Die Weisheit eines offenen Herzens

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11 Optimismus – eine positive Kraft


Eine optimistische Einstellung ist nicht nur wesentlich für das Aufrechterhalten von Mitgefühl, sondern auch ganz allgemein für ein glückliches Leben. Und es gibt viele Gründe, optimistisch zu sein. Wenn wir Unangenehmes oder Leidvolles erleben, gibt es immer eine Ursache oder Bedingung, die diese Erfahrung hervorgebracht hat: Ein Mangel an Nahrung führt dazu, dass wir hungrig sind, Krankheit führt dazu, dass wir Schmerzen leiden und uns schlecht fühlen. Aber diese Ursachen und Bedingungen sind nicht permanent. Sie lassen nach oder verschwinden oft ganz, sodass unser Leiden ein Ende hat. Um beim Beispiel Krankheit zu bleiben: Es geht uns vielleicht extrem schlecht, weil wir eine bakterielle Lungenentzündung haben. Aber wenn Antibiotika die Ursache unserer Erkrankung – die Bakterien – zerstören, verschwindet auch unser Krankheitsgefühl. Selbst wenn die Beseitigung der unmittelbaren Ursache unseres Leidens nicht in unserer Macht steht – beispielsweise wenn ein geliebter Mensch gestorben ist –, wissen wir, dass der Schmerz im Laufe der Zeit nachlassen wird.

Vor einigen Jahren interviewte eine amerikanische Journalistin den Dalai Lama. Sie fragte: „Sie wirken so glücklich, aber Sie mussten vor vielen Jahren aus Ihrer Heimat fliehen und konnten bis heute nicht nach Tibet zurückkehren. Dort ereignete sich ein Völkermord und die Umwelt wurde in unglaublichem Ausmaß zerstört. Ihr Volk hat ungeheuer gelitten, sowohl die Menschen, die in Tibet blieben, als auch die, die Ihnen ins indische Exil gefolgt sind. Wieso sind Sie nicht wütend über die illegale Besetzung Ihres Landes durch die kommunistischen Chinesen?“

Der Dalai Lama schenkte ihr sein ansteckendes Lächeln und erwiderte: „Wenn ich wütend wäre, würde ich mich elend fühlen. Ich könnte nicht richtig schlafen oder essen und meine Gesundheit würde darunter leiden. Das würde niemandem helfen. Also schaue ich auf alles, was gut ist, erfreue mich daran und bleibe optimistisch.“

Die Antwort des Dalai Lama zeigt uns, dass es sogar unter schrecklichen Umständen möglich ist, optimistisch zu bleiben und sich zu freuen. Über die Segnungen des Mitgefühls für andere und für uns selbst nachzudenken, gibt uns Hoffnung und Zuversicht. Mit dieser positiven Haltung können wir geistige Muster transformieren und unsere guten Eigenschaften stärken, indem wir Mitgefühl entwickeln.

Echtes Mitgefühl bedeutet nicht, dass wir uns selbst ignorieren oder vernachlässigen. Es ist sogar sehr wichtig, dass wir Mitgefühl mit uns selbst haben: Wir sind Lebewesen, die wie alle anderen leidvolle Erfahrungen machen. Ist uns unser Wunsch, mitfühlend zu sein, bewusst, können wir auf uns selbst achten, unser eigenes Leiden anerkennen und damit umgehen. Das hat überhaupt nichts mit Selbstbezogenheit zu tun. Wenn wir selbstbezogen sind, interpretieren wir jede Situation von unserem begrenzten Standpunkt aus. Ich beziehe dann alles auf MICH, so als sei mein Glück wichtiger als das aller anderen und mein Leiden schlimmer als das aller anderen. Selbst unter katastrophalen Umständen ist es möglich, Optimismus und Lebensfreude zu bewahren, wenn man über die Segnungen des Mitgefühls für andere und sich selbst reflektiert.

Es stimmt auch nicht, dass wir leiden müssen, um echtes Mitgefühl für andere empfinden zu können. Manche Leute meinen, es sei egoistisch, auch nur das kleinste bisschen Freude zu empfinden: „Es gibt so viel Schmerz und Leid auf der Welt. Wenn ich mich davon nicht ständig niedergedrückt fühle, habe ich kein echtes Mitgefühl.“ Diese Denkweise ist jedoch falsch. Es ist nichts verkehrt daran, glücklich zu sein. Jeder von uns wünscht sich das! Es ist möglich, Freude zu empfinden, ohne egoistisch zu sein. Tatsächlich entfernt uns Mitgefühl von der Selbstbezogenheit, indem wir sowohl das Glück anderer als auch unser eigenes im Blick haben, und das vergrößert die Freude. Und diese Freude macht es uns wiederum leichter, Mitgefühl zu kultivieren.

BETRACHTUNG

Sich selbst mitfühlendes Verständnis entgegenbringen

Wie reagieren Sie, wenn Sie das Leid anderer sehen oder davon erfahren? Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie glücklich sind, während andere leiden? Überlegen Sie, ob Sie dadurch mehr oder weniger hilfreich für andere sein können. Wenn wir von uns selbst verlangen, zu leiden, um mitfühlend sein zu können, wird uns unser Mitgefühl bald versiegen und damit ist niemandem geholfen. Schauen Sie, ob es Ihnen möglich ist, positive Gefühle zu haben – beispielsweise, sich darüber zu freuen, dass Sie in der Lage sind, sich berühren zu lassen und Empathie und Mitgefühl zu empfinden –, wenn Sie mit einer Situation konfrontiert werden, in der jemand wirklich leidet. Es kann inspirierend sein, zu erleben, dass an die Stelle unserer Schuldgefühle ein Gefühl der Fürsorge für andere tritt.

12 Drei Arten von Emotionen


Wenn wir daran arbeiten, Mitgefühl zu entwickeln, müssen wir unsere Bemühungen auf zwei Aspekte konzentrieren. Erstens ist es wichtig, eine mitfühlende Haltung zu entwickeln, indem wir unsere Motivation stärken und unsere Fähigkeit trainieren, mitfühlend zu empfinden, zu denken und zu handeln. Und zweitens müssen wir lernen, die Hindernisse auszuräumen, die uns daran hindern, Mitgefühl zu empfinden, und die uns davon abhalten können, aus unserer besten Absicht heraus zu handeln.

Wir haben bereits darüber gesprochen, wie stark unsere Emotionen unseren Geist beeinflussen und ausrichten. Das ist kein Zufall. Aus der Perspektive der Evolutionspsychologie betrachtet, haben wir all diese Gefühle, weil sie unseren Vorfahren halfen, zu überleben und ihre Gene an uns weiterzugeben.1 Von diesem Standpunkt aus gesehen, fallen menschliche Emotionen unter drei Kategorien: diejenigen, die sich entwickelten, um uns zu helfen, wahrgenommene Bedrohungen einzuordnen und darauf zu antworten, die, die uns helfen sollen, Ziele zu verfolgen und Dinge zu erwerben, welche wir für unser Überleben und die Reproduktion benötigen, und die, die entstanden sind, damit wir uns sicher fühlen, zufrieden sein und uns mit anderen verbinden können. Wir bezeichnen diese drei emotionalen Kategorien als das „Bedrohungssystem“, das „Antriebssystem“ und das „Beruhigungssystem“. Das Problem beginnt, wenn diese emotionalen Systeme aus dem Gleichgewicht geraten. Das kann zum Beispiel passieren, wenn unser Geist sich wie besessen auf reale oder eingebildete Bedrohungen fokussiert, oder auf die Dinge, die wir unbedingt haben wollen, und wir blind für die Bedürfnisse anderer (und manchmal auch unsere eigenen) werden. Das ist eines der größten Hindernisse für Mitgefühl. Das Bedrohungs- und das Antriebssystem sind sehr machtvoll, und wenn sie die Bühne beherrschen, kann die innere Stimme unserer besseren Natur von Gefühlen der Wut, Feindseligkeit und Angst, von materialistischen Wünschen, Verlangen oder kaltem, egoistischem Streben überlagert werden.

Obwohl all diese Reaktionen letztendlich dem Wunsch entspringen, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden, können sie Probleme verursachen. Es zeigen sich nicht die besten Seiten unseres Wesens, wenn wir uns in den Reaktionen des Bedrohungs- und Antriebssystems verfangen. Vielleicht sind wir sehr gut darin, diese Reaktionen bei anderen aufzuspüren – sind verärgert, wenn Leute sich auf eine Weise verhalten, die uns feindselig, schwammig oder habgierig vorkommt –, und kaum in der Lage, Wärme und Mitgefühl für sie zu empfinden. Und kurz darauf bemerken wir vielleicht, dass wir uns auch selbst dafür kritisieren, dass wir ähnlich fühlen oder handeln! Man kann leicht in so ein Muster hineingeraten, und es ist ebenso leicht, andere oder auch sich selbst dafür zu verurteilen, anzuklagen oder zu beschämen: „Er ist einfach ein Idiot!“ „Ich bin ein schwacher Mensch.“ Wir mögen überzeugt sein, dass diese Urteile gerechtfertigt sind; sie scheinen sehr gut zu passen. Aber wenn wir genauer hinschauen, können wir erkennen, dass diese harten Urteile ein weiteres Beispiel dafür sind, wie das Bedrohungssystem die Kontrolle über unseren Geist übernimmt und andere (oder uns selbst) angreift, wenn sie (oder wir) nicht so handeln, wie sie oder wir es unserer Meinung nach tun sollten. Es ist verständlich, aber es ist nicht hilfreich.

Meine (Russells) Antwort auf die Frage: „Was ist Mitgefühl?“, beinhaltet also die Erkenntnis, dass ein großer Teil unseres Leidens mit machtvollen, intensiven Gefühlen zu tun hat, die ohne unser bewusstes Gewahrsein in uns hochkommen können – Gefühle, die wir unbeabsichtigt mit unserem Denken und Handeln befeuern, was die Dinge letztendlich schlimmer statt besser macht. Anstatt sich selbst und andere dafür zu kritisieren, dass man diese Gefühle hat und ausdrückt, bedeutet Mitgefühl, zu akzeptieren, dass wir alle solche Gefühle hin und wieder haben, und bereit zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wenn sie hochkommen. Mitgefühl heißt, etwas zu verstehen versuchen, anstatt zu urteilen. Es bedeutet, zu fragen: „Was könnte hilfreich bei meiner Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen sein?“ Und dazu gehört auch, zu erkennen, dass es unsinnig ist, sich vorzuwerfen, dass man diese normalen menschlichen Gefühle hat, aber gleichzeitig zu sehen, dass man, will man das Leben führen, das man sich wünscht, die Zügel in die Hand nehmen und den eigenen Geist dahin lenken muss, wo man ihn haben möchte.

Dieses Gewahrsein kann transformierend sein. Wir verstehen das herausfordernde Verhalten von anderen (und unser eigenes) dann nicht so, dass etwas mit ihnen (oder mir) nicht stimmt, sondern als das Resultat emotionaler Reaktionen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind. Indem wir verstehen, dass Gefühle wie Wut und Angst entstehen, wenn wir uns bedroht fühlen (ganz gleich, ob die Bedrohung real ist oder etwas, das wir uns zusammengereimt haben), können wir Mitgefühl für diejenigen empfinden, die in diesen Gefühlen gefangen sind. Wenn wir erleben, dass sich jemand feindselig verhält, können wir, anstatt zu sagen „Was für ein Idiot!“, vom Urteilen auf das Verständnis umschalten, das mit Mitgefühl verbunden ist: „Er ist gerade im Bedrohungssystem. Ich weiß, wie sich das anfühlt! Was könnte ich tun, um ihm zu helfen, sich sicher oder zumindest nicht noch stärker bedroht zu fühlen?“ Indem wir mitfühlend zu verstehen versuchen, anstatt zu urteilen und Etiketten zu kleben, finden wir oft Lösungen für Probleme, die zuvor unlösbar erschienen. Wir fangen an, Menschen eher als grundsätzlich wertvolle Wesen zu sehen, die mit Schwierigkeiten kämpfen, denn als Idioten, die uns Probleme bereiten. Das können wir auch für uns selbst tun. Wir können aufhören uns vorzuwerfen, dass wir normale menschliche Gefühle haben, vor allem, wenn wir uns vorgenommen haben, auf eine konstruktivere Art und Weise mit diesen Emotionen zu arbeiten. Wenn wir anfangen, auf die kritischen Urteile zu verzichten, die das Gefühl der Bedrohung bei uns und anderen aufrechterhalten, bekommen wir immer leichter Zugang zum Mitgefühl.

 

Etwa zu Beginn meiner (Russells) Gruppenarbeit im Gefängnis erlebte ich folgende Situation: Frau Sanders, eine Vollzugsbeamtin, öffnete vorsichtig die Tür und bat Richard, einen Gruppenteilnehmer, nach draußen zu kommen. Richard fragte, warum, und sie sagte ihm, dass er in der falschen Gruppe sei und für eine andere, obligatorische Gruppenaktivität eingeteilt sei, die zur gleichen Zeit stattfand. (Es gibt im Gefängnis bestimmte Arbeitsgruppen für die Gefangenen, an denen die Männer teilnehmen müssen – unsere gehört nicht dazu). Nun versuchte Richard zu erklären, dass er die Sache mit einem anderen Beamten besprochen und die Erlaubnis erhalten hatte, stattdessen an unserer Gruppe teilzunehmen. Die Vollzugsbeamtin erwiderte, sie habe keine Kenntnis von einer solchen Vereinbarung und bestand darauf, dass er sofort mitkam. Es ging zwischen den beiden vor der Gruppe noch eine Weile hin und her und sowohl Richard als auch Frau Sanders wurden immer angespannter und gereizter. Nach einer Weile trafen beide die kluge Entscheidung, das Gespräch unter vier Augen fortzusetzen, und verließen den Raum, um die Sache zu klären.

In schwierigen Situationen wie der oben beschriebenen kann leicht ein Gefühl der Bedrohung aufkommen. Indem wir denken: „Ich habe recht und du hast unrecht“, sind wir ausschließlich damit beschäftigt, uns gegen einen Angriff zu verteidigen. In solchen herausfordernden Situationen hören wir normalerweise nicht mehr zu, werden vielleicht lauter, schneiden dem anderen das Wort ab oder sprechen schneller. Das Problem ist allerdings, dass diese Verhaltensweisen sehr ineffektiv und absolut nicht dazu geeignet sind, dem anderen unsere Sichtweise zu vermitteln, weil sie das Bedrohungssystem der anderen Person aktivieren. Weil sie das Gefühl hat, nicht gehört oder verstanden zu werden, fängt sie vielleicht an, sich genauso zu verhalten wie wir, hört nicht mehr zu und wird lauter – was den Teufelskreis aufrechterhält, indem nun wiederum unser Bedrohungssystem aktiviert wird. Es ist, als würden unsere Bedrohungssysteme aufeinanderprallen, und die Situation kann leicht zu einer hitzigen Auseinandersetzung eskalieren. Wenn das in einem öffentlichen Raum oder vor anderen geschieht, empfinden wir unsere negativen Gefühle wie unter einem Vergrößerungsglas, weil wir wissen, dass wir von anderen beobachtet werden. Das kann sehr peinlich sein.

Wenn uns dieser Prozess bewusst wird, erkennen wir, dass ein Wechsel der Strategie alles verändern kann. Anstatt weiterhin auf das Bedrohungssystem der anderen Person einzuhämmern, können wir für einen Moment langsamer atmen, um unser eigenes Bedrohungssystem „herunterzufahren“ und dann unser Verhalten so ändern, dass sich der andere sicherer fühlt. Anstatt beispielsweise unsere eigene Sicht der Dinge pausenlos zu wiederholen, könnten wir sagen: „Es tut mir leid, ich war total darauf fixiert, meinen eigenen Standpunkt zu vertreten, und habe überhaupt nicht richtig zugehört. Könntest du mir deinen noch einmal erläutern, damit ich sicher sein kann, dich richtig verstanden zu haben?“ Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich mitten in einer hitzigen Auseinandersetzung und der andere würde so etwas zu Ihnen sagen. Können Sie erkennen, wie eine solche Aussage, die dem anderen vermittelt, dass er respektiert wird und keine Bedrohung darstellt, den Druck aus einer wütenden Interaktion nehmen kann? Wenn wir uns bedroht fühlen oder wie besessen von einem Ziel sind, sind unser Denken und unsere Aufmerksamkeit starr und eng. Völlig auf uns selbst fixiert, kann es fast unmöglich sein, den Standpunkt des anderen zu sehen. Wenn wir achtsam sind und bemerken, dass unser Bedrohungs- oder Antriebssystem die Bühne beherrscht, dass wir in einer Verteidigungshaltung erstarrt sind oder um jeden Preis unsere eigenen Interessen durchsetzen wollen, können wir „herunterkommen“ und eine offenere Haltung einnehmen – eine, in der alle das Gefühl haben, gehört zu werden, und sich sicher fühlen. Dadurch kommen wir oft auf einen gemeinsamen Nenner. Und manchmal stellen wir sogar fest, dass unsere Meinungen im Grunde gar nicht so unterschiedlich waren!

Im Fall von Richard und der Vollzugsbeamtin war die Auseinandersetzung einfach auf eine Unterbrechung des Kommunikationsflusses zurückzuführen, was in einem so komplexen Umfeld wie einem Gefängnis oder am Arbeitsplatz recht häufig vorkommt. Richard hatte tatsächlich die Vorschriften eingehalten und die Erlaubnis bekommen, an unserer Gruppe bis zum Ende teilzunehmen, bevor er in die nächste gehen musste. Die Vollzugsbeamtin war davon nicht in Kenntnis gesetzt worden und versuchte einfach nur, ihren Job zu machen und dafür zu sorgen, dass die Gefangenen dort waren, wo sie sein sollten. Beide fühlten sich bedroht, weil die Auseinandersetzung vor anderen stattfand: Richard, weil es ihm peinlich und er frustriert war, und die Vollzugsbeamtin, weil ihre Autorität vor anderen infrage gestellt wurde – in einem Umfeld, in welchem die Sicherheit aller davon abhängt, dass man ihren Anweisungen folgt. Glücklicherweise erkannten die beiden das und setzten ihr Gespräch unter vier Augen fort, sodass sie sich sicher fühlen konnten und das Missverständnis rasch aufgelöst wurde.

BETRACHTUNG

Mitgefühl und Emotionen

Denken Sie an eine Zeit zurück, in der Sie sich aggressiv verhalten oder komplett verschlossen haben und sich weigerten, mit einer anderen Person zu kommunizieren. Welche Gefühle hatten Sie zu diesem Zeitpunkt? Rufen Sie sich nun eine Zeit ins Gedächtnis, in der Sie sich freundlich und mitfühlend verhielten. Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Sie werden feststellen, dass Ihre Fähigkeit, Mitgefühl anzunehmen und mitfühlend zu handeln, zunimmt, wenn in einer Situation das Gefühl, bedroht zu sein, dem Gefühl der Sicherheit weicht.

13 Mit unerwünschten Gedanken und Gefühlen arbeiten


Ein Haupthindernis für Selbstmitgefühl ist die Tendenz, sich Vorwürfe wegen der eigenen Gedanken und Gefühle zu machen. Wenn wir bemerken, dass wir Gedanken haben, die im Gegensatz zu unseren Werten stehen, neigen wir oft dazu, uns zu beschuldigen und runterzumachen: „Ich bin ein schrecklicher Mensch! Was bin ich doch für ein Heuchler!“ Das kann auch passieren, wenn wir bei uns Gefühle wahrnehmen, die wir lieber nicht hätten (oder Gefühle, von denen uns gesagt wurde, dass wir sie besser nicht haben sollten). Wir bemerken unsere Neidgefühle und denken: „Ich bin so egoistisch und habgierig!“ Wir beobachten Angst und Wut bei uns und denken: „Ich bin so schwach! Ich kann mich nicht beherrschen!“

Vielleicht glauben wir, dass diese Selbstverurteilung uns hilft, uns weiterzuentwickeln, dass wir uns ändern, wenn wir uns nur oft genug vorwerfen, dass wir Dinge denken und fühlen, die wir nicht denken und fühlen wollen und dass wir dadurch zu dem Menschen werden, der wir sein möchten. Vielleicht befürchten wir, dass uns diese unerwünschten Gefühle und Gedanken, wenn wir nicht hart gegen uns selbst sind, in ein inneres Chaos stürzen, dass wir die Kontrolle verlieren oder uns die Erlaubnis geben, uns schlecht zu verhalten. Das Problem mit Selbstbeschämung und Selbstvorwürfen ist jedoch, dass sie das innere Bedrohungsgefühl aufrechterhalten und uns in Wut, Angst und Abwehr gefangen halten. Diese geistigen Zustände sind kein fruchtbarer Boden für das Entwickeln von Mitgefühl oder anderer positiver innerer Qualitäten. Durch Selbstbeschämung verstärken wir Tendenzen in unserem Geist, die wir letztendlich verändern möchten, wie beispielsweise die Angewohnheit, über andere zu urteilen.

Es erfordert Umsicht, den besten Weg zu finden, mit unerwünschten Gedanken oder Gefühlen zu arbeiten. Wir müssen aufhören, uns für Gedanken und Gefühle zu beschuldigen, die aufgrund unserer früheren Erfahrungen und Konditionierungen auftauchen, und gleichzeitig anfangen, Verantwortung für die Arbeit mit solchen wenig hilfreichen Gedanken und Gefühlen zu übernehmen (und dafür, hilfreichere zu kultivieren). Wenn wir aufhören, uns selbst anzugreifen und zu beschuldigen, bedeutet das nicht, dass wir uns alles erlauben oder verantwortungslos sind. Wir akzeptieren, dass diese belastenden Gedanken und Gefühle in unserem Kopf existieren, und wir wissen, dass es unser „Job“ ist, damit umzugehen und dieses Problem zu lösen. Wenn wir eine geistige Haltung entwickeln wollen, die mit unseren Werten übereinstimmt, heißt das aber nicht, dass wir uns Vorwürfe machen, wenn wir unser Ziel nicht gleich erreichen. Anstatt unserem Bedrohungssystem durch Selbstkritik ständig weiterhin Nahrung zu geben, wollen wir unser Antriebssystem und unser Beruhigungssystem aktivieren, um einen emotionalen Raum der Sicherheit zu schaffen, aus dem heraus wir mit beängstigenden oder herausfordernden Gedanken, Gefühlen und Situationen arbeiten und uns selbst inspirieren können, mitfühlender zu handeln.

Ein Beispiel aus einer meiner (Russells) Gefängnistherapiegruppen: Jeremy, ein Mann, der für seine verbale und physische Aggressivität bekannt war, hatte seit einiger Zeit daran gearbeitet, sein aggressives Verhalten in den Griff zu bekommen und im Kontakt mit anderen Menschen freundlicher und verständnisvoller zu sein. Eines Tages wurde er von einem Bekannten scharf für seine Vergangenheit kritisiert – auf eine Weise, die er als sehr verletzend empfand. Obwohl Jeremy besonnen mit der Situation umging und der Person sagte, dass er nicht bereit sei, mit jemandem, den er nicht gut kenne, über seine Vergangenheit zu sprechen, wurde er verlegen und wütend. Und beim Beobachten seiner Wut wurde er sehr selbstkritisch: „Jetzt geht es schon wieder los! Ich mache überhaupt keine Fortschritte. Es ist hoffnungslos!“ Niedergeschlagen berichtete Jeremy in der Gruppe von seinem „Versagen“. Aber anstatt ihn zu verurteilen (so wie er sich verurteilte), forderten ihn die anderen Gruppenmitglieder auf, nicht so selbstkritisch zu sein und die Situation noch einmal genauer zu betrachten. Mit ihrer Hilfe konnte er erkennen, dass es ihm tatsächlich gelungen war, mit einer schwierigen Erfahrung ziemlich gut umzugehen, denn er war weder aggressiv noch verbal ausfällig geworden. Außerdem halfen sie ihm zu verstehen, dass eine solche Situation für jedermann hart ist: Es tut weh, wenn man seine Vergangenheit um die Ohren gehauen bekommt, obwohl man sein Bestes tut, um sich zu ändern. Anstatt sich dafür zu verurteilen, dass er sich aufgeregt hatte, könnte er darüber nachdenken, was ihm helfen könnte, sich angesichts solch harter Kritik dennoch sicher zu fühlen. Dieses Coaching verfehlte seine Wirkung nicht, und nachdem er in einigen ähnlichen Situationen geübt hatte, ruhig zu bleiben (im Gefängnis kann man mit vielen herausfordernden Situationen konfrontiert werden), lernte Jeremy, seine Selbstkritik wahrzunehmen und loszulassen, bevor sie ihn überwältigte.

Es gehen uns immer wieder alle möglichen Gedanken durch den Kopf: freundliche, grausame, traurige, glückliche, unterstützende, verurteilende, aufbauende oder wilde sexuelle Gedanken. Das ist einfach normal, wenn man ein Mensch ist und einen menschlichen Geist hat. Manche dieser Gedanken werden uns überraschen, besonders, wenn sie von dem Bild abweichen, das wir gerne von uns haben wollen. Betrachten wir uns als „freundlichen Menschen“, sind wir vielleicht bestürzt, wenn uns ein bösartiger Gedanke in den Sinn kommt, weil uns gerade jemand die Vorfahrt genommen hat. Und vielleicht versuchen wir dann, diese Gedanken aus unserem Kopf zu verbannen oder sie zu ignorieren, um das Unbehagen zu vermeiden, das sie uns bereiten können.

 

Es zeigt sich aber, dass diese Strategien – das Unterdrücken oder Ignorieren von unerwünschten Gedanken – nicht besonders gut funktionieren. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass der Versuch, nicht an etwas zu denken, uns erst recht an die betreffende Sache denken lässt!1 Es hält uns auch davon ab, uns mit der Situation auseinanderzusetzen. Wenn wir unsere unerwünschten Gedanken und Gefühle als das akzeptieren können, was sie sind, können wir sie ohne Furcht, Wut oder Ablehnung anschauen und darauf hinarbeiten, sie durch mitfühlende Gedanken zu ersetzen. Es ist so ähnlich wie bei einer Einladung zum Essen, bei der wir einen Teller mit einer Speise vorgesetzt bekommen, die wir eigentlich nicht mögen, beispielsweise Weißkraut. Wir können so tun, als wäre das Kraut gar nicht da, aber das wird es nicht zum Verschwinden bringen und uns auch nichts Besseres bescheren. Ein unangenehmes Gefühl zu akzeptieren heißt nicht, dass wir nun beschließen, es zu mögen, es bedeutet einfach, dass wir seine Existenz anerkennen und schauen, welche Optionen wir haben. Im Falle des Weißkrauts könnten wir es einfach trotzdem essen, es liegen lassen und die anderen Dinge auf dem Teller essen oder höflich um etwas anderes bitten. Und so bedeutet auch das Akzeptieren unserer Gedanken und Gefühle nicht, dass wir sie gutheißen und gerne weiterhin haben würden. Akzeptanz schafft eher einen sicheren Raum, von dem aus wir mit unserem inneren Erleben arbeiten können.

Das bedeutet, dass wir, anstatt unerwünschte Gedanken zu ignorieren, zu leugnen oder einfach aus unserem Kopf verbannen zu wollen, eine andere Strategie ausprobieren: Indem wir unerwünschte Gedanken als mentale Ereignisse zur Kenntnis nehmen, akzeptieren wir ihre Präsenz, ohne ihnen allerdings weiter nachzugehen oder uns intensiver mit ihnen zu beschäftigen, und richten unser Bewusstsein sanft auf positivere, konstruktive Gedanken und Erfahrungen aus. Dieser Ansatz unterstützt unsere Bemühungen, denn er verbindet uns wieder mit unserer Motivation, durch Praktizieren von Mitgefühl dazu beizutragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und uns selbst auf einen positiveren Weg zu bringen. Wenn wir beispielsweise bemerken, dass wir uns insgeheim über das Unglück von jemandem freuen, den wir nicht mögen, können wir, anstatt uns dies vorzuwerfen, ganz anders reagieren. Wir können:

• den Gedanken oder das Gefühl akzeptieren und seine Existenz anerkennen: „Ich stelle fest, dass ich mich darüber freue, dass es ihm schlecht geht.“

• Mitgefühl mit uns selbst haben und uns wieder auf unser Ziel besinnen: „In Anbetracht dessen, wie sich die Beziehung zu ihm in der Vergangenheit entwickelt hat, ist es verständlich, dass ich so denke und fühle. Aber ich möchte ein mitfühlender Mensch sein, und keiner, der sich am Unglück anderer erfreut.“

• uns gut fühlen, weil wir diese Angewohnheit erkannt haben und so die Möglichkeit haben, damit zu arbeiten: „Ich will diese Angewohnheit überwinden und Mitgefühl in mein Leben bringen. Gut, dass ich mich bei diesen Gedanken ertappt habe.“

• eine mitfühlende Motivation wachrufen: „Dies ist eine Gelegenheit, zu sehen, wie gut es sein kann, Mitgefühl für Menschen zu haben, die meine ‚Knöpfe drücken‘, und Mitgefühl zu kultivieren. Im tiefsten Innern wünsche ich ihm – und jedem anderen Menschen –, dass er glücklich sein kann und nicht leiden muss.“

• freundlich einen Gedanken in uns nähren, der unsere Bereitschaft zum Mitgefühl widerspiegelt: „Möge er inneren Frieden finden und Unterstützung bei dieser Herausforderung bekommen.“

Obwohl es sicher einfacher ist, sich Vorwürfe zu machen, als diesen „umständlichen“ mitfühlenden Ansatz zu praktizieren, wird Letzterer sehr viel eher positive Veränderungen in uns bewirken, ohne weitere unheilsame Gedanken und Emotionen zu erzeugen. Jenna, eine Studentin, beobachtete beispielsweise, dass sie manchmal sehr kritische oder gar bösartige Gedanken in Bezug auf eine Kommilitonin hatte, und war über sich entsetzt. „Sie wirkte so selbstgefällig und ich dachte, ‚Sie ist so eine schreckliche Person. Ich hasse sie. Ich hoffe, dass sie bei diesem Test durchfällt.‘ Ich konnte nicht glauben, dass ich ihr das wünschte! Ich fühle mich so schlecht.“

Als Jenna ihre Gefühle genauer anschaute, wurde ihr bewusst, dass die negativen Gedanken, die sie in Bezug auf ihre Kommilitonin hatte, von einem Gefühl der Bedrohung ausgelöst wurden. So hatte die Kommilitonin beispielsweise bei einigen Tests bessere Ergebnisse erzielt als Jenna. Jennas Gefühle verstärkten sich noch, als sie sich ihre negativen Gefühle vorwarf („Ich hatte das Gefühl, nicht nur weniger intelligent zu sein als sie, sondern außerdem noch ein schlechterer Mensch!“). Als Jenna ihre negativen Gedanken wahrnehmen und genauer untersuchen konnte, stellte sie fest, dass sie in der Lage war, sowohl sich selbst als auch der Kommilitonin Mitgefühl entgegenzubringen. „Ich fühlte mich bedroht, aber es war nicht ihre Schuld. Sie versucht einfach nur, ihr Bestes zu geben – genau wie ich. Sie anzugreifen gibt mir kein besseres Gefühl in Bezug auf meine Testergebnisse. Aber vielleicht gibt es andere Dinge, die mir helfen könnten, mehr Selbstvertrauen zu entwickeln. Letzten Endes wünsche ich mir, dass wir beide Erfolg haben!“

Anstatt ihrer Kommilitonin weiterhin Schlechtes zu wünschen, konnte Jenna das eigentliche Problem erkennen: ihre eigenen Versagensängste. Außerdem stellte sie fest, dass sich, indem sie Mitgefühl für sich selbst und ihre Kommilitonin entwickelte (wir beide versuchen nur, in einem wirklich schwierigen Studiengang zu bestehen), ihre Beziehung auf eine Weise veränderte, die beiden half, ihre Leistungen zu verbessern. Sie begannen sogar, gemeinsam zu lernen. Dieser soziale Kontakt und die gegenseitige Unterstützung trugen dazu bei, Jennas Stress zu verringern.

Es ist also nicht wirklich hilfreich, wenn wir uns dafür angreifen oder verurteilen, dass wir menschliche Gefühle wie Angst, Wut oder Begierde empfinden. Diese Emotionen entstehen einfach manchmal in uns und es liegt in unserer Verantwortung, Wege zu finden, mit ihnen umzugehen und zu arbeiten. Wie wir oben bereits erklärt haben: Wenn wir uns selbst beschämen, weil wir diese Gefühle haben, werden noch mehr schwierige Gefühle ausgelöst, mit denen wir fertig werden müssen. Das kann einen Teufelskreis in Gang setzen, der leicht zu Vermeidung, Verleugnung und weiterem Leiden führen kann.

Auch hier muss am Anfang die Akzeptanz der eigenen Gefühle stehen, die dann zur Kultivierung anderer Gedanken und Gefühle führt, wie Mitgefühl für uns selbst und andere, das helfen kann, solche schwierigen Erfahrungen zu transformieren. Jeremy, von dem ich weiter oben in diesem Kapitel berichtet habe, ist ein gutes Beispiel dafür. Nachdem ihm die anderen Mitglieder seiner Gruppe geholfen hatten, zu erkennen, dass er sich unnötigerweise angriff, wurde er ab und zu wieder gereizt und wütend und war manchmal versucht, sich dafür zu kritisieren. Doch er lernte stattdessen, sich selbst durch diese Episoden „hindurchzucoachen“: „Ich werde wieder wütend und ich bin etwas frustriert über mich. Aber schau’, wie schnell ich es bemerkt habe – ich konnte aus der Situation aussteigen und mich beruhigen, bevor die Dinge außer Kontrolle gerieten, und dann zurückkommen und die Situation regeln, ohne aggressiv zu werden. Das hätte ich früher nie gemacht. Sogar meine Frustration darüber, dass ich wütend wurde, zeigt ja, wie ernst es mir damit ist, ein mitfühlender Mensch zu werden. Mitfühlend zu sein bedeutet nicht, dass ich nie mehr gereizt oder wütend werde. Es bedeutet, Verantwortung für diese schwierigen Gefühle zu übernehmen und mit ihnen zu arbeiten, wenn sie auftauchen. Und das tue ich.“ Als es Jeremy immer besser gelang, seine Wut wahrzunehmen, und er anfing, sich selbst und andere mit Mitgefühl zu betrachten („es ist schwer, mit der Wut zu arbeiten, wenn man sein Leben lang damit zu kämpfen hatte, und ich mache wirklich Fortschritte“), stellte er fest, dass Wut und Gereiztheit seltener auftraten. Außerdem beobachtete er, dass seine Wut viel schneller verrauchte, wenn er sie nicht mit selbstkritischen Gedanken befeuerte, und einem Gefühl der Sicherheit wich sowie der Zuversicht, mit seinen Emotionen umgehen zu können, wenn sie auftauchten.

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