Totgeschwiegene Leben

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Bis zur feierlichen Profess, dem Versprechen, für immer in der Gemeinschaft Säbens Gott zu suchen, musste Maria Theresia zunächst ein dreijähriges Gelübde ablegen. Während dieser zeitlichen Profess nahm sie an den Gottesdiensten teil, vertiefte sich in den Grundsätzen des Ordens, übte sich in Selbstständigkeit und Ausgeglichenheit, verrichtete täglich ihre Arbeit als Ökonomin, kurz gesagt mit den Tieren, las die Heilige Schrift und meditierte. Doch am liebsten von allem sang Schwester Benedikta. Während der Stundengebete und der heiligen Messe erfolgte der einstimmige, unbegleitete gregorianische Choral in lateinischer Sprache, was ihr überhaupt nicht schwerfiel, da sie diese Sprache viel mehr an ihre Muttersprache erinnerte als das Deutsche.

Aufgrund der nun umfangreicheren Gebetsverpflichtungen als Novizin, die im Chor täglich bis zu sieben Stunden umfassten, konnte sie nicht mehr so viel Zeit ihrer Arbeit bzw. den Tieren widmen. Die Äbtissin bewilligte ihr aber trotzdem jährlich das Amt der Ökonomin, wenn es einer Chorfrau auch nicht entsprach, in den Stall zu gehen, denn Chorschwestern verrichteten Näh- und Stickarbeiten, erteilten Unterricht oder arbeiteten in der Bibliothek als Kopistinnen.

Die ersten Jahre verliefen für Schwester Benedikta auf Säben trotz bewegter und unruhiger Zeiten relativ ruhig und unerwartet rasch. Zwischen den Gebetsstunden in der Klosterkirche, den Lesungen im Kapitelsaal, den Essenszeiten im Refektorium, der Erholung im Schlafsaal und der Arbeit im Stall blieb für Schwester Benedikta, gemeinsam mit Luzifer, nur mehr wenig Zeit für kleine Spaziergänge im Blumengärtlein oder im Klostergarten und für Besuche bei den Tieren auf den Höfen des Klosters.

Bereits vor Schwester Benediktas Eintritt ins Kloster hatte Joseph II. 1782 im Namen der Aufklärung mit der Aufhebung der Klöster begonnen. Betroffen waren Klöster, die dem Staat keinen Vorteil verschafften und nur ein beschauliches Dasein fristeten. Dies waren vor allem Frauenklöster mit strenger Klausur, wie zum Beispiel die benediktinische Frauenabtei Sonnenburg in St. Lorenzen im Pustertal, die 1785, im Eintrittsjahr Maria Theresias auf Säben, nach fast 800 Jahren ihres Bestehens, aufgehoben wurde. Nur Klöster, die auch weltliche Aufgaben, wie Krankenpflege, Unterricht oder Pfarrseelsorge, erfüllten, wurden nicht aufgelassen. Da die Schwestern auf Säben auch Unterricht erteilten und das Kloster zudem innerhalb der Hochstiftsgrenze von Brixen lag, blieb es verschont. Und auch wenn der Bischof von Brixen viele Jahre hindurch die Aufnahme von Novizinnen zu verbieten versucht hatte, waren ab 1785 trotzdem immer wieder Nonnen ins Kloster Säben aufgenommen worden.

Eine davon war 1790 Maria Dominica Senoner aus Wolkenstein, die ihrer Landsfrau gefolgt war. Maria Dominica Senoner legte bereits 1791 die einfache Profess ab und erhielt als Laienschwester den Namen Clara. Trotz ihrer Schwindelanfälle übte sie die Aufgabe der Glockenmeisterin aus. Sie verstarb 1824. Nach dem Klostersturm von 1787 sollte 1791 noch eine Aufhebungswelle folgen, die jedoch durch den Tod des Kaisers zum Erliegen kam.

Inzwischen war auch für Chorfrau Benedikta das Triennium der zeitlichen Profess vorbei, und nach der Novene, dem neuntägigen Gebet zur sorgfältigen Vorbereitung, konnte sie 1788 die feierliche Profess auf Lebenszeit ablegen. Am großen Tag, der ihr Hochzeitstag mit Christus wurde, erneuerte sie während der heiligen Messfeier in Anwesenheit des Fürstbischofs Joseph von Spaur und der Äbtissin Maria Candida Mayr sowie einiger Geistlicher, aller Chorfrauen und Mitschwestern, ihrer Eltern, ihrer Schwester und ihres Bruders die Ordensgelübde Beständigkeit, klösterlicher Lebenswandel, Gehorsam und gottgeweihte Jungfräulichkeit. Den Gelübden folgte die Umkleidung des Habits, indem ihr weißer Novizinnenschleier mit dem schwarzen Nonnenschleier ersetzt wurde, wobei die Bedeckung von Haaren und Hals weiß blieb. Als Braut Christi erhielt sie als Insigne auch einen Ring und zusätzlich ein Stundenbuch, die ihre einzigen Besitztümer bleiben sollten. Doch während der ganzen Feier musste sie stets daran denken, dass ihr eigentlicher Hochzeitstag mit Christus erst an ihrem Sterbetag sein würde, denn nicht eher würde die wahre Begegnung mit dem Bräutigam erfolgen.

Es waren ohne Zweifel besorgniserregende Jahre. 1796 wurden die ersten österreichischen Soldaten auf Säben einquartiert, die die anrückenden Franzosen aufhalten sollten. Die Schwestern fingen mit täglichen Kriegsgebeten an, aber das große Opfer waren die enormen Unkosten, die das Kloster hatte, um alle zu verpflegen. Sogar Nonnen, die vorgaben, aus Paris geflohen zu sein, wurden rundum versorgt, bevor sie nach Brixen zum Fürstbischof weiterzogen; dort entdeckte man, dass sie sich rasierten, und entlarvte sie als Spione.

Schon ein Jahr darauf fiel am heiligen Lichtmesstag Mantua. Die Klosterfrauen wurden gebeten das Kloster zu räumen, denn Säben sollte zu einer Festung ausgebaut werden. Die für diese Arbeiten abkommandierten Bauern von Latzfons weigerten sich jedoch, die Kirchen zu verwüsten, und wenn das Militär nicht nachgegeben hätte, wäre es zu einer Rebellion gekommen.

Am Tag nach der heiligen Benediktfeier des Jahres 1797, am 22. März also, hörte man die Kanonen vor Klausen donnern. Schreckerfüllt flohen einige Schwestern über Feldthurns in Richtung Brixen, wo sie die flüchtende Bevölkerung mit weinenden Kindern in fürchterlicher Not, Kälte und Elend sahen. Schwester Benedikta wurde von Schwester Magdalena gezwungen, nach Latzfons auf den klostereigenen Grienberghof zu ziehen, da sie sich weigerte, nach Hause zu gehen. Bis ins hintere Tal folgte ihr Luzifer brav wie ein Hündchen und wich ihr am Hof nicht von der Seite.

Nachdem die Franzosen in Klausen alle Häuser geplündert hatten, drangen Soldaten bis zum Kloster hinauf und in die Kirchen hinein, wo sie Kelche und den Opferstock raubten. Mit Erstaunen stellten sie fest, dass einige Schwestern im Kloster geblieben waren. Sie versprachen, ihnen nichts anzutun, und zogen bald darauf über die Felsen in Richtung Pardell weiter. Dort erwartete sie aber eine Überraschung. Auf einem Hügel von Pardell sahen sie eine große Truppe in weißen Mänteln, die auf sie zukam. In der Annahme, es handle sich um österreichische Soldaten, die den Bauern zu Hilfe geeilt waren, zogen sie rasch über den Torgglhof wieder ins Tal hinunter. Die Frauen von Latzfons und Verdings hatten zu diesem Trick gegriffen, da viele Männer fort waren, um die Franzosen bei Franzensfeste aufzuhalten.

In der Gegend war auch ein Landsmann Schwester Benediktas, der mit den Mannen aus Gröden nach Spinges gezogen war, um die Franzosen zu schlagen. Schwester Benedikta kannte Matie Ploner vom Hörensagen. Sie hatte von seinen Verdiensten um den Kirchenbau in St. Ulrich und der ein Jahr zuvor erfolgten Kirchenweihe gehört. Doch getroffen hatte sie ihn nie, denn es widerstrebte ihr, an solchen Anlässen teilzunehmen, obgleich sie dafür mit einer Spezialermächtigung der Äbtissin und der Dispens des Bischofs für kurze Zeit das Kloster hätte verlassen können.

Kurz darauf kam der kommandierende Obrist Chavardes mit einigen Offizieren auf Säben und ein paar Tage später wurden 400 Mann und 40 Offiziere im Kloster einquartiert. Doch schon am nächsten Morgen zogen auch sie wieder ab, und bis Ende April kehrten – bis auf eine – alle geflüchteten Schwestern wieder ins Kloster zurück.

Es folgte eine schwere Zeit für die Schwestern. Es herrschte Not und Mangel an lebensnotwendigen Dingen, was jedoch mit der angestrebten Askese nichts zu tun hatte, und es musste ständig mit weiteren Belagerungen des Klosters gerechnet werden. Die Männer des Klosters, der Kaplan, der Zimmermann, der Gärtner und die Bauarbeiter, mussten immer wieder ins Feld ziehen, und die Nonnen mussten auf den klostereigenen Höfen Wachen einsetzen, die auch rundum zu versorgen waren. Aber für Chorfrau Benedikta, die seit ihrem Klostereintritt nicht bessere Jahre gekannt hatte, war das Wegschauen bzw. das sich Ausklinken aus der materiellen Welt schon zur Routine geworden. Durch die Technik des Eintauchens in eine eigene Welt hatte sie bereits zu Hause im Dorf gelernt, sich vor Enttäuschungen und Schmerzen zu bewahren. Das Kloster war für sie noch eine zusätzliche Hilfe geworden, diesen Schutzmechanismus zu verfeinern. Es gelang ihr immer besser, die reale Welt mit ihren Vorstellungen zu ersetzen. Die imaginierte Welt in ihren Gedanken wurde immer stärker zur täglichen Wirklichkeit und schaffte es, Not und Grauen zu vermindern. Die Jahre der Gründungszeit des Klosters, die reich an Malerei, Musik und Theater waren, lebten somit in der Vorstellung Schwester Benediktas weiter und beflügelten ihre Fantasie.

An einem wunderschönen Altweibersommertag, als sich Schwester Benedikta nach der Versorgung der Tiere in der Laube ein wenig ausruhte, sah sie die Ehrwürdige Mutter, die gerade im Garten einen Spaziergang machte, und setzte sich zu ihr. Eine ganze Weile lang schwiegen sie und hörten in die Stille hinein. Es waren nur das Rauschen des Tinnebaches aus der Schlucht bis auf den Säbener Berg hinauf und das beruhigende Schnurren Luzifers auf dem Schoß Schwester Benediktas zu hören.

Da fragte die Äbtissin plötzlich, ob sie wisse, wieso sowohl das Tal als auch der Fluss Tinne hießen. Dass sie diese Geschichten, wie sie von den neuen Gelehrten genannt wurden, einer jungen Nonne eigentlich nicht erzählen dürfte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Als Gläubige unterschied sie nicht Mythen von historischen Ereignissen, die sie beide gleichermaßen als wahr erachtete.

Schwester Benedikta verneinte die Frage und die Äbtissin erzählte ihr von Tinia, dem Hauptgott der Etrusker. Er sei deren Wettergott gewesen und habe besonders mit Blitzen seine gewaltige Zerstörungskraft gezeigt. Nach Murenabgängen habe der Tinnefluss im wilden Tinnetal schon oft ganze Höfe mitgerissen. Doch Tinia sei auch der Gott des Lichtes gewesen, das dürfe sie nie vergessen.

 

Schwester Benedikta kannte das Tinnetal, denn so oft sie konnte, ging sie der Tiere wegen zu den zinspflichtigen Pachthöfen des Klosters nach Pardell, Latzfons und Villanders. So verstand sie die Worte der Äbtissin nur zu gut, wenn sie an die steilen Wiesen und Felder bis zuhinterst im Tal, wo sich die Ruine des Schlosses Gernstein des Kammermeisters des Hochstiftes Brixen, Ludwig Lindner von Gerrenstein, befand, dachte.

Die Ehrwürdige Mutter hatte schon lang die Wissbegierde Schwester Benediktas bemerkt und fand, es wäre an der Zeit, ihr Genaueres über die Geschichte ihrer Vorfahren mitzuteilen: „Liebe Schwester Benedikta. Sie sollen wissen, dass auf unserem Felsen – auf dem Sonnenberg, wie er dazumal hieß – einst der Räterkönig Arostages seine Burg hatte, und auf dem Gipfel, wo heute unsere Heilig-Kreuz-Kirche steht, befand sich ein Tempel zu Ehren des Gottes Tinia. Das Land des Königs Arostages war nicht sehr groß – es umfasste nur 17 Gehstunden im Umkreis –, doch er häufte gewaltsam Reichtum an Gold und Schätzen auf seiner Burg an, die er in Kellern und Verliesen im Fels versteckte, sodass sie bis heute nicht gefunden wurden. Seine einzige Tochter Larthia liebte er über alles, nachdem seine zwei Söhne im Kampf gegen die angreifenden Römer gefallen waren. Daraufhin hatte er seine Burg zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen lassen. Doch zwei Söhne seines Bruders hatten sich verräterisch auf die Seite der Römer geschlagen und verschafften sich durch eine List Einlass in die Burg. Sie gaben vor, dem Onkel bei der Schlacht gegen die Römer beiseitestehen zu wollen. Am Abend, bevor es zur Entscheidungsschlacht kommen sollte, wurde im Festsaal fröhlich gespeist und getrunken. Nur Larthia hatte eine Vorahnung. Als es Nacht wurde, schlichen die Brüder zum Mäuseturm, wo die Waffen aufbewahrt wurden, drangen ins Schlafgemach des Königs Arostages ein und töteten ihn. Larthia fesselten sie an eine Säule des Tempels, um sie am nächsten Tag den Römern auszuliefern. Den Schatz wollten sie natürlich für sich behalten. Als Larthia dies vernahm, bat sie ihre Vettern um eine letzte Gunst. Sie würde so gerne noch einmal für den toten Vater zu Tinia beten. Als man sie losband, entschlüpfte sie den Aufsehern, floh zur Hinterseite des Tempels und stürzte sich über den Felsrand in die Tiefe. Die Römer nahmen die Burg in Besitz, die Verräter wurden verjagt und die Gebeine Larthias vermoderten am Fuße der steil abfallenden Säbener Bergwand. Wo der Tempel für Tinia stand, errichteten die Römer einen Tempel zu Ehren der Göttin Isis.“

Die Äbtissin und Schwester Benedikta saßen noch eine ganze Weile still beieinander. Die Sonne stand schon knapp über dem Ritten und schickte die letzten warmen Strahlen zu ihnen herüber. Die Blätter der Reben leuchteten im Abendlicht je nach Sorte blutrot, weinrot, rostbraun, goldgelb oder orange. Gerne hätte Benedikta etwas gesagt, aber wie so oft schwieg sie. Sie war in Gedanken noch mitten in der Geschichte. Sie verstand Larthias Tat nur zu gut und bewunderte deren Mut. Es fiel ihr der lateinische Vers in hac lacrimarum valle9 der Antiphon im Salve Regina ein, den sie oft sangen. Schwester Benedikta liebte die klangvollen lateinischen Texte, die dem Ladinischen so ähnlich waren.

Der Gang des Irdischen außerhalb der Klostermauern war in der Tat zu einem tristen Ziel gelangt. Hier auf dem Säbener Berg hoffte sie dagegen, den Ort einer höheren Freiheit gefunden zu haben. Die benediktinischen Grundsätze des Gehorsams, der Besitzlosigkeit und der ehelosen Keuschheit standen für sie nicht im Widerspruch zu ihrem Wunsch nach einem glücklichen Leben und bedeuteten weder Verzicht noch Opfer. Im Gegenteil. Im geschützten Raum der klösterlichen Gemeinschaft verspürte sie zunehmend, wie ihre Unsicherheit verschwand und sie jener Unbeschwertheit näherkam, nach der sie von Kind an unbewusst gestrebt hatte. Indem sie sich dem sich ausbreitenden aufgeklärten Individualismus entzog, würde sie auch dem daraus resultierenden Leid und Schmerz des Einzelnen in der neuen Weltordnung entfliehen. Es war ein Weltgesetz, das Freiheit und Toleranz vortäuschte und, durch das Scheinideal der Eigenmächtigkeit, dem völlig unmündigen Menschen noch für lange Zeit unvorhersehbare Zwänge, gesellschaftlichen Druck und Armut verursachen würde. Echte Freiheit konnte sie nur durch den Verzicht auf die gesellschaftlichen Verstrickungen erlangen. Die Zeit für den neuen Menschen war noch lange nicht reif, und Schwester Benedikta zweifelte sogar, ob sie es jemals sein würde. Sie sah sich jedenfalls in der Klausur bei ihren Mitschwestern aufgehoben und versorgt. Sie verhielt sich im Kloster wie ihre Ameisen, die sie oft beobachtete und die sich als Individuen nicht wichtig nahmen.

Plötzlich brach das Vesperläuten die Stille. Die Chorschwestern erschraken – auch die Äbtissin war in ihre Gedanken versunken gewesen – und sie beeilten sich, um rechtzeitig in die Stiftskirche zu gelangen.

Der Frieden im Land hielt nicht lang an. 1805 fiel das Hochstift Brixen zusammen mit dem Land Tirol an das neu geschaffene Königreich Bayern und es folgte das Schicksalsjahr 1808. Nachdem das Kloster vollständig ausgeplündert worden war, wurde es am 25. August von der bayerischen Regierung aufgehoben. Gleichzeitig wurden auch die Klosterhöfe zum Verkauf freigegeben. Die meisten Schwestern zogen nach Hause oder zu Verwandten und nur wenige verblieben im Kloster, darunter Schwester Magdalena, Schwester Benedikta und die Äbtissin Maria Candida. Diesmal hatte die Toldin Benedikta nicht überreden können, das Kloster zu verlassen.

Bei den Plünderungen im Februar und März 1809 wurde alles von den Soldaten mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Nur Schwester Magdalena hatte den Mut gehabt, sich zu widersetzen. Wutentbrannt riss sie den bayerischen Räubern den letzten Kessel wieder aus der Hand und rettete durch eine List auch die Klosterchronik und weitere Schriften des Archivs. Das gesamte Klosterinventar – Mobiliar und Kirchenparamente – wurde zu einem Spottpreis in Klausen versteigert.

Doch schon im April rückten wieder die Österreicher bis nach Klausen vor, die alles, was noch nicht verkauft worden war, erneut auf Säben hinaufbringen ließen. Sie blieben bis November, als auch wieder die Franzosen vorrückten. Diesmal griffen sie wutentbrannt von allen Seiten die Bauern an und drangen am 5. Dezember bis nach Säben hinauf. Sie überfielen die Klosterfrauen im Chor, als sie gerade die heilige Kommunion empfingen. Die Soldaten zerrten die Frauen an ihren Kutten und an den Haaren in den Vorhof.

Schwester Benedikta saß wie immer in der hintersten Kirchenbank im Dunkeln, so konnte sie in diesem aufgeregten Durcheinander unbemerkt durch die Sakristei hinaus zur Apothekerküche entkommen. Sie hätte sich hier verstecken können, aber die Apotheke war schon seit Jahren aufgelassen und verschlossen. Nun stand sie allein am Abhang des Säbener Felsens und schaute auf Klausen hinunter. Jener Abhang, der die Nonnen von der Welt abschirmte und das Glück bedeutete, war für so manches Kirchenoberhaupt schon lange ein Dorn im Auge, da er durch die abgeschiedene Lage die Macht der Äbtissin unkontrollierbar machte.

Es war ein klarer Wintertag mit wenig Schnee. Schwester Benedikta wurde plötzlich ganz ruhig und dachte voller Erbarmen an ihre Mitschwestern. In all den Jahren der Belagerungen hatten sich noch keine Soldaten so brutal verhalten. Für Schwester Benedikta war der Gedanke, in jedem Augenblick selbst entscheiden zu können, wann die Zeit für das Abschiednehmen gekommen wäre, stets eine tröstliche Überlebensstütze gewesen.

Während ihrer letzten Jahre auf Säben litt sie – wie mehr oder weniger alle Schwestern, mit Ausnahme der kräftigen Toldin – unter Beschwerden. Ihr Anliegen, sich vor körperlichen und seelischen Schmerzen zu schützen, hatte sie mit radikalem Rückzug und Schweigen zu erreichen versucht. Doch die Jahre vergingen auch für sie. Schwester Benedikta hatte gerade ihren 50. Geburtstag hinter sich, und ein unaufhaltsamer Kräfteverfall, der sie sehr beunruhigte, hatte sich schon seit einigen Jahren bemerkbar gemacht. Es waren vor allem das tägliche stundenlange Knien in der Kirchenbank und die ständige Kälte, die sich rächten. Zusätzlich hatte sie Kreuzschmerzen und der Nacken plagte sie oft so sehr, dass sie tagelang kaum den Kopf wenden konnte. Trotzdem musste sie sich als vom Glück begünstigt erachten, wenn sie an die vielen und schweren Gebrechen ihrer Mitschwestern dachte, die von gehbehinderten Füßen, periodischen Nervenschwächen, rheumatischem Armleiden, schmerzhaften Leibschäden, Wassersucht, Engbrüstigkeit, Blindheit bis hin zur Lungenkrankheit gingen.

Die entbehrungsreichen Jahre der Belagerungen und Plünderungen hatten den Nonnen viel Leid gebracht. Somit war für Schwester Benedikta der Freitod in dieser schweren Zeit immer eine offene Option gewesen, gleichwohl ihre Obrigkeit den Suizid als Verbrechen gegen die Gesellschaft, das Gesetz und gegen Gott verurteilte. Ihr lag es jedoch fern, jemanden damit zu verletzen. Im Gegenteil. Ihre Liebe zum Klosterleben und zu den Mitschwestern war stets so groß gewesen, dass sie sich vor einer Verurteilung nicht fürchtete. Nur hätte sie nie geglaubt, den Freitod eines Tages nutzen zu müssen, um einer fremden Vereinnahmung zu entkommen.

Sie erinnerte sich an Larthia. Seit ihrer Aussprache mit der Ehrwürdigen Mutter verspürte Schwester Benedikta eine gewisse Verwandtschaft mit ihr. Und diese Vision verwirrte sich mit den Gestalten der Vier letzten Dinge auf den Tafelbildern an der Heilig-Kreuz-Kirche. Sie zeigten ihr noch einmal das Entscheidende, worum es in diesem Augenblick ging: den Tod, das Widerspiel zwischen Höllenqual und Paradiesesglück und den Urteilsspruch beim Jüngsten Gericht. Es war also eine schwache Ahnung vom möglichen Ende der schweren Zeiten und von der Vollendung der gesamten Schöpfung, die sich schließlich in ihr öffnete und ihr eine letzte Zuversicht gab. Nicht zuletzt wusste sie den inzwischen uralten Luzifer bei Schwester Magdalena gut aufgehoben und versorgt.

Nach einer Hitzewallung, die durch ihren Körper lief, und im Wohlgefühl der nachlassenden Wärme, noch bevor der anschließende Schüttelfrost sich breitmachen konnte, überkam sie die Gelassenheit und die Gewissheit, dass sie das Richtige tat. Wie eine Filadrëssa, ein Turmfalke, glitt sie mit dem Aufwind, der winters über den Säbener Felsen steigt, fort.

Als die bestürzten französischen Soldaten sie am späten Abend des darauffolgenden Tages schließlich an einer schier unzugänglichen Stelle auf einem Felsvorsprung fanden – wo sie, gleich dem falschen König von Fanes auf dem Falzarego, noch heute neben dem König Arostages versteinert zu sehen ist – wurde sie vorerst nach Klausen hinuntergebracht. Der Arzt stellte fest, dass sie durch den Sturz tödliche Verletzungen davongetragen hatte, aber noch stundenlang gelitten haben musste.

Hatte nicht auch ihr Bräutigam fürchterliche Qualen durchleiden müssen, um die Welt zu retten? War dessen widerstandslos hingenommene Kreuzigung nicht auch eine Art Selbsttötung gewesen? Den Selbstmord Schwester Benediktas als altruistische Tat zu rechtfertigen, wäre dem Bischof nie in den Sinn gekommen. Aber mit der Begründung, der Suizid sei eine Folge von Besessenheit durch den Teufel und dass Schwester Benedikta die ewigen Höllenqualen bereits vor dem Tod erlitten habe, wurde sie von ihrer Verantwortlichkeit enthoben, sodass eine kirchliche Bestattung stattfinden konnte.

Unter großer Anteilnahme wurde sie auf Säben in die Stiftskirche hinaufgetragen, und am nächsten Morgen fand sich eine große Menge Bauernvolk ein. Zum Erstaunen aller drängten sich der Brigadier Severoli und sein Adjutant mit zehn Reitern nach vorne. Sie stellten sich vor dem Sarg auf und begannen den tröstenden Text des 23. Psalms anzustimmen:

Durch tiefe Täler

schickte dieser Hirte mich

verzweifelt schrie ich oft:

Mein Gott, mein Gott,

ich schaff es nicht allein!

Ich ging, ich lief,

ich kroch so manches Mal;

durch finstre Schluchten

über steile Höhn

fand ich mein Ziel.

Es stellte sich heraus, dass der Brigadier Severoli vor der Französischen Revolution Erzbischof und sein Adjutant Mönch gewesen waren. Chorfrau Benedikta hatte es geschafft, die Zeit für einen kurzen Augenblick zurückzudrehen und zugleich den Frieden auf Säben zurückzubringen. Sie wurde in der Gruft unter der Klosterkirche beigesetzt.

 
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