Loe raamatut: «Drei Lebende, drei Tote», lehekülg 2

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3.
Die Metaphysik der nichtalltäglichen Dinge

Sie

»Hallo? Signora Pacini?«

Es war die Rektorin des Gymnasiums, an dem ihr Mann unterrichtete. Dieser verhalte sich heute Morgen sonderbar, zuerst habe er eine absurde Diskussion mit einem Kollegen losgetreten, dann habe er Pulte und Stühle vor die Tür geschoben und sich so in einem Klassenzimmer verbarrikadiert, um sich schließlich aus dem Fenster zu lehnen und dem Hausmeister lauthals zuzurufen, jemand sei ihm auf den Fersen, verstecke sich in böser Absicht im Korridor und wolle ihm etwas antun, er solle um Himmels willen zu Hilfe eilen, ihn nicht allein lassen.

»Ich weiß nicht, was mit ihm los ist«, sagte Aurora. »Er hat sich schon heute früh merkwürdig benommen.«

»Vielleicht sollte er sich ein wenig ausruhen. Jetzt geht es ihm besser, wir messen gerade den Blutdruck.«

Aurora dankte und legte wieder auf. Sie ging ins Wohnzimmer, blieb vor dem Fenster stehen und fixierte den kahlen Ast des Zürgelbaums, der fast ins Zimmer hineinwuchs – in windigen Nächten hatte man das Gefühl, jemand klopfe mit den Knöcheln gegen die Scheibe. Früher oder später würden sie ihn absägen lassen müssen. Sie schaute sich um und versuchte sich zu erinnern, wieso sie eigentlich in dieses Zimmer gekommen war.

Montags kam sie selbst dann, wenn sie genug geschlafen hatte und klar vor sich sah, was sie erwartete, in ihrem übergroßen, mit schwarzer Spitze besetzten Baumwollmorgenrock nur schleppend in die Gänge. Sie musste eine Stunde später als Modesto los. Ihre Schule war zwei Häuserblocks entfernt: fünf Minuten zu Fuß.

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. Zog die verspiegelte Schranktür heran und wickelte ihr zerzaustes Haar beiläufig zu einem Knoten, als hätte sie im Vorbeigehen rasch einen Blick auf sich geworfen. Dann zog sie sich an.

Im Flur kam sie am Wandbord mit dem Messer, dem Telefon und einem Foto vorbei. Sie schlüpfte in den Mantel und drückte von außen noch kurz gegen die Tür, um sich zu vergewissern, dass sie ins Schloss gefallen war.

Dann trabte sie los, zügiger, als sie es später ihrem Mann schildern würde, und traf in unbestimmter Reihenfolge an: eine Katze, die an einem Gully herumschnüffelte, den Barista, der sie durch die Glasscheibe grüßte, eine Straßenbahn, die um die Ecke bog und ihr gerade genügend Zeit ließ zu entscheiden, ob sie sich davorwerfen oder vernünftigerweise doch die Durchfahrt abwarten und unterdessen vielleicht die Schlagzeilen der Zeitungen vor dem Tabakladen lesen sollte. Sie tat weder das eine noch das andere, taumelte vielmehr, auf einmal von einem solchen Unwohlsein befallen, dass sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, zur nächsten Hauswand, ließ sich mit dem Rücken dagegensinken und schloss die Augen. Der Haarknoten wurde auf dem rauen, gelblichen Verputz platt gedrückt, die losen Strähnen an ihren Schläfen vom Wind zerzaust.

Später, als sie und Modesto wie jeden Montag vor dem Betreten des Kinos geröstete Kastanien knabberten, beschrieb sie den Vorfall so:

»Ich habe die Augen zugemacht und plötzlich Bilder aus meiner Kindheit gesehen, in einer eigenartigen Distanz, weder nah noch fern.«

»Hmm«, sagte er.

Sie sah ihren Mann an. »Du weißt doch, was ein Stereoskop ist?«

Er stierte vor sich auf die Straße. »Im Moment weiß ich gar nichts.«

»Ach, wenn du nicht gut drauf bist«, fuhr sie ihn an, »kann man sich das Reden auch sparen.«

Er wurde noch nachdenklicher. »Stereoskop hast du gesagt …«

Offenbar hatte Aurora drei Bilder gesehen: ein Schaufenster mit wundersamen Geschenkartikeln in Forte dei Marmi, wo sie mit ihrer Familie einmal den Sommer verbracht hatte; ihre Mutter mit rotem Samthut, wie sie ihr Handtäschchen öffnet und sich mit dem Ringfinger die Augenbrauen glatt streicht; das Auf und Ab eines auf sie zukommenden Rössleins, das sich um die glänzende Metallachse eines Karussells dreht.

Danach hatte sie langsam die Augen geöffnet. Ein Mann im Regenmantel beugte sich über sie. Sie sah ihn wie durch ein umgedrehtes Fernglas, verkleinert, Lichtjahre entfernt. »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte er. Ein paar Passanten hielten auf ihrer Höhe kurz inne, beobachteten die Szene, gingen weiter. »Es ist nichts, nichts«, sagte sie verwirrt und stand erhitzt auf.

Wieder kam eine Straßenbahn um die Ecke. Ohne auf den Mann im Regenmantel oder die Ampel zu achten, überquerte Aurora die Straße. Dann folgte sie dem Boulevard bis zu einem kleinen Platz, trat vor ein Gebäude und ließ sich mit dem ganzen Körper gegen das Portal der Schule fallen.

Bevor sie es weit aufstieß, bevor sie abwesend die Hausmeisterin grüßte, den Kopf senkte, weil sie am Ende des Korridors den Rektor erblickte, hatte sie das Gefühl, sie hätte sich so weit von sich selbst entfernt, dass sie den Rückweg nicht mehr wiederfinden würde. Sie verschwieg ihrem Mann, dass ihr nach einigem Überlegen klar geworden war, für zwei gedacht zu haben, die doppelte Menge an Sauerstoff eingeatmet, die Dinge aus mehreren Winkeln betrachtet zu haben, und es hätte sie einen großen Umweg gekostet, wieder zu einer einzigen Person zu werden, die auch gar nicht unbedingt die gleiche gewesen wäre wie zuvor.

Vor der geschlossenen Tür des Klassenzimmers blieb sie stehen, atmete tief ein und löste mit einer raschen Handbewegung den Knoten (das Haar fiel in einem Schwung auf die Schultern herab, wirkte viel schwerer, als es eigentlich war). Dann kramte sie in der Tasche, griff nach einem zylinderförmigen silbernen Gegenstand, drehte sich um und machte zwei Schritte zum Fenster.

Den Blick auf ihr im Glas gespiegeltes, vom Bild des kleinen Parks dahinter überlagertes Gesicht gerichtet, ging sie mit dem Kopf immer näher, bis sie die Oberfläche fast berührte, und in dieser Position trug sie, nach vielen Jahren wieder einmal, reglos und konzentriert Lippenstift auf.

Er

Um sich einen Weg ins Herz seiner Kollegen zu bahnen, versuchte er es manchmal mit einem Witz. Meist stieß er dabei gegen Mauern des Schweigens oder im besten Fall auf die angelehnte Pforte eines Lächelns, unklar, ob zufällig geschehen oder aus christlicher Nächstenliebe. Wenn doch einmal jemand lachen musste, dann weniger über den Witz als über ihn, Modesto. Und ihm war völlig klar, dass er sich nirgendwohin einen Weg gebahnt hatte. Zwar ließ das Lächeln die Pforte aufgehen, erlaubte ihm sogar, sich dem Haus zu nähern, doch die Tür blieb versperrt, und das Fenster in der Fassade warf nur das ihm schon bekannte Bild von sich selbst mit dem tristen Tag im Hintergrund zurück.

Unter der glänzenden Weltkarte, die im Lehrerzimmer fast die ganze Wand bedeckte, versuchte er es an diesem Morgen auf einem anderen Weg. Sein Kopf war eine Enklave in der Tasmanischen See, jener des Mathematiklehrers versteckte einen Teil der Sandwichinseln.

Modesto sah zuerst zu seinem Kollegen, Beine übergeschlagen, ein halbes Lächeln (in der anderen Mundhälfte steckte eine Zigarette), dann hob er den Blick auf Indien, auf das dominante Blau der Meere und Ozeane, und sagte: »Mir will einfach nicht mehr einfallen, wo es dieses Sprichwort gibt, das besagt, Indien sei größer als die ganze Welt.«

»Tja, was soll ich sagen?«, bemerkte der Kollege und rückte auf dem Stuhl weiter nach vorne. Die Spitze seiner Zigarette tangierte die Bouvetinsel (darunter in Klammern der Hinweis Norwegen). »Arme Ignoranten sind das.«

»Finde ich nicht.«

»Natürlich sind sie das.«

»Oder bist am Ende du«, Modesto legte eine Pause ein, »ein armer Ignorant?«

Der Kollege legte die Zigarette in einer Rille des Aschenbechers ab, krempelte die Hemdsärmel hoch und klatschte Beifall. Dann sagte er übertrieben deutlich: »Wie geist-reich.«

»Danke«, lächelte Modesto.

»Noch viel geistreicher bist du aber, wenn du Witze erzählst.«

»Dabei hast du noch nie gelacht.«

Der Kollege breitete die Arme aus, brachte mit der rechten Hand wie ein Magier die Falklandinseln zum Verschwinden. »Wie auch, wenn sie nicht lustig sind …«

»Möchtest du einen hören?«. Modesto zwinkerte ihm zu.

»Ich höre.«

»Er handelt von einem Mathematiklehrer, der … öh … gar nicht mehr zählen kann, wie viele Hörner ihm seine Frau aufgesetzt hat.«

Eine Sekunde lang war es still.

»Weißt du, was ich dir sage?« Der Kollege streckte sich in die Höhe und ragte nun vor dem Südatlantik empor.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Modesto in der Aussparung der Großen Australischen Bucht.

Der andere schaute sich angespannt um und setzte gerade zu einer Antwort an, als die Glocke ertönte, gefolgt von den Schritten und dem Geplauder einiger Kollegen, die fast schon bei der Tür waren.

»Ich sage es dir ein andermal.«

»Mein Schicksal in Ihro Ehrwürden Hand!« Modesto sah auf die Uhr und stand auf. »Ich muss zum Unterricht. Bis später.«

Während er durch den Korridor ging, stellte er sich belustigt das Gesicht vor, das sein Kollege gemacht haben musste, als er diesen Satz ausgesprochen hatte und rausgegangen war.

Später, auf dem Weg ins Kino, würde er Aurora davon berichten: »Willst du was Lustiges hören?« Noch vor dem Erzählen würde er lachen, während sie stumm bleiben und die Leuchtreklamen betrachten würde. »Ich habe es endlich geschafft: Seit Jahren schon wollte ich jemandem mit dem Satz ›Mein Schicksal in Ihro Ehrwürden Hand!‹ eine Lektion erteilen.« Aurora würde mit abwesendem Blick nachsagen: »Mein Schicksal in Ihro Ehrwürden Hand, mein Schicksal in Ihro Ehrwürden Hand.« Beim Überqueren der Straße würde eine Limousine an ihnen vorbeirasen. »Aurora, hörst du mir eigentlich zu?«

Das Klassenzimmer betrat er jedoch voller Panik. Vielleicht rührte es vom Blutdruck her, wie öfter schon, oder es steckte immer noch dieser Brief, die Beleidigung dahinter, die ihm, sobald er die Tür des Klassenzimmers siegreich aufgestoßen hatte, auf der Schwelle aufgelauert war und ihm rasch die Illusion geraubt hatte, jedes Wort gelte gleich viel, eine dürftige Revanche vermöge eine große Niederlage wegzufegen. Diesbezüglich würde er Aurora gegenüber kein Wort verlieren.

Er setzte sich ans Lehrerpult und hob den Blick. Sein Gesicht war im Dreiviertelprofil dem Fenster zugewandt, als ein Kügelchen aus eingespeicheltem Papier an seiner Wange kleben blieb.

»Leopardenmusterförmig brach Gelächter aus«, würde er Aurora erzählen. »Ich konnte mich nicht beherrschen, sprang auf wie eine Furie, drauf und dran, mich auf sie zu stürzen und sie reihum windelweich zu schlagen.« – »Oh«, würde sie endlich kommentieren. »Genau so ist es gewesen. Und alle haben mich entgeistert angeguckt.«

Es war nicht genau so gelaufen, zwar sprang er tatsächlich auf, um etwas Unerhörtes, nie Gewagtes zu tun, übersah dabei aber die Stufe vor dem Lehrerpult und fiel auf ziemlich halsbrecherische Weise vornüber, wie jemand, der gerade ins Wasser springen will, es sich im letzten Moment aber doch anders überlegt (die Zirbeldrüse gerät ins Stottern, weil der Geist einen Entschluss zu spät gefasst hat, um den Körper noch benachrichtigen zu können, der seinerseits schon die Ausführung der angewiesenen Bewegung veranlasst hat, den neuen Befehl von oben jedoch weder ignorieren noch so tun kann, als wäre er nicht schon in das Versprechen jener ersten Bewegung verstrickt. So kommt es zwangsläufig zu einem Gliederverrenken, einem Vorwärtsstreben des Körpers, mit den Armen als Vorhut, während der Kopf fluchtbereit auf Flankenhöhe bleibt und die Flanke das ganze Risiko auf sich nimmt und unerhört laut auf die Fliesen kracht).

Immerhin sah der Lehrer sich in der Lage, wieder aufzustehen, Hose und Jacke abzuklopfen und zu sagen: »Schön, wir haben Spaß gehabt. Widmen wir uns nun dem Unterricht.« Er befühlte die Vorderzähne. Zwei davon waren aus Keramik, und er hatte immer Angst, sie zu verlieren.

Ihm war schwindlig, während er die Frühe Neuzeit, die Vorboten der Aufklärung, darzulegen versuchte. Er redete über Galilei und seinen unmöglichen Charakter. Dann wollte er die historischen Auffassungen bezüglich der Position von Erde und Sonne rekapitulieren und nuschelte: »Der Mattelponkt des Oniversums war für Ptalemäus die Erde.«

Er begriff, dass etwas nicht stimmte und dass es nicht unbedingt mit dem unrühmlichen Sturz zusammenhing. »Ontschuldigt«, sagte er mit dünner Stimme und setzte sich hin.

Raunen. Eines der Mädchen aus der ersten Reihe, mit rosigem, nur von einem pickeligen Dreieck zwischen den Augenbrauen unterbrochenem Teint und schon ausgeprägten Brustwölbungen (von Letzteren hatte Modesto sogar schon einmal geträumt: Wie er sie etwas phlegmatisch anfasste, mit beiden Händen kreisförmig massierte), stand auf und fragte mit einem schiefen Lächeln: »Ist Ihnen nicht gut?« Da stand auch er auf und sagte: »Danke, ellas in Ordnung. Ich warde versachen, an die Tefel zu schreiben.« Das Mädchen setzte sich wieder.

Hektisch malte er, das schiefergraue Rechteck hoch überragend, Buchstabe um Buchstabe an die Tafel. Als er fertig zu sein meinte, trat er einen Schritt zurück und besah sein Werk mit dem Blick eines Malers, den Kopf leicht geneigt. Die Schüler besahen es wie Galeristen oder Kunstkritiker, reckten die Hälse, kniffen die Augen zusammen, lasen:

1. Aristorch. Helikozentische Theorie.

2. Teozentrische Theorie. Ptalemäus.

3. Theliozentrische. Koparnikus. Kepler. Galalei.

Einen Moment lang herrschte große Heiterkeit, als hätte jemand ein Gemälde mit dem Titel »Weite Meerlandschaft« angekündigt und stünden die Leute nun vor einem auf marmormierten Untergrund gepinselten Fischlein mit weit aufgerissenen Augen.

Modesto verharrte an Ort und Stelle, ohne den Blick von der Tafel abzuwenden. Schließlich besann er sich, tappte, am Rand des Lehrerpults Halt suchend, vorwärts und verließ den Raum.

4.
Vier Typen ziemlich unsympathischer Männer

Der Hausmeister beziehungsweise jener Typus, dem man tagtäglich auf der Arbeit begegnet

Im Nachhinein betrachtet, hätte er jede Unterhaltung, die er geführt hatte, seit er reden konnte, umschreiben wollen. Er beneidete Männer, die immer eine Antwort oder einen Kalauer parat hatten, im rechten Moment brillierten und sich nicht hinterher das Gehirn über Fragen linguistisch-beziehungstechnischer Natur zermarterten. Fast alle Wortwechsel seines Lebens hätte er geändert, und es war unglaublich, wie wenig ihm dieses Bewusstsein auch bei jenem nützte, der fünf Minuten später folgte.

Der Hausmeister: »Signor Pacini, was soll ich tun, die Tür aufbrechen?«

Er: »Signor Screma, bleiben Sie um Himmels willen, wo Sie sind.« (Da seine innere Grammatik, wohl wie die anderer Leute, keine Höflichkeitsform vorsah, wollte er eigentlich sagen: »Screma oder wie du noch mal heißt, du bist genauso dumm, wie dein Name hässlich ist.«)

Der Hausmeister: »Signor Pacini, es ist niemand da. Sie können rauskommen, wenn Sie möchten.«

Er: »Signor Screma, das glaube ich Ihnen, vielen Dank. Lassen Sie mich einen Augenblick in Frieden?« (Er hätte sagen wollen: »Screma, hau schon ab.«)

Der Hausmeister: »Vielleicht fühlen Sie sich nicht gut, Signor Pacini?«

Er: »Signor Screma, ich fühle mich bestens.«

Der Hausmeister: »Hier ist niemand. Sie können rauskommen, wenn Sie möchten.«

Er: »Signor Screma, zwingen Sie mich bitte nicht, mich zu wiederholen …«

Der Hausmeister (zu jemandem neben ihm, leiser): »Haben Sie gehört? Ich habe es Ihnen gesagt. Es geht ihm überhaupt nicht gut.«

Der Nachbar mit Hund

Als er überstürzt nach Hause zurückkehrte, schnappte auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür ein Möpschen nach seinem Hosenaufschlag und wollte nicht mehr loslassen.

»Ben!«, ertönte es von oben. »Komm her.«

Ein schmächtiger Mann mit gebeugtem Rücken und lebhaften Äuglein kam, auf einen Stock gestützt, die Treppe herunter.

»Ein richtiger Schelm, der kleine Ben«, sagte Modesto, ohne damit aufzuhören, sein Bein zu schütteln. (Er hätte »Was für ein hässlicher, einfältiger Köter, dein Ben« sagen und ihm einen Tritt irgendwo auf halber Strecke zwischen Spaß und Pädagogik verpassen wollen.)

»Verzeihung«, sagte der Mann, sobald er den Treppenabsatz erreicht hatte. »Wir sind zwei an Einsamkeit gewöhnte Wesen und haben vergessen, wie man sich anderen gegenüber verhält.«

Er war einst für Mussolinis Geheimpolizei OVRA als Informant tätig gewesen und schon als Zwanzigjähriger mit diesem Stock herumgelaufen, der in Wirklichkeit ein verkappter Stoßdegen war, Gerüchten zufolge hatte er mit der scharfen, schmalen Dreikantklinge mehr als nur ein Auge ausgestochen.

»Uns bleibt nur noch«, fuhr der Mann fort, »im Rivoire in einer Ecke mit Blick auf die Piazza von allen unbehelligt La Nazione zu lesen.«

»Stimmt, die nennt sich jetzt wieder La Nazione«, bemerkte Modesto und konnte sich endlich von Bens Schnauze befreien.

Er zog die Schlüssel aus der Tasche und sagte, bevor der Mann mit dem Stock dem Hund weiter treppab folgte:

»Eine kleine Frage nur, was haben Sie in der Zeit gemacht, als«, er räusperte sich, »La Nazione eingestellt war?« (Sieh an, diesmal war es ihm gelungen, das zu sagen, was er sagen wollte.)

Der Mann drehte den Oberkörper, schaute ihn an, hob den Arm und richtete triumphierend den Stock auf seine Brust, als wollte er mit dem Finger auf ihn zeigen: »Der da!«. Er verharrte eine Sekunde in dieser Position, sagte dann: »Und Sie, Signor Pacini? Was haben Sie damals gemacht?«

»Dieser Mensch bringt Unheil und bewahrt zu Hause ein Glas mit den Augen aller Kommunisten auf, die er umgebracht hat«, hatte Aurora einmal gesagt. »Der Barista von gegenüber hat es mir erzählt.« Sie war ihm und seinem Hund ein paar Tage zuvor abends auf dem dunklen Treppenabsatz begegnet und vor allem über das metallische Klacken des Stocks auf dem Steinfußboden erschrocken. Modesto hatte gelächelt. »Vielleicht, weil er nie in seine Bar kommt. Er geht lieber in die auf der Piazza.« Aurora war nachdenklich geworden. »Meinst du?«

Im Begriff, aufzuschließen, der Schlüssel steckte schon, hielt Modesto vor der Tür inne, verlagerte nur das Gewicht vom einen Bein aufs andere, weil die Seite, auf die er gestürzt war, langsam zu schmerzen anfing. In diesem Augenblick drang vom Erdgeschoss her das schwache Bellen des Mopses zu ihnen. Der Mann senkte den Stock, wandte sich von seinem Nachbarn ab und setzte ohne Abschiedsgruß seinen Weg treppabwärts fort.

Ein Abwesender, der immer dazwischenfunkt

Modesto ging schnurstracks ins Arbeitszimmer, stieß unterwegs gegen das Wandbord, das deutsche Messer bewegte sich.

Vor dem Schreibtisch aus Nussbaumfurnier blieb er stehen, zog eine der Schubladen heraus und wühlte in den Papieren. Nahm den Kleinen Lavater zur Hand, in den er den anonymen Brief gesteckt hatte. Holte diesen hervor, behielt ihn eine Weile in der Hand. Faltete ihn dann, einmal, zweimal, und riss ihn mit nervösen Bewegungen in kleine Stücke. Machte das Fenster auf und warf alles in Richtung Zürgelbaum. Ein Kind blickte von seinem Dreirad auf und schaute mit offenem Mund zu, wie die Konfettis in alle Richtungen segelten.

Er setzte sich, schaute sich um, zog dann mit einem Ruck die ganze Schublade heraus und legte sie sich auf die Knie. Zuhinterst stand ein kleines, durchsichtiges Gefäß. Er nahm es und hielt es ans Fenster: ein in Formalin eingelegter Fötus. Höchstens zehn Zentimeter lang, mit einem übergroßen Schädelchen, das über einen gallertartigen, an eine Hautblase erinnernden Bauch gebeugt war, dazu fadenförmige Gliedmaßen, wie Käfer sie haben, nur ein bisschen dicker und von heller Farbe. Er legte das Ding in die Schublade zurück und schob sie wieder zu.

Danach ging er in die Küche und trank einen Schluck Wasser aus dem Hahn. In der Anrichte fand er ein halbes Ringbrot, das er in zwei Stücke brach: Das eine aß er sofort, das andere steckte er sich in die Tasche. Er putzte die Zähne, strich sich ein wenig Brillantine ins Haar. Ging zum Wandbord und wählte eine Nummer.

»Ich bin’s, klar doch, wer sonst?«

Den Hörer zwischen der hochgezogenen Schulter und dem Ohr eingeklemmt, nahm er das Messer zur Hand, das er unzählige Male gesehen hatte und an dem er ebenso oft seinen Blick hatte abprallen lassen, um ihn unverzüglich auf etwas anderes zu lenken.

»Nichts. Warum?«

Es war ein exklusives Fallschirmjägermesser der deutschen Luftwaffe. Der Holzgriff war mehrfach eingekerbt. Er zählte die Linien: elf.

»Logisch ist sie nicht zu Hause.«

Der Hörer rutschte zwischen Ohr und Schulter hervor, schlug, während das Kabel eine Schlangenbewegung machte, gegen einen Silberrahmen, der zu Boden fiel und eine Fotografie freigab.

»Mist. Moment mal.«

Er bückte sich und hob das Foto auf: Fünf junge Bartträger lächelten in die Kamera, alle einen Arm auf die Schulter des Nebenmanns gelegt, im anderen hatten sie das Gewehr. Der Älteste, in der Mitte, mit schief sitzender Mütze und einem strahlend weißen Lächeln, trug eine Lederjacke und war der Einzige, der seinen Gewehrlauf nach unten hielt.

»Doch, doch, ich höre dir zu.«

Er drehte die Fotografie um. Auf der Rückseite stand in schräger, hastiger Schrift: Auch ein einziger eroberter Hügel ist ein der Barbarei entzogenes Stück Geschichte. Papa.

»Du gehst mir auf die Nerven, wenn du so redest.«

Darunter hatte eine andere Hand mehr hingekritzelt als geschrieben: Und für mich ist der Hügel, den du besteigst, ein Berg. Aurora. Der Anfangsbuchstabe des Namens sah wirklich aus wie ein kleiner Berg, allerdings ein krummer, der zu kippen drohte, während das abschließende A eine höchst respektable Anhöhe darstellte, fest und stabil. Auf den ersten Blick hätte man glauben können, diese beiden Buchstaben wären von zwei verschiedenen Personen geschrieben worden. Er schob das Foto in den Rahmen zurück.

»Gut, bis gleich.«

Als er aufgelegt hatte, betrachtete er sich im Spiegel, neigte den Kopf zuerst nach rechts, dann nach links, um das Haar zu prüfen, lächelte dann und betastete die Vorderzähne. Schließlich drehte er sich um, zog den Regenmantel an und verließ die Wohnung.

Der Unbekannte, der eine Affäre mit deiner Frau hat

Im gleichen Moment, in dem Modesto aus dem Haus trat, stand Aurora in der Bar gegenüber in der Telefonkabine, steckte unter nervösem Klimpern Jetons in den Schlitz, um jemanden anzurufen.

»Hallo. Luciano, hörst du mich?«

»Ah, du bist es.«

»Natürlich, wer denn sonst?«

»Von wo rufst du an?«

»Ich bin schwanger.«

»Ah.«

»Ich bin mir ganz sicher.«

»Schwanger.«

»Genau.«

»Wer von beiden?«

»Einer von beiden.«

»Herzlichen Dank.«

»Du vielleicht.«

»Ich vielleicht.«

»Sehen wir uns heute?«

»Gut.«

Aurora verließ die Kabine, hörte die Tür hinter sich zufallen. Ging zum Tresen, wo der Barista ihr zuzwinkerte und fragte: »Sie wünschen?«

Sie antwortete: »Grappa, bitte.«

Tasuta katkend on lõppenud.