer fast senkrechten, etwa hundert Meter hohen Moräne ankam. Die Batterien meiner Stirnlampe waren leer, und ich wollte die Tiefe der Moräne auskundschaften, indem ich mehrfach Streichhölzer anzündete und sie ins Leere warf. Doch sie verloschen allesamt nach kürzester Zeit und erleuchteten die dunkle Unendlichkeit unter mir kein bisschen.
So ist das menschliche Dasein, dachte ich mir: Man kann nicht anders, als einen Stein in den Nebel zu werfen, und kann nicht anders, als ihm zu folgen. (Neurologen würden das vermutlich, wenig romantisch, als Aufforderungshaltung des Großhirns erklären.)
Ich kletterte über die Moräne nach unten, und wirklich war sie sehr steil, ja fast senkrecht. Ich hielt mich an größeren Felsbrocken, die mir vertrauensvoll erschienen, und lauschte bang den kleineren Steinen, die ich durch meine Bewegungen losgelöst hatte, wie sie in weiten Sprüngen nach unten fielen. Der Wind trug den Schwefelgeruch ihres Aufschlags zu mir herauf. Nach einiger Zeit der völligen Konzentration hatte ich den Fuß der Moräne erreicht und damit den sicheren Boden des Toteisgletschers. Dann ging ich in den beginnenden Morgen hinein und rastete nur einmal auf einem Stein, während sich die hinter mir liegende Moräne langsam aus dem Grau löste. Ich staunte. Die Moräne sah von hier aus, bedingt durch die Entfernung und die sich daraus ergebende Perspektive, wirklich beinahe senkrecht aus. Es erschien mir wie ein Wunder, dass ich sie ohne jedes Licht bewältigt hatte. Ich war also nun in Sicherheit und dachte nur noch einmal an den Bären, an meinen sehr persönlichen Bären, und was wohl seine Warnung gewesen war. Dann wandte ich mich wieder um. Und plötzlich, am Ende des Gletschers, sah ich das, was ich wie eine Erlösung empfand. Hier hatten mich vor vier Wochen meine vier Träger aus dem Rolwaling aus Angst verlassen, aus durchaus berechtigter Angst vor mir Verrückten, der ich mich auf den Entdeckerspuren von Sven Hedin und Herbert Tichy empfand, wenn auch nicht streng geographisch, doch auf jeden Fall ideell, und ich war mit der verbliebenen Last von neunzig Kilogramm allein weitergezogen, über den gut fünftausendsiebenhundert Meter hohen Nangpa La. (Francek Knez, der berühmte slowenische Bergsteiger, bei dem ich mich im Basislager unter der Südwand des Cho Oyu aufgehalten hatte, hatte irgendetwas wie „heilige Mutter Gottes“ gemurmelt, als er meine Last zu heben versuchte.)
Ich hatte lange Zeit kein Gras mehr gesehen. Aber der Wind, mein vertrauter, ständiger Begleiter, spielte nun mit den dürren Gräsern einer Almwiese, und da und dort lag auch schon ein Flecken Sonne in unerhörter Heiterkeit darin, und ein kleines, bequemes, sicheres Steiglein führte durch das fast ebene Tal hinaus, dorthin, wo die Menschen waren.
Wolfi, der Dhaulagiri und die blauen Bomber
Das Bergsteigen erzählt nicht allein eine Geschichte der Triumphe, wie es manches Mal den Anschein hat, sondern vielleicht mehr noch eine Geschichte des Scheiterns. Es gibt Berge, die sich als Schauplätze des Scheiterns besonders gut eignen, und der Dhaulagiri gehört zweifelsohne dazu, weil sich durch seine schiere Größe, Höhe und Exponiertheit jede aufziehende Schlechtwetterfront an seinen riesigen Wänden bricht. Ausgerechnet dorthin wollten wir, um unser Mütchen zu kühlen.
Weil die meisten von uns mittellos waren, wie damals und auch heute noch fast alle Bergsteiger, nahmen wir gern Hilfe von außen in Anspruch. Zur finanziellen Unterstützung durch einen Pharmakonzern, der Hausmann & Boche oder so ähnlich hieß, mussten wir uns allerdings verpflichten, ein neuartiges Schlafmittel auszuprobieren, das damals noch nicht auf dem Markt war. Wir willigten ein, teilten uns brüderlich die zwanzigtausend Schweizer Franken und fuhren los. Der durchschlagenden Wirkung wegen und aufgrund der Form und Farbe dieser Tabletten sollten wir das Schlafmittel wenig später „den blauen Bomber“ nennen.
Voller Vorfreude auf unser Abenteuer, aber des langen Fluges wegen ziemlich übermüdet in Kathmandu gelandet, tranken wir auf meinem Hotelzimmer noch einen Whisky, um mit dem darauf folgenden Nachmittagsschläfchen dem Jetlag den Garaus zu machen. So saßen wir zu dritt, Wolfi und ein anderer Expeditionsteilnehmer und ich, und prosteten uns fröhlich zu.
Ich habe schon immer eine gewisse Schwäche für medizinische Selbstversuche gehabt und fand es deshalb eine gute Idee, den bislang unerprobten blauen Bomber gleich hier und jetzt, in der Sicherheit des Hotelzimmers, zu verkosten. Flugs war die ansehnliche blaue Pille mit einem Schluck Whisky hinuntergespült. Wenig später wurden die Gespräche auffallend philosophisch. Der Expeditionskamerad stellte eine komplexe Frage und Wolfi hörte schweigend zu. Meine Antwort war in einem solchen Maße verdichtet und intelligent und umfassend, dass ich noch heute überzeugt bin, den bedeutendsten Satz meines Lebens von mir gegeben zu haben. Wolfi blickte mich verständnislos an (und ebenso der andere Kamerad), rang sich jedoch zur Feststellung durch: „Das habe ich jetzt nicht verstanden!“
Ich übte mich in Geduld.
„Schau“, sagte ich, „das ist doch einfach und so kristallklar.“ Dann versuchte ich die Antwort zu wiederholen, merkte aber dieses Mal am Ende des Satzes, dass die kristallene Klarheit in meinem Gehirn nicht mehr bis zur Zunge gelangt war. Irgendetwas war hier auf einmal nicht mehr koordiniert. Dann weiß ich von nichts mehr. Meine Kameraden erzählten mir, ich sei im gleichen Moment mit dem Stuhl umgefallen und auf der Stelle eingeschlafen, worauf sie mich zu Bett brachten und zudeckten. Das war der Auftakt unserer medizinischen Forschungsfahrt zum Dhaulagiri.
Damals begann der Anmarsch zum Berg in Pokhara, weil es ja noch keine Straße ins Khali Gandaki gab. Wir campierten also auf dem Fußballplatz von Pokhara und sortierten den ganzen Nachmittag unsere Ausrüstung. Eine Menge Einheimischer stand an einem Zaun und beobachtete neugierig unser Tun.
Ein halbes Jahr vorher hatten mich hier nächtens einige Räuber überfallen. Sie hatten mit einem Messer ein Loch in meine Zeltwand geschnitten und meinen Rucksack hinausgezogen. Bis ich begriff, was mir geschehen war, und ich durch den Eingang des Zeltes nach draußen geschlüpft war, hörte ich nur mehr das Patschen von Füßen, das sich im strömenden Regen verlor.
Im Rucksack waren alle meine Besitztümer gewesen und auch das gesamte Geld, das für die Träger bestimmt war. In diesen Monaten hatte es mehrere solche Vorfälle und auch noch weit tragischere Vorkommnisse gegeben, und ich nahm mir vor, dieses Mal mehr Vorsicht walten zu lassen und nach verdächtigen Gestalten Ausschau zu halten. Tatsächlich waren da drei verwegene Typen, die uns schon seit Stunden, hinter einem Steinmäuerchen stehend, aufmerksam beobachteten. Genauso musste es vor gut sechs Monaten gewesen sein, als sie den Expeditionsleiter, also mich, ausgekundschaftet hatten, denn damals waren zwar alle unsere Zelte aufgeschnitten worden, aber nur meinen Rucksack hatte man gestohlen.
So schlich ich mich, nicht ohne freudige Erwartung der Bosheit im Herzen, im weiten Bogen von hinten an sie heran. Sie unterhielten sich halblaut und bemerkten mich nicht. Sie standen mit dem Rücken zu mir und eng genug beieinander, dass ich mit dem lauten Ruf „Hab ich euch endlich erwischt, ihr Spitzbuben!“ die äußeren beiden beim Genick packte und sie mit dem dritten in der Mitte an den Köpfen zusammenstieß. Eine solche Kommunikation muss, um Erfolg zu haben, immer im Dialekt des Angreifers stattfinden, in diesem Falle eben Tirolerisch, und ich sah zufrieden zu, wie sie erschrocken hintereinander davonrannten, sich in sicherer Entfernung an einer Hausecke kurz umdrehten, sich die Schläfen massierten und gleich nicht mehr zu sehen waren.
Am nächsten Tag zog unsere Karawane los, und wir erreichten, auf und ab über die Höhenrücken des Kali Gandaki wandernd, nach einigen Tagen Beni, den letzten größeren Ort auf unserem Anmarsch zum Berg. Hier gab es eine Polizeistation und eine Militärkaserne, und wir machten es uns auf der Holzveranda eines Bauernhauses bequem. Ein Gewitter nahte, wie man es nur im Khali Gandaki erleben kann, wo die Tiefebene des subtropischen Terai fast nahtlos in das Hochgebirge der Achttausender übergeht. Entsprechend beeindruckt lauschten wir dem Krachen des Donners und dem minutenlangen Leuchten der Blitze. Bald trommelte der Hagel auf das Schindeldach der Veranda, aber das Prasseln hörte sich weich und vertraut an, und aus unserem Weg war ein kleiner, lustiger Bach geworden, in dem die Hagelkörner trieben. Der Wind trug den Duft der frühsommerlichen Felder durch die Räume des Hauses.
Wir verbrachten die Nacht auf Reismatten, und als wir am nächsten Morgen aufwachten, sah ich, wie Wolfi sich verzweifelt in der Bauchgegend kratzte. Auch ich kratzte mich, aber nicht in der Bauchgegend, sondern an Armen und Beinen, den bevorzugten Jagdgründen der Flöhe, und da wusste ich, dass Wolfi sich aus den Reismatten wieder einmal die Wanzen geholt hatte (die als Jagdgründe den Bauchgürtel bevorzugen) und ich eben die Flöhe. So wie in früheren Jahren. Aus unerklärlichen Gründen hatte Wolfi bei solchen Gelegenheiten immer die Wanzen und ich die Flöhe. Wir würden die Viecher erst auf fünftausend Metern wieder loswerden, wegen des Sauerstoffmangels.
Wir wanderten weiter taleinwärts. Untertags ließen uns die Viecher in Ruhe, denn schließlich mussten auch sie einmal schlafen. Wir unsererseits summten vor jedem Schlafengehen nun einige Takte von Jacques Offenbachs Cancan, denn wir wussten, dass die Wanzen und Flöhe in Erwartung der kommenden Freuden in unseren Schlafsäcken Cancan tanzen würden. Doch wir wussten auch, dass ihre Freuden nicht ewig dauern würden, denn in etwa zehn Tagen hätten wir die Höhe von fünftausend Metern erreicht, dann wäre Schluss mit Cancan. Denn haben Sie, verehrte Leserinnen und Leser, schon einmal eine Wanze mit Sauerstoffgerät gesehen? Außerdem warfen wir uns jetzt vertrauensvoll vor dem Schlafengehen einen blauen Bomber ein. Die Wirkung war vorzüglich und ohne erkennbare Nebenwirkungen.
Es muss vor Dharapani gewesen sein, als wir das tief eingeschnittene Flusstal des Myagdi steil aufwärts verließen und ebenso ansteigend taleinwärts stiegen. Hier nun kamen wir zu einer Passage, die das Abenteuerlichste war, was ich jemals im Anstieg zu einem Dorf erlebte: Mitten in den steilen, um nicht zu sagen fast senkrechten Graswänden war eine Felswand, in deren Risse und Spalten die Einheimischen Holzknüttel und Äste getrieben hatten. Auf diese Äste hatte man Bretter und Kanthölzer von etwa zwanzig Zentimeter Breite gelegt, und das war der Zugangsweg zum nächsten Dorf.
Schurli, unser Expeditionsarzt, war damals schon sechsundfünfzig Jahre alt. Sein schneeweißes Haar ließ ihn uns jungen Recken noch älter erscheinen, die Sherpas nannten ihn liebevoll und unter Gelächter Baci, den Großvater, und er war zu allem Überfluss nicht schwindelfrei. Es half ihm nicht sehr, dass einige aus der Gruppe ihn hier nun unter Zurufen von Scherzworten und Gelächter beobachteten, wie er unter Todesangst und ohne in die fast senkrechten, Hunderte Meter abfallenden Wände hinunterzuschauen, sich über die leicht schwankenden Kanthölzer bewegte. Aber er schaffte es bravourös, und danach ging es über steile Berghänge hinauf, entlang von verkohlten Wiesen und Sträuchern. Unsere Sherpas erzählten uns, dass hier vor einigen Tagen eine fünfköpfige Familie bei einer Brandrodung vom Feuer eingeschlossen worden und in den Flammen gestorben war. Schließlich fand einer unserer Vorausgehenden noch zwei oder drei Köpfe der Familienmitglieder, und Wolfi und ich machten einen Umweg, um uns selbst den Anblick zu ersparen.
Schließlich erreichten wir das Dorf, und die Zelte wurden aufgeschlagen. Auf unseren armen Doktor, der eben den Horror vom Klettern an Kanthölzern über einem senkrechten Abbruch überstanden hatte, wartete schon eine lange Schlange von Kranken, die teilweise in tagelangen Märschen hierhergekommen waren, in der Hoffnung auf Heilung. Schurli war todmüde und selbst schon dem Einschlafen nahe, aber ohne Murren begann er unverzüglich mit den Behandlungen, begleitet vom Gezirpe der Grillen und dem Murmeln des Baches. Es waren die üblichen Magen- und Knie- und Tonsillitisgeschichten, und das Vorzimmer seiner Praxis begann sich zunehmend zu leeren. Weit hinten stand aber noch bescheiden und still ein alter, offensichtlich blinder Mann, gestützt von seinen beiden Enkelinnen. Als er endlich an die Reihe kam, bat ihn Schurli mithilfe eines übersetzenden Sherpas, sich auf die Isoliermatte vor seinem Zelt zu legen. Der alte Mann folgte seinen Anweisungen, legte den Kopf auf einen kleinen Polster und war im gleichen Moment vertrauensvoll eingeschlafen. (Man erzählte uns, dass er drei Tage lang mithilfe seiner Enkelinnen marschiert war, um den rettenden Doktor zu erreichen.) Die Augenhöhlen des alten Mannes sahen schrecklich aus, und Eiter und Blut liefen aus seinen Augenwinkeln. Schurli untersuchte ihn, dann drehte er sich zu mir und sagte leise, mit tiefem Bedauern in seiner Stimme: „Ich kann ihm nicht mehr helfen. Eine … Fliege. Kein Arzt der Welt kann ihm mehr helfen. Er wird blind bleiben.“
Als der letzte Kranke den Platz verlassen hatte, ging ich zu Wolfi in ein nahe gelegenes Bauernhaus hinauf, und wir beschlossen, die kommende Nacht abermals auf der Terrasse des Hauses auf Reismatten zu verbringen. Denn Flöhe und Wanzen hatten wir ohnehin schon ausgefasst. Als nach dem Abendessen das letzte Licht an den Vorgipfeln des Dhaulagiri verschwunden war, summten wir vergnügt den Cancan, genehmigten uns vor dem Eintreffen unserer Quälgeister einen blauen Bomber und spülten ihn mit Whisky hinunter. Wir schliefen vorzüglich und ohne Nebenwirkungen, doch am nächsten Morgen stellten wir fest, dass auch unsere kleinen Mitbewohner Gefallen am Geschmack von Whisky gefunden haben mussten, denn besonders Wolfis Bauch war noch geröteter und zerstochener als in den Tagen vorher. Anderntags stiegen wir das Myagdi Khola weiter hinauf und hinein und erreichten schließlich das Basislager des Dhaulagiri. Wir waren von Phokara bis hierher dreizehn Tage unterwegs gewesen.