Die Weisheit eines offenen Herzens

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

6 Mitgefühl bedeutet Mut


Wenn sie das Wort „Mitgefühl“ hören, denken manche Leute, es bedeute, auf alles einzugehen, was ein anderer Mensch will. Andere denken, Mitgefühl bedeute, zu versuchen, eine Welt zu schaffen, in der alles vollkommen ist und alle sich bei der Hand fassen und spirituelle Lieder singen. In dieser imaginären Welt hat kein Mensch je mit irgendetwas zu kämpfen, niemand weint, alle Konflikte werden sanft gelöst, es gibt keinen Schmerz und keine Schwierigkeiten und wir alle leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.

Manche Menschen stellen sich unter Mitgefühl einen Zustand vor, in welchem man über allem steht, mit heiterer Gelassenheit alle weltlichen Probleme hinter sich lässt und unversehrt und unbeeinflusst von Schwierigkeiten durchs Leben geht. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wir mit einem feinen Lächeln durchs Leben schweben, mit anderen auf eine Weise kommunizieren, die sie wie durch Zauberhand sofort und mühelos von ihren inneren und äußeren Kämpfen befreit und sie inspiriert, ihr Leben um 180 Grad zu drehen. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wundervoll die Welt wäre, wenn nur jede(r) die Welt von unserem Standpunkt aus betrachten würde und wenn diese armen Menschen verstehen könnten, was wir verstehen.

Hier eine Kurzmeldung: Das hat mit Mitgefühl nichts zu tun. Es ist Selbstgefälligkeit und riecht nach etwas, das Chögyam Trungpa „Narren-Mitgefühl“ nannte. Mitgefühl ist weder abgehoben noch versponnen. Es ist nicht anmaßend. Es bedeutet nicht, immer nur nett zu sein und es gemütlich zu haben, und es ist auch keine Ausrede dafür, sich anderen überlegen zu fühlen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Installateur und jemand riefe Sie an, weil seine Toilette nicht mehr richtig funktioniert. Er berichtet von einem schrecklichen Geruch, der von unterhalb des Hauses nach oben zieht, was auf ein Leck in einem Abwasserrohr hinweisen könnte, das erneuert werden muss. Wir kommen in unserer sauberen, weißen Arbeitskleidung an, unterhalten uns mit dem Kunden über das Problem und geben gut gemeinte Ratschläge: „Diese Dinge erledigen sich oft von selbst. Achten Sie darauf, dass Sie keine verkehrten Sachen in die Toilette werfen. Trinken Sie eine schöne Tasse Tee, essen Sie einen Keks und Sie werden sich gleich besser fühlen.“ Das ist alles gut und schön, aber es wird das Problem nicht lösen. Wir müssen den Kanalzugang unter dem Haus öffnen, hineinkriechen, um das Problem zu diagnostizieren, unser Werkzeug durch den Dreck schleifen und das geborstene Rohr reparieren. Es wird ungemütlich sein. Der Geruch wird sehr unangenehm sein. Die weiße Arbeitskleidung wird definitiv schmutzig werden. Aber das ist es, was getan werden muss, wenn wir helfen wollen.

Und so setzt auch Mitgefühl eine Bereitschaft voraus, mit dem Schmerz und dem Leiden in Berührung zu kommen – unserem eigenen und dem Leid derjenigen, denen wir helfen wollen. Mitgefühl setzt voraus, dass wir dableiben, wenn es ungemütlich wird, dass wir die schwierigen Gefühle aushalten, die hochkommen, wenn wir in Kontakt mit dem Leiden kommen und mit denen, die es durchmachen. Mitgefühl bedeutet Mut.

Es ist nicht leicht, mit Menschen zusammen zu sein, die leiden. Und das hat auch etwas mit unserer Gehirnstruktur zu tun: Bestimmte Zellen in unserem Gehirn, sogenannte „Spiegelneuronen“ erlauben uns, bis zu einem gewissen Grad nachzufühlen, was diejenigen fühlen, mit denen wir in Kontakt sind. Deshalb schaudern wir, wenn wir sehen, dass jemand Schmerzen leidet – wir spüren psychisch etwas von ihrem Schmerz. Zeuge des Leidens anderer zu werden kann intensive Gefühle bei uns auslösen, Gefühle, die auszuhalten und mit denen zu arbeiten wir lernen müssen, wenn wir hilfreich sein wollen. Die Gefühle, die hochkommen, wenn wir andere (oder sogar uns selbst) leiden sehen, können sehr schmerzlich sein, aber das ist keine schlechte Sache. Es ist ein wesentlicher Aspekt des Mitgefühls, es ist Teil unserer emotionalen „Grundausstattung“.

Probieren Sie eine kurze Übung aus: Atmen Sie ein paar Mal ein und aus und nehmen Sie bewusst Ihre Gefühle und Gedanken wahr. Sagen Sie nun zu sich: „Hungriges Kind.“ Nehmen Sie alle Gefühle wahr, die bei diesen Worten hochkommen und lassen Sie sie zu. Vielleicht fühlen Sie sich berührt oder traurig – diese Gefühle kamen bei mir hoch, als ich die Worte schrieb. Das ist kein Zufall. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unseren Schmerz miteinander zu teilen, und wir sind mit dem Instrumentarium des Mitgefühls ausgestattet, um darauf zu antworten.1

Es braucht Mut und Geduld, sich diesem Schmerz zu stellen. Das ist nicht leicht, denn wir haben starke Instinkte, die uns vor allem zurückschrecken lassen, was uns unangenehm ist. Aber wenn wir uns ständig erlauben, dem äußeren und inneren Leiden auszuweichen, werden wir nicht in der Lage sein, es gut genug zu verstehen, um helfen zu können. Wir müssen bereit sein, uns in den Leidenden hineinzuversetzen, die Welt durch seine oder ihre Augen zu betrachten. Wir müssen fähig sein, dazubleiben und zuzuhören. Und das bedeutet, dass wir unsere gewohnheitsmäßige Reaktion, aus der Situation zu flüchten, zu urteilen oder gedankenlosen Rat zu erteilen, aufgeben müssen, damit wir weitergehen können. Stattdessen müssen wir uns das Leiden genau anschauen, um sein Wesen und seine Ursachen zu verstehen und zu wissen, was heilsam sein kann. Wenn wir dann mitfühlend handeln, können wir es mit Weisheit und Selbstvertrauen tun.

BETRACHTUNG

Uns selbst kennenlernen

Denken Sie an ein paar Situationen, in denen Sie sich unwohl fühlen und die Sie gerne meiden. Wie empfinden und reagieren Sie beispielsweise, wenn Sie mit Menschen zusammen sind, die körperliche Schmerzen leiden oder die Trauer, Kummer, Angst, Wut oder Hoffnungslosigkeit fühlen? Überlegen Sie, welche Erfahrungen Sie mit diesen Menschen teilen können und welche Sie dazu bringen, sich zurückzuziehen.

7 Verwirrung über Mitgefühl


Während mitfühlendes Verhalten allgemein bewundert wird, existiert auch eine Menge Verwirrung in Bezug auf Mitgefühl. Wenn wir lernen, was Mitgefühl ist, ist es auch gut, zu wissen, was es nicht ist.

Mitgefühl zu haben heißt nicht, es ständig allen Leuten recht machen zu wollen. Die Motivation eines Jasagers ist Selbstschutz. Es ist also nicht echte Fürsorge für einen anderen Menschen, sondern der Wunsch, andere mögen gut von uns denken oder nett zu uns sein. Ein solches Motiv entspringt dem Bestreben, unser Ego zu schützen, und nicht, jemand anderem etwas Gutes zu tun.

Mitgefühl bedeutet auch nicht, dass man sich in das Leben anderer einmischt und ihre Probleme löst. Wenn wir Herr oder Frau „Repariere es“ werden, liegt der Fokus wieder auf uns. Wir denken: „Ich kann es nicht ertragen, einen anderen Menschen leiden zu sehen. Ich muss etwas dagegen tun.“ Mit diesem Gedanken riskieren wir, stärker involviert zu werden, als es dem anderen recht ist. Der Gedanke: „Ich werde ihr Problem lösen“, treibt uns so an, dass wir ungewollt dazu beitragen, dass sich die andere Person hilflos und ohnmächtig fühlt. Niemand will, dass andere sein Leben aus falsch verstandenem Mitgefühl kontrollieren. Manchmal äußert sich unser Mitgefühl am stärksten darin, dass wir anderen zeigen, wie sie ihr Problem selbst lösen können, und dann einen Schritt zurücktreten, um ihnen dazu Gelegenheit zu geben. Gelingt es ihnen, wird ihr Selbstvertrauen wachsen. Wenn nicht, werden sie hoffentlich aus ihren Fehlern lernen. Fragen sie uns nach Tipps, wie sie mit der Situation umgehen könnten, können wir ihnen welche geben, während wir gleichzeitig ihre Autonomie respektieren.

Weiterhin bedeutet Mitgefühl nicht, dass wir uns zum „Fußabtreter“ machen, auf dem andere herumtrampeln können, oder dass wir uns ausnutzen lassen. Mitgefühl hat nichts mit fehlgeleiteter Vergebung zu tun wie im Falle von häuslicher Gewalt: „Es ist wieder gut, Liebling. Du hast mich gestern und vorgestern Abend geschlagen. Ich habe Mitgefühl mit dir und vergebe dir. Du kannst mich wieder schlagen, wenn du willst.“ Das ist kein Mitgefühl, das ist Dummheit, die weder anderen noch uns selbst hilft. Wenn wir oder unsere Kinder in Gefahr sind, sollten wir die Situation unmittelbar verlassen und nicht zurückkehren, bis die andere Person die Hilfe erhalten hat, die sie braucht, damit die Gewalt ein Ende hat und die Situation sicher ist. Obwohl wir unser Mitgefühl für Menschen, die von negativen Emotionen überwältigt werden, aufrechterhalten, erlauben wir ihnen nicht, uns zu verletzen oder zu schaden. Das ist nicht nur für unsere eigene Sicherheit wichtig, sondern hilft auch ihnen, denn sie werden aufgrund ihres gewalttätigen Verhaltens viele Probleme bekommen.

Mitgefühl kann tatsächlich ein Handeln erforderlich machen, das der anderen Person überhaupt nicht gefällt. Mit echtem Mitgefühl könnten wir sogar gezwungen sein, eine Beziehung zu jemandem aufs Spiel zu setzen, der uns am Herzen liegt, um dieser Person weiterzuhelfen. Einmal erzählte mir ein Mann, dass er als Jugendlicher sehr über die Stränge geschlagen hatte und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Jedes Mal war seine Mutter zum Gericht gegangen und hatte dafür gesorgt, dass er wieder auf freien Fuß kam. Und dann fing er wieder an zu stehlen, zu trinken oder Drogen zu verkaufen. Doch eines Tages schaute die Mutter den Jugendrichter an und sagte: „Mein Sohn ist außer Kontrolle geraten. Behalten Sie ihn hier.“ Dann verließ sie das Gericht. Der Junge war bestürzt und saß eine Weile im Gefängnis. Anfangs war er ziemlich verstört, aber es führte dazu, dass er über sein Verhalten nachdachte und die Gutherzigkeit seiner Mutter nicht mehr als selbstverständlich betrachtete. Er begann, sein Verhalten zu ändern.

 

Mitgefühl gibt uns auch das Selbstvertrauen, „Nein“ zu sagen, wenn wir mit dem manipulierenden Verhalten einer Person konfrontiert werden. Ihren Ansinnen und Intrigen nachzugeben hilft auf lange Sicht weder ihr noch uns. Auch wenn der andere wütend wird, zweifeln wir nicht an unserer Entscheidung, wenn wir wissen, dass das, was wir tun, das Richtige ist und einer mitfühlenden Absicht entspringt.

Mitgefühl ist ein Geschenk, das wir anderen großzügig machen. Eine Gegenleistung dafür zu erwarten, und sei es nur ein Dankeschön, kann zur Enttäuschung führen. Selbst wenn uns jemand dankt, profitiert die Person, die den Dank ausspricht, am meisten, nicht die, die ihn empfängt. Die Person, die sich bedankt, fühlt sich glücklich, weil sie ihre Wertschätzung für die ihr entgegengebrachte Güte zeigt und ihre Bereitschaft, sie zu erwidern. Wenn uns jemand nicht dankt, muss das weder unsere Freude noch unser Mitgefühl schmälern. Mit anderen Worten, wir beziehen unsere Freude aus dem Akt des Gebens, nicht daraus, dass jemand Dankbarkeit zeigt für das, was wir getan haben. Wir empfinden Zufriedenheit, weil wir in Übereinstimmung mit unseren Werten gehandelt haben. Uns begegnen im Laufe unseres Lebens vielleicht viele Situationen, in denen unser Mitgefühl ganz natürlich geweckt wird. Berührt von dem Leid, das wir beobachtet haben, sind wir vielleicht motiviert, auf eine hilfreiche Weise zu handeln. In solchen Situationen ist es wichtig, ehrlich einzuschätzen, was wir tun können – und was nicht. Dann können wir effektiv den Beitrag leisten, der uns möglich ist, ohne zu versuchen, Lasten zu schultern, die wir nicht tragen können oder die nicht die unseren sind. Wenn wir beispielsweise beobachten, wie ein Kollege mit einer ihm übertragenen Aufgabe zu kämpfen hat, geraten wir vielleicht in Versuchung, sie für ihn zu übernehmen, selbst wenn wir wissen, dass es seine Verantwortung ist und wir mit unserer eigenen Arbeit genug zu tun haben. Es könnte dann besser sein, ihm einfach freundlich zuzuhören und vielleicht ein paar ermutigende Worte zu sagen. Wenn wir uns aus einem Gefühl der Verpflichtung oder einem Schuldgefühl dazu zwingen, mehr zu tun, entsteht unterschwelliger Groll und das nimmt dem Geben die Freude. Schuld und Mitgefühl sind unvereinbar. Mitgefühl muss aus einer inneren Freiheit kommen, dann ist es am besten für uns und andere.

Manchmal ist unser Mitgefühl größer als das, was wir – oder irgend jemand anders – in der betreffenden Situation tun können. So haben wir nach dem Erdbeben auf Haiti 2010 vielleicht tiefes Mitgefühl für die Menschen empfunden, die ihr Zuhause verloren hatten oder verletzt wurden. Doch als Einzelperson sind wir nicht in der Lage, etwas gegen eine Tragödie solchen Ausmaßes zu tun. Wir müssen stattdessen tun, was wir können – beispielsweise eine Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation überweisen. Um unser Mitgefühl auch dann aufrechtzuerhalten, wenn wir keine praktische Hilfe geben können, können wir die „Geben-und-Nehmen-Meditation“ üben, die in Beitrag 30 beschrieben wird.

BETRACHTUNG

Die Verwirrung in Bezug auf Mitgefühl beseitigen

Denken Sie an eine Zeit zurück, in der Sie eine falsche Vorstellung von Mitgefühl hatten: Als Sie beispielsweise dachten, Mitgefühl bedeute, es anderen recht zu machen oder jemandem aus einer Verpflichtung oder einem Schuldgefühl heraus zu helfen. Wie hätten Sie Ihre Haltung in echtes Mitgefühl umwandeln können? Stellen Sie sich vor, dass Sie das tun. Stellen Sie sich dann vor, aus echtem Mitgefühl heraus zu handeln.

8 Eine andere Art von Stärke


Obwohl das Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl manchmal herausfordernd und unbequem sein kann, lohnt es sich. Mitgefühl hilft uns, unsere Werte zu leben, anderen Menschen zu helfen, Probleme in unseren Gemeinden zu lösen und zu einer besseren Welt beizutragen. Wenn wir mit Mitgefühl auf Herausforderungen antworten, können wir unsere innere Einstellung ändern und positiv auf die Situationen und Menschen einwirken, die uns begegnen; wir können anderen und uns selbst Unterstützung geben, wenn wir mit Dingen konfrontiert werden, die wir nicht ändern können.

Je öfter wir Mitgefühl praktizieren, desto einfacher wird es. Wir entdecken, dass wir dazu fähig sind. Wir stellen fest, dass wir mit all den beängstigenden Gedanken, die wir in unserem Geist erzeugt haben, sowie mit den Gefühlen, von denen wir glaubten, sie seien ganz und gar unerträglich, umgehen können. Wenn wir uns den Dingen, die uns ängstigen, immer wieder mutig stellen, hören sie auf, so beängstigend zu sein.

Psychologen nennen dies Habituation. Es bedeutet, dass ein Gewöhnungseffekt eintritt, wenn wir uns immer wieder den Dingen aussetzen, die uns ängstigen, und dann nichts Schreckliches passiert. Unsere Angst lässt dann im Lauf der Zeit allmählich nach. Wie Shantideva in The Way of the Bodhisattva schrieb: „Es gibt nichts, das nicht durch Vertrautheit leichter wird.“1

Wenn wir mit Menschen zusammen sind, die trauern, Angst haben oder wütend sind, und ihnen gegenüber eine mitfühlende Haltung einnehmen, beginnen wir zu verstehen, dass wir intensive Gefühle anderer aushalten können, ohne darauf reagieren oder etwas in Ordnung bringen oder flüchten zu müssen. Wenn wir mit Menschen in Kontakt kommen, deren Herkunft oder Hintergrund, Manieren, Glaubensvorstellungen oder Lebensweise uns anfangs abstoßen, verstehen wir allmählich, dass auch sie wertvolle Menschen sind, die genau wie wir Hoffnungen und Träume haben und genau wie wir einfach glücklich sein und nicht leiden wollen.

Als ich (Russell) anfing, in Gefängnissen Compassion-Focused-Therapy-Gruppen für den Umgang mit Wut zu leiten, war ich zunächst ein bisschen eingeschüchtert. Einige der Gefangenen saßen wegen Vergewaltigung, Mord und anderen Gewalttaten ein, und ich war hier, um mit den richtig Wütenden zu arbeiten! Doch bald stellte ich fest, dass diese Männer in vielen Dingen genau wie ich waren und dass sie, wenn man ihnen die Gelegenheit gab und ihnen mit Mitgefühl begegnete, nicht nur Verantwortung für ihre Taten übernahmen, sondern auch dafür, ihr Leben zu ändern, und sich darum bemühten, ihre Wut durch Mitgefühl zu ersetzen.

Jetzt, nach mehr als drei Jahren Gruppenarbeit, kann ich voller Überzeugung sagen, dass ich niemals mit einer engagierteren Gruppe von Menschen gearbeitet habe. Obwohl es einige Sitzungen dauerte, bis diese Männer die Vorstellung an sich heranlassen konnten, sich selbst als „mitfühlend“ zu betrachten, begannen sie fast unmittelbar, alles umzusetzen, was ich sie über Mitgefühl und das Praktizieren von Mitgefühl lehrte. Anstatt sich selbst und andere zu verurteilen und zu verdammen, versuchten sie zu verstehen. Anstatt auf kleine (und große) Provokationen mit Wut und Gewalt zu reagieren, begannen sie, in solchen Situationen einen Moment innezuhalten, um „sich abzuregen“, und versuchten, die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu sehen. Anstatt gleichgültig zu bleiben, fingen sie an, anderen Inhaftierten mit Freundlichkeit zu begegnen. Das ging so weit, dass sie ihren Zellengenossen und anderen im selben Trakt beizubringen versuchten, was sie lernten. Der häufigste Kommentar, den ich von diesen Männern zu hören bekam, war, dass sie oft von anderen Menschen – von den Vollzugsbeamten bis hin zu ihren Angehörigen – gefragt wurden: „Was ist passiert? Du bist so anders. Was machst du?“ Ihre Antwort lautete: „Mitgefühl.“

Wenn wir uns erlauben, voller Mitgefühl die ganze Bandbreite unserer Emotionen zu erleben, auch solche, die uns überwältigend oder abstoßend erscheinen, fangen wir an zu verstehen, dass wir sie fühlen können, ohne davon überwältigt zu werden. Indem wir mit unserer Angst, Wut, Trauer, Gier oder unserem Abscheu vertraut werden, lernen wir, dass es möglich ist, in diese Gefühle hinein- und wieder herauszukommen, ohne darin gefangen zu bleiben. Wir können lernen, mit uns selbst warmherzig und mitfühlend umzugehen, wenn wir mit unseren schwierigen Gefühlen zu kämpfen haben – so wie wir mit anderen Menschen in solchen Situationen umgehen. Auf diese Weise entdecken wir allmählich Möglichkeiten, uns sicher zu fühlen, während wir zulassen, alle Gefühle, die da sind, zu erleben. Wir lernen, Empathie auszudrücken, und entwickeln mitfühlende Kompetenzen, auf die wir in unserem Leben zurückgreifen können.

Wenn all das zusammenkommt – Habituation, Erkennen, Verständnis und neue Kompetenzen –, verfügen wir über eine neue Art von Stärke. Wir erleben ein Selbstvertrauen und eine Furchtlosigkeit, die in der Tat beeindruckend sind. Es ist die Stärke, sich dem Leben zu stellen – gerade so, wie es kommt.

Unsere Angst weicht der Zuversicht: „Was auch geschieht, ich kann einen Weg finden, damit umzugehen.“ Indem wir erkennen, was uns verbindet, wird die Vorstellung vom „Feind“ lächerlich. Wenn wir uns durch Sichtweisen, die sich von unseren unterscheiden, nicht länger bedroht fühlen, werden wir besonnener, und das Bedürfnis, ständig unsere eigenen Ansichten durchzusetzen, weicht der Bereitschaft, zuzuhören und von anderen zu lernen.

Indem wir erkennen, dass die Dringlichkeit, die wir empfinden, wenn ein starkes Gefühl hochkommt, einfach nur ein Aspekt des Gefühls selbst ist, können wir auch sehen, wenn eine Situation eine ausgewogenere, differenziertere Herangehensweise erfordert. Denken Sie an eine Auseinandersetzung mit einem Partner oder einem Familienmitglied, bei der Sie wütend wurden und absolut sicher waren, dass Ihre Sichtweise die richtige ist. Die Wut oder Frustration kommt hoch und Sie verspüren den intensiven Drang, die Auseinandersetzung fortzuführen – zu versuchen, dem Gesprächspartner Ihren Standpunkt einzuhämmern –, selbst wenn Ihnen die Körpersprache Ihres Gegenübers eindeutig zu verstehen gibt, dass im Moment nichts zu ihm durchdringt. In solchen Situationen können wir erkennen, dass es bei unserem Drang, das Gespräch fortzusetzen, weniger darum geht, was jetzt hilfreich wäre. Es ist einfach nur die Art, wie sich unsere Wut in unserem Geist ausdrückt. Wenn wir das verstehen, können wir uns stattdessen entscheiden, zunächst einmal innezuhalten. Es ist bemerkenswert, wie unsere Fähigkeit, dies zu tun und dem anderen zuzuhören, dazu beiträgt, auch ihn dazu zu bewegen, sich „abzuregen“ und uns zuzuhören. Wir lernen auch, dass wir unsere Gefühle akzeptieren können, ohne sie auszuagieren, ihnen auszuweichen oder uns vorzuwerfen, dass wir sie haben. Stattdessen können wir ihnen wohlwollend begegnen, wie alten Freunden, die wir schätzen, die uns aber manchmal in die Irre führen können: „Wut, ich erkenne dich. Obwohl ich verstehe, dass du nur versuchst, mich zu schützen, ist deine Art, an die gegenwärtige Situation heranzugehen, nicht wirklich angemessen. Ich will dir helfen.“

Denken Sie an Menschen, die Ihnen vielleicht als Vorbild für Mitgefühl dienen können: Seine Heiligkeit der Dalai Lama, Jesus Christus, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Mutter Theresa. Sie alle zeigen Furchtlosigkeit im Angesicht von Situationen, die viele von uns veranlassen würden, sich wegzuducken. Sie machen weiter, wo sich viele andere abwenden würden. Das heißt nicht, dass sie nie Angst hatten. Es heißt einfach, dass sie keine Angst vor der Angst hatten. Sie akzeptierten ihre Angst und gingen dennoch weiter. Das ist der Mut des Mitgefühls.

BETRACHTUNG

Die Essenz des Mitgefühls ist die Erkenntnis, dass wir alle glücklich und frei von Leiden sein wollen.

Diese einfache Wahrheit verbindet uns alle. Denken Sie einmal über Ihr tiefstes Verlangen nach: Drehen sich nicht alle Ihre Aktivitäten jeden Tag um den Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden?

Das gilt auch für jeden anderen Menschen. Die Person, die im Supermarkt vor Ihnen in der Kassenschlange steht und laut in ihr Handy spricht, will glücklich sein und nicht leiden. Der Politiker, der in der Fernsehsendung seinen Kontrahenten bösartig attackiert, will glücklich sein und nicht leiden. Der Mann, der am Straßenrand um ein paar Münzen bettelt, will glücklich sein und nicht leiden. Wenn wir hinter die äußere Fassade der Handlungen anderer schauen können, sehen wir den tiefen Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden.

Erinnern Sie sich im Laufe des Tages bei Ihren Begegnungen mit anderen immer wieder daran, dass deren tiefster Wunsch, wie der Ihre, darin besteht, glücklich zu sein und nicht zu leiden. Wenn Sie an einer roten Ampel stehen, im Zug unterwegs sind, eine Straße entlang gehen oder in einer Schlange warten, schauen Sie sich die Menschen an und denken Sie: „Dieser Mensch wünscht sich genau wie ich, glücklich zu sein und nicht zu leiden.“ Lassen Sie dieses Bewusstsein tief in Ihr Herz sinken. Gehen Sie dann noch einen Schritt weiter und senden Sie diesen Menschen gute Wünsche: „Mögest du glücklich und frei von Leiden sein.“ Und diesen freundlichen Wunsch können wir auch zu uns selbst aussenden. Das wiederholte Aussenden mitfühlender Wünsche kann uns innerlich transformieren: Während wir uns allmählich mitfühlende Verhaltensweisen angewöhnen, ersetzen diese unsere Angewohnheit, zu urteilen, zu kritisieren und zu beschämen, die uns in der Wut, der Angst und Negativität gefangen hält.