Die drei Steine der Macht

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Die drei Steine der Macht
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Sabine Kalkowski

Die drei Steine der Macht

Originalsausgabe 2013

© MARLON 2013

Ein Imprint der Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH

Gutenbergstr. 1, 47443 Moers

www.marlon-verlag.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783943172379

Autor und Verlag haben das Buch sorgfältig geprüft. Für eventuelle Fehler kann dennoch keine Gewähr übernommen werden.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Teil 1 Der Hundertjahrezauber

Kap. 1: Die eine Wirklichkeit

Kap. 2: Die andere Wirklichkeit

Kap. 3: Kleider machen Leute

Kap. 4: Liebe geht durch den Magen

Kap. 5: Die andere Art der Fortbewegung

Kap. 6: Verräterische Ohren

Kap. 7: Die Furt

Kap. 8: Ein hoher Preis

Kap. 9: Vergebliche Vorsicht

Kap. 10: In der Falle

Kap. 11: Über Stock und Stein

Kap. 12: Altseeburg

Kap. 13: Der Hundertjahrezauber

Teil 2 Die Dracheninsel

Kap. 14: Die Suche beginnt

Kap. 15: Anhaltspunkte

Kap. 16: Sturmvogel

Kap. 17: Angeheuert

Kap. 18: Segel setzen

Kap. 19: Der Große Markt

Kap. 20: Piraten in Sicht

Kap. 21: Die Dracheninsel

Kap. 22: Hilfsmittel eines Diebes

Kap. 23: Wächter des Steins

Kap. 24: Der Stein der Macht

Kap. 25: Duft der Freiheit

Kap. 26: Heimat in Sicht

Teil 3 Der Wald der Schatten

Kap. 27: Land in Sicht

Kap. 28: Wahre Geschichten

Kap. 29: Einsame Wildnis

Kap. 30: Das Dorf der Toten

Kap. 31: Schneesturm

Kap. 32: Der Wald der Schatten

Kap. 33: Die Lichtung

Kap. 34: Das Himmelsvolk

Kap. 35: Agilwardus

Teil 4 Die Steine der Macht

Kap. 36: Der Auserwählte

Kap. 37: Die unbeantwortete Frage

Kap. 38: Dreifuß´ sechster Sinn

Kap. 39: „Sie ist weg!“

Kap. 40: Noch rechtzeitig gefunden

Kap. 41: Der letzte Kampf

Kap. 42: Die heilige Grotte

Kap. 43: Der unberechenbare Zauber

Prolog

Mit einem Ruck erwachte die alte Frau aus ihrem unruhigen Schlaf. Die gesamte Höhle leuchtete in einem goldenen Licht.

Es war wieder so weit.

Der Zauber hatte abermals einen Menschen auserwählt, um die drei Steine der Macht zu finden und zurückzubringen. Sie waren vor eintausend Jahren von drei Brüdern aus der heiligen Grotte gestohlen worden. Irgendwo auf dieser Welt würden die Steine nun ebenfalls aufleuchten und den Dieben verraten, dass die Suche erneut begonnen hatte.

Sie richtete sich mühsam auf, ignorierte das Reißen im Rücken und schob ihre Füße in die Schuhe vor ihrem Bett. Vor über zweihundert Jahren hatte der Geist der Weisen Magna von diesem Körper Besitz ergriffen. Nun war er alt, verbraucht und ausgehöhlt. Die Zeit des Übergangs nahte, sie fühlte es und war dankbar.

Die Mädchen waren bereit. Eine von ihnen würde das neue Gefäß der Weisen Magna, Hüterin der Steine der Macht, werden. Wenn die Suche vorüber war. Solange musste sie durchhalten, denn der Übergang brauchte ihre gesamte Kraft und Konzentration, die sie jetzt aber auf den Auserwählten gerichtet halten musste.

Ächzend erhob sie sich und ging langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, in die heilige Grotte. Das goldene Licht, das von dem leeren Schrein ausging, pulsierte in dem Herzschlag eines Menschen. Schon begann es langsam zu verblassen.

Zweimal hatte sie in diesem Körper den Tod des Auserwählten gefühlt und siebenmal in den anderen Körpern davor. Würde es diesmal gelingen, oder würden sich die Brüder wieder als stärker erweisen?

Still wie eine Statue stand sie da und blickte auf das ersterbende Licht. Sie spürte das Pulsieren in sich. Bald würde sie es erfahren.

Teil 1
Der Hundertjahrezauber
Die eine Wirklichkeit

Abrupt wurde Max Anders von dem schrillen Piepton seines Weckers aus dem Schlaf gerissen. Das Gesicht zur Grimasse verzogen, tastete Max in der Dunkelheit nach dem Knopf, der ihn von diesem schrecklichen Geräusch erlösen würde.

Geschafft.

Mit einem Seufzer ließ Max den Kopf zurück auf das Kissen sinken. Irgendwann bekam er noch mal vor lauter Schreck einen Herzinfarkt. Und das sollte die nächsten vierzig Jahre so weitergehen? Er war ja froh, dass er gleich nach seinem Studium einen Job bekommen hatte, aber irgendwie hatte er sich das Arbeitsleben etwas anders vorgestellt. Mit seinen 27 Jahren war er zwar nicht der Jüngste in der Firma, aber es war trotzdem schwer sich durchzusetzen, da ihm einfach noch die Erfahrung fehlte. Und dann dieser Umgangston. War das normal?

Warum nur musste er beim Aufladen helfen? Warum war das nicht gestern Abend erledigt worden? Immer lief in der Tischlerei, in der er arbeitete, alles so kreuz und quer.

Bevor ihm die Augen wieder zufallen konnten, machte er Licht und setzte sich auf. Der Wecker zeigte 4:00 Uhr an. Eine unmenschliche Zeit. Definitiv nicht zum Aufstehen geeignet. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und stöhnte leise. Sein Körper schrie nach Schlaf und gab ihm deutlich zu verstehen, dass er mehr als nur eine Tasse Kaffee brauchen würde, um in die Gänge zu kommen.

Max versuchte sich daran zu erinnern, was er geträumt hatte, bevor er hatte aufwachen müssen. Irgendetwas von Türen, die zu groß für die Öffnung waren, in die sie eingebaut werden sollten. Er träumte immer solche Dinge, wenn ein Auftrag in die Montagephase kam. Müde schob er die zerknüllte Decke zur Seite, stand auf und schlurfte ins Bad. Sein Spiegelbild sagte ihm, dass er genauso kaputt aussah, wie er sich fühlte.

Max quetschte den letzten Rest aus der Zahnpastatube auf die Bürste. Seine grün-braun gesprenkelten Augen fielen ihm immer wieder zu, während er sich die Zähne schrubbte. Dann versuchte er seine braunen Haare, die wie jeden Morgen in alle Richtungen abstanden, halbwegs in Form zu bringen. Es wurde mal wieder Zeit, dass er zum Friseur ging.

Vielleicht heute, auf jeden Fall würde er pünktlich gehen. Hoffentlich.

 

Das Auto sprang erst beim zweiten Versuch an.

„Reiß dich zusammen!“, sagte Max zu seinem alten Golf. „In zwei Wochen ist die Jahresinspektion, bis dahin musst du durchhalten!“

Ihm entging allerdings das seltsame Rasseln nicht, das gestern irgendwie noch nicht da gewesen war.

In der Firma war bereits Licht. Die ersten Elemente lagen schon auf dem LKW, und eine Stunde später fuhr der Laster dann wie geplant los. Max beschloss, sich dies rot im Kalender anzustreichen, denn normalerweise kam der Zustand ´planmäßig` in dieser Firma nicht vor.

Der Rest des Tages verlief dann allerdings alles andere als planmäßig. Max´ Hoffnungen, pünktlich nach acht Stunden das Gelände verlassen zu können, wurden zunichte gemacht, noch bevor er seinen Computer richtig hochgefahren hatte. Wie so oft kam der Chef ins Büro gestürmt, eine Skizze in der Hand. Er bräuchte diese ganz dringend als Zeichnung und die Kostenkalkulation dazu. Die Einwände, dass die Planung für den aktuellen Auftrag heute fertig werden müsste, wurden komplett ignoriert. „Nicht aufregen“, dachte sich Max. „Bloß nicht aufregen!“ Er atmete tief durch, ein und aus, ein und aus. Dann holte er sich aus der untersten Schublade seines Schreibtischs die Tafel Schokolade für den Notfall, stopfte sich drei Stücke auf einmal in den Mund und lutschte sie langsam auf. Er seufzte. Den pünktlichen Feierabend konnte er wohl vergessen. Wieder einmal. Resigniert holte er sich noch eine Tasse Kaffee und begann mit der Arbeit.

Am frühen Nachmittag kam der Chef wieder ins Büro gerannt. Der Architekt vom derzeitigen Auftrag bräuchte dringend die Planung zur Freigabe, die sollte doch schon längst fertig sein. Max holte tief Luft, um nichts Unüberlegtes zu sagen, und gab seinem Chef die Zeichnung und die Kalkulation, die er ja so dringend brauchte.

„Ich bin dabei!“, meinte Max.

Der Chef schaute auf das Papier in seiner Hand.

„Das hätte doch warten können, der Auftrag ist wichtiger, das habe ich Ihnen doch gesagt, Herr Anders!“

Wieder einmal fehlten Max die Worte bei dieser Dreistigkeit, ob dieser Kerl überhaupt noch schnallte, was er manchmal von sich gab?

„Ich mache es heute noch fertig“, sagte er brav.

„Gut. Legen Sie es mir auf den Tisch, ich will es mir vorher noch mal ansehen. Ich faxe es dann selbst weg.“

Und raus war er. Die Tür fiel hinter ihm krachend ins Schloss. „Na hoffentlich“, dachte sich Max. Allerdings war er sich sicher, dass die Zeichnungen morgen noch genauso daliegen würden. Wie immer.

Ein Blick auf die Uhr. In knapp einer Stunde wäre Feierabend. Theoretisch. Praktisch wohl eher in zwei bis drei Stunden. „Hör auf zu träumen, ran an die Arbeit!“, ermahnte Max sich selbst. Ein weiteres Türschlagen und ein anschließendes Beben, das sich durch den ganzen Bürotrakt bewegte, sagte ihm, dass der Chef das Gebäude verlassen hatte. Mit ein bisschen Glück würde er von weiteren Störungen verschont bleiben.

Um halb vier legte Max mit einem erleichterten Seufzer einen Stapel Zeichnungen auf den Schreibtisch seines Chefs. Nun schnell weg hier, bevor sich noch etwas zwischen ihn und seinen Feierabend stellte. Flink war alles ausgeschaltet und die Brotbüchse in den Rucksack geworfen. Die Sekretärin hatte sich schon längst verkrümelt, und die Werkhalle war ebenfalls leer. Wieso war er immer der Letzte?

Max stellte sich den Geschmack des frischen, heißen Kaffees vor, den er sich gleich zu Hause kochen würde, dazu das Stück von Mutters leckerem Käsekuchen von ihrem gestrigen Geburtstag.

Voller Vorfreude schlug er die Autotür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und ... nichts passierte. Der Anlasser heulte zwar, aber das Auto sprang nicht an, auch nicht beim zweiten und dritten Versuch. Schließlich gab Max auf. Wütend schlug er auf das Lenkrad. Das konnte doch einfach nicht wahr sein!

Schlecht gelaunt stand Max zwei Stunden später an der Straßenbahnhaltestelle. Er hatte eine halbe Stunde auf den Abschleppwagen warten müssen, und dann hatte sich noch herausgestellt, dass die Reparatur ein paar Tage dauern würde. Das passte ihm überhaupt nicht in den Kram. Dies war jetzt schon die zweite Reparatur in diesem Jahr. Allmählich wurde es wirklich Zeit für ein neues Auto oder zumindest ein nicht ganz so altes.

Die volle Straßenbahn verbesserte seine Stimmung auch nicht gerade. Der Typ, der sich neben ihn gesetzt hatte, stank nach einer Mischung aus ungewaschenen Klamotten, Alkohol, Zigarettenqualm und nach noch irgendetwas, über das sich Max lieber keine Gedanken machte. Während er sich bemühte, nur durch den Mund zu atmen, machte er sich innerlich Notizen, was er noch zu erledigen hatte. Zahnpasta kaufen (der Typ hatte sich bestimmt noch nie die Zähne geputzt!), Bahnverbindung für morgen heraussuchen. Der Friseur würde warten müssen (hoffentlich hatte der Kerl keine Flöhe oder Läuse!).

Max hielt es nicht mehr aus. Er hätte komplett die Luft anhalten müssen, um von dem penetranten Duft seines Nachbarn nichts mehr mitzubekommen. Er stand auf und drängelte sich in Richtung Tür. Der Gestank schien ihm zu folgen, darum stieg er eine Station eher aus und atmete tief durch.

Müde kam Max nach Hause. Der Supermarkt war nicht weniger voll gewesen als die Straßenbahn, und er hatte ganze zwanzig Minuten gewartet, um seine Tube Zahnpasta bezahlen zu können. Viel Zeit bis zum Schlafengehen war nicht mehr. Etwas essen, fernsehen, duschen und ab ins Bett. Was für ein Tag.

Müde ließ Max später den Kopf auf das Kissen sinken. Er rutschte ein paar Mal mit dem Hinterteil hin und her, bis es perfekt in der Kuhle ruhte, die er in monatelanger Kleinarbeit geformt hatte. Er zog die Decke bis zum Kinn, seufzte und schloss die Augen.

Der morgige Tag würde immer noch viel zu früh beginnen, auch wenn er eine Stunde länger als heute schlafen konnte. Laut Fahrplan würde er eine halbe Stunde mit der Bahn brauchen. Und wenn er den Fußweg dazurechnete, musste er schon eine Stunde einplanen. Was für verschwendete Zeit. Vielleicht sollte er zu einer Werkstatt wechseln, wo er immer einen Ersatzwagen bekam. Max drehte sich auf die Seite. Das half ihm momentan auch nicht weiter.

Schließlich schlief er ein.

Die andere Wirklichkeit

Plötzlich bekam Max einen Tritt in die Seite, begleitet von einem zornigen Schrei und gefolgt von einem dumpfen Geräusch, als ob jemand hingefallen wäre.

Noch halb im Schlaf, mit zugekniffenen Augen murmelte Max:

„Raus aus meinem Bett!“

Eine sich beinahe überschlagende Stimme schrie:

„Welches Bett? Du liegst mitten im Weg, du Idiot!“

Die Stimme schien einem älteren Jungen zu gehören. Grundsätzlich sprach er schon in einer tieferen Stimmlage, aber in seiner Wut erreichte er ungeahnte Höhen. Max hörte jemanden, eine Frau der Stimme nach, leise und beruhigend auf den jungen Mann einreden. Er schien sich wieder aufgerappelt zu haben und sich die Kleidung abzuklopfen, während er weiter vor sich hinschimpfte.

Max, immer noch mit geschlossenen Augen, dachte: „Seltsamer Traum, so realistisch!“ Die Seite, in die er den Tritt hineinbekommen hatte, tat weh. Und auch sein Bett fühlte sich so merkwürdig hart und steinig an.

„Was für ein Penner. Komm, lass uns weiter gehen!“, sagte der junge Mann.

„Wir können ihn doch nicht einfach hier liegen lassen!“, erwiderte die Frauenstimme besorgt.

„Wieso nicht?“

Etwas Feuchtes und Kaltes berührte Max´ Ohr und Gesicht.

„Hund, komm da weg!“, sagte die Frau. „Bei dem Gesindel, das heutzutage unterwegs ist, wäre das fast Mord. Wir selbst sind schon zweimal beinahe überfallen worden. Es war nur Zufall, dass wir uns rechtzeitig verstecken konnten! Und wenn er hier so liegen bleibt ...“

Max riss die Augen auf.

„Und? Außer diesem lächerlichen Anzug scheint er nichts dabei zu haben. Ein Überfall lohnt sich also gar nicht!“

Die Stimme gehörte nicht einem jungen Mann, sondern dem seltsamsten Wesen, das Max je gesehen hatte. Es schien ein kleiner Mann zu sein. Der lange, struppige Bart ließ darauf schließen, zumindest lang in Anbetracht seiner Körpergröße von höchstens einem Meter. Auch die Haare waren so lang, als ob sie nur sporadisch eine Schere zu Gesicht bekommen hatten. Und auf dem Kopf trug er tatsächlich eine Zipfelmütze. „Schneewittchen ist ein Zwerg abhanden gekommen!“, schoss es Max durch den Kopf. Allerdings war er sich sicher, dass Schneewittchens Zwerge zwei Beine besaßen. Dieser hier stand nur auf einem. Aber dafür schmückte ihn eine extrem lange Nase, die Pinocchio nach dem Lügen alle Ehre gemacht hätte. Sie endete in einem großen Gnubbel und sah merkwürdig gestaucht aus, als ob das Männchen oft darauffiele. War vermutlich auch so. Die Ohren rundeten das bizarre Aussehen ab oder spitzten es eher zu. Sie standen wie Segel unter der Mütze hervor. Nur durch sie konnte man erkennen, welcher Teil der Haare zum Bart und zum Haarschopf gehörte. Ihr oberer Teil war nicht rund, wie bei Max´ Ohren, sondern drehte sich zu einer Spirale.

Max rieb sich die Augen. Der Zwerg stand immer noch da und glotzte ihn böse an. Max schaute sich um. Er lag tatsächlich mitten auf einem Weg. Einem Weg, der durch einen Wald führte. Jetzt roch Max auch den Harzgeruch der Bäume und den erdigen Duft des Bodens. Er hörte Vögel zwitschern und das Rauschen des Windes in den Blättern. Langsam setzte er sich auf. Steine piekten in sein Hinterteil. Wo zum Teufel war er?

Weiter um sich blickend entdeckte er die Frau, deren Stimme er vorhin gehört, und den Hund, der ihn beschnuppert und mit der Nase berührt hatte. Die Frau war noch jung. Max schätzte sie um die achtzehn, neunzehn Jahre. Sie hatte eine schlanke, zierliche Figur, war etwas kleiner als er selbst, vielleicht eins siebzig groß. Die dunkelbraunen, fast schwarzen Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, und erstaunlich blaue Augen schauten ihn fragend an. Die helle Haut schien fast zu strahlen, aber Max hatte nur eines im Blick. Ihre Ohren waren spitz, so wie die der Elfen in den Filmen. Sie trug ein langes Kleid, das ihn irgendwie an ein Dirndl oder eine Tracht erinnerte, nur nicht so bunt und kunstvoll. Es war aus einfarbigem Stoff, mit einigen bunten Bändern verziert.

Das Männchen hatte eine Hose aus grobem Stoff an, dazu ein Hemd, das anstelle von Knöpfen mit Schnüren zusammengehalten wurde. Eine Lederjacke war an den Rucksack gebunden. Beide sahen aus, als ob sie schon eine Weile unterwegs waren, denn ihre Kleidung war staubig und zerknittert. Die Tasche, welche die junge Frau um die Schulter geschlungen hatte, war prall gefüllt, ebenso wie der Rucksack von dem Zwerg, den er abgesetzt hatte.

Der Hund, eine für Max nicht identifizierbare Mischung, kam wieder schnüffelnd näher.

„Hund, komm her!“, sagte die junge Frau.

Der Hund tat einen letzten Schnüffler und trottete zu ihr.

Hund, komm her. Wie wäre es mal mit einem richtigen Namen?“, hörte Max den Hund sagen. Hund setzte sich neben sie. Max starrte ihn entsetzt an. Er hatte gerade gehört, wie sich ein Hund über seinen Namen beschwert. Das war unmöglich, Hunde können nicht sprechen.

„Was gibt es da zu glotzen?“

Max kniff die Augen zusammen und zwickte sich kräftig in den Arm. Langsam öffnete er die Augen wieder. Hund betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf.

„Das hat wehgetan!“

Max schüttelte den Kopf, kniff die Augen wieder zusammen und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.

„Der dreht durch!“

Max machte die Augen wieder auf und sah, dass Hund die junge Frau fragend anschaute. Diese wiederum starrte Max mit einer Mischung aus Misstrauen und Besorgnis an und schien nicht im Geringsten auf die Kommentare des Hundes zu reagieren, als ob sie diese nicht hörte.

„Das ist ein Traum, das ist ein Traum!“, flüsterte Max verzweifelt zu sich selbst.

Das Männchen schnaubte ungeduldig, hievte seinen Rucksack auf die Schultern, schnallte den Bauchgurt fest und ging weiter. Das heißt, es sprang. Auf das Bein, auf das linke Ohr, dann wieder auf das Bein, auf die Nase und auf das rechte Ohr. Es sah beinahe akrobatisch elegant aus. Und der Springzwerg kam erstaunlich schnell voran. Fasziniert starrte Max dem kleinen Mann hinterher, der wie ein Gummiball den Weg entlanghüpfte.

„Nein, du träumst nicht!“

Die junge Frau beugte sich ein wenig zu ihm herunter. Sie hatte offenbar für sich entschieden, dass er vielleicht verrückt, aber nicht gefährlich war.

 

„Wir können hier nicht bleiben! Kommst du jetzt oder nicht?“

Sie hielt ihm ihre Hand hin. Immer noch völlig fassungslos nahm er sie und ließ sich hochziehen. Sie betrachtete zweifelnd seine Füße.

„Wo hast du deine Schuhe gelassen?“

Max schaute ebenfalls nach unten.

„Ich habe eben noch in meinem Bett gelegen. Da trage ich normalerweise keine Schuhe. Du etwa?“

Sie sah ihn nur verständnislos an.

„Geh besser auf dem Grasstreifen am Wegrand, sonst tust du dir noch weh.“

Max setzte sich in Bewegung. Er hoffte immer noch, dass er bald aufwachen würde. Aber der Wecker klingelte nicht.

Es schien früher Morgen zu sein, denn es war schon hell, aber die Sonnenstrahlen drangen noch nicht durch das Blätterdach, und die Luft war noch angenehm frisch. Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander. Der kleine Mann war hinter einer leichten Kurve verschwunden und Hund lief ein paar Meter vor ihnen her. Er blieb hier und da schnüffelnd stehen, um dann kurz das Bein zu heben.

„Ich bin Anemone, Anemone von Eisenberg“, sagte die junge Frau schließlich mit einem Seitenblick auf Max.

„Ich bin Maximilian Anders“, stellte Max sich vor.

Anemone sah ihn fragend an.

„Ich komme aus Magdeburg“, fügte er hinzu.

„Wo liegt Magdeburg, ich habe noch nie von einer Magdeburg gehört?“, fragte Anemone.

Neugier sprach aus ihrem Gesicht.

„Magdeburg ist eine Stadt und sollte eigentlich genau hier liegen.“

Max schaute sich betrübt um.

Der Wald lichtete sich allmählich. Erste Sonnenstrahlen tanzten auf dem Weg. Durch die Bäume hindurch konnte Max Felder und Wiesen erkennen. Anemone blickte skeptisch drein.

„Ich kenne nur eine Stadt, Altseeburg, die Hauptstadt der Welt!“, sagte sie und sah Max herausfordernd an.

Max zuckte nur mit den Schultern.

„Magdeburg ist eine mittelgroße Stadt mit ungefähr 100.000 Einwohnern, glaub ich, weiß nicht genau.“

Anemone glotzte ihn mit offenem Mund ungläubig an.

„100.000! Du irrst dich. So viele Menschen können unmöglich in einer Stadt leben. Nicht mal in Altseeburg leben so viele. Du meinst bestimmt hundert!“

Sie nickte zur Bestätigung.

Hund, angelockt von Anemones Ausruf, hatte sich zurückfallen lassen und trottete nun zwischen ihnen. Er schaute Max von unten her neugierig an.

„Sie weiß alles, sie ist schon neunzehn!“

Der Spott war nicht zu überhören. Hund ließ die Zunge hängen und schien frech zu grinsen. Max grinste unwillkürlich zurück, bevor ihm einfiel, dass er Hund eigentlich nicht hören sollte. Verlor er vielleicht den Verstand?

Er wandte sich wieder an Anemone, die offensichtlich Hunds Kommentar wieder nicht gehört hatte und immer noch auf eine Antwort wartete.

„Ich habe mich nicht geirrt. Hundert Einwohner ergeben ja noch nicht mal ein Dorf! Magdeburg ist groß genug für eine S-Bahn und eine Straßenbahn. Mal davon abgesehen gibt es weitaus größere Städte mit Millionen von Einwohnern!“ Max schaute in Anemones verstörtes Gesicht. „Was ist?“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf, sah ihn wieder an, offensichtlich nach den richtigen Worten suchend. „Ich bin nicht verrückt!“, kam er ihr zuvor. „Obwohl ich mir da mittlerweile nicht mehr so sicher bin!“

Er verstummte hilflos und warf einen unsicheren Blick auf Hund, der ihn nur interessiert ansah.

Er spürte das Gras unter seinen Füßen und die sich in der Sonne erwärmende Luft. Wenn dies kein Traum war, was war es dann?

„Wo bin ich?“, fragte er Anemone schließlich, die immer noch ein Gesicht zog, als ob sie es mit einem Geistesgestörten zu tun hatte.

„Du bist auf der großen Nord-Süd-Straße“, antwortete sie, nun verwirrt, da die Antwort für sie ja offensichtlich war. „Na, immerhin was!“, dachte Max säuerlich. „Sehr präzise!“

„Die Straße scheint recht lang zu sein, kannst du dich etwas genauer fassen? Welches Land, welche Gegend?“

In Anemones Gesichtsausdruck schlich sich allmählich Angst.

„Land? Ich kenne kein Land. Wir sind hier auf der großen Nord-Süd-Straße, auf dem Weg nach Altseeburg. Das Mittlere Gebirge liegt hinter uns.“

Sie blickte ihn ängstlich an.

„Du führst doch nichts Böses im Schilde, oder?“

Max sah, dass sie sich anspannte um wegzulaufen.

„Nein, auf gar keinen Fall, ich weiß doch selbst nicht, was passiert ist“, sagte er in einer, wie er hoffte, beruhigenden Stimme. „Alles, was ich weiß, ist, dass ich gestern Abend in Magdeburg ins Bett gegangen bin und heute Morgen von dem Zwerg da vorne mit einem Tritt aus dem Schlaf gerissen wurde. Ich weiß nicht, wo ich bin oder in welcher Zeit ich mich befinde. Ich weiß überhaupt nichts.“

Max atmete tief durch, um die aufkeimende Panik zu unterdrücken.

„Verrückt!“

Hund grinste.

Das ´Halt die Klappe!` verkniff sich Max gerade noch so. Auf die wahrscheinlich eingebildeten Kommentare der Promenadenmischung zu reagieren, würde ihn nicht gerade besser dastehen lassen.

Anemone hatte sich wieder entspannt. Sie blickte nachdenklich dem springenden Zwerg hinterher.

„Du hast auf einmal auf der Straße gelegen. Nicht hinter einer Kurve oder so. Wir hätten dich schon von weitem sehen müssen, es war hell genug. Du bist plötzlich vor Mimbelwimbels Füßen aufgetaucht, und er ist in hohem Bogen auf die Nase gefallen.“ Sie kicherte. „Sah lustig aus!“

Sie blickte wieder, diesmal schadenfroh grinsend, dem kleinen Mann hinterher.

„Was ist ein Mimbelwimbel?“, fragte Max.

„Du weißt nicht ...?“

Anemone sah ihn erstaunt an. Max zog Augenbrauen und Schultern hoch.

„Ich bin erst vor einer halben Stunde oder so hier gelandet, schon vergessen?“

Sie hatten den Waldrand erreicht. Max kniff für einen Augenblick die Augen zum Schutz vor der Helligkeit zu einem Schlitz zusammen. Er sah Getreidefelder und Wiesen, die sanfte Hügel bedeckten. Mit einer Hand beschirmte er seine Augen.

Sie standen momentan auf einer erhöhten Stelle, so dass er zwischen den Hügeln vereinzelte Dächer sehen konnte. Am Horizont erstreckte sich wieder Wald. Der Himmel war klar und wolkenlos und versprach einen warmen Tag. Zumindest die Jahreszeit schien zu passen.

Er warf Anemone einen Blick zu.

„Vielleicht erzählst du mir ein wenig über diese Welt“, schlug er vor.

Sie nickte.

„Ist wahrscheinlich besser. Vielleicht hast du auch nur dein Gedächtnis verloren, und dir fällt dann alles wieder ein.“

Auf Max´ skeptischen Blick hin zuckte sie mit den Schultern.

„Könnte ja sein. Zu Hause ist das einer der Mägde passiert. Sie war die Treppe runter auf den Kopf gefallen und konnte sich tagelang an nichts erinnern! Na egal, womit fangen wir am besten an?“

Sie sah Max fragend an. Der zeigte auf den Ball in Menschengestalt.

Anemone nickte.

„Mimbelwimbel ist ein Wobbelhobbel. Was?“, unterbrach sie sich.

Max hatte bei dem Wort Wobbelhobbel breit gegrinst.

„Wobbelhobbel hört sich wie eine Krankheit an.“

Anemone lachte.

„Nun, sie sind ganz in Ordnung, obwohl sie oft unter schlechter Laune leiden. Er ist ziemlich häufig am meckern ...“

Sie verstummte kurz, um sich die nächsten Worte zu überlegen.

„Am bekanntesten sind die Wobbelhobbel für ihre Handelsorganisation. Sie haben ein Netzwerk im gesamten bewohnten Teil der Welt. Ein Wobbelhobbel kann dir alles besorgen, egal, wie verrückt oder selten es ist. Einen kleinen Teil ihrer Ware stellen sie selbst her. Wobbelhobbel sind die geborenen Bergarbeiter, muss wohl an der Größe liegen, da müssen sie nicht allzu große Löcher buddeln, um an das Erz zu kommen. Sie haben ein Gespür für Edelmetalle und Edelsteine wie niemand sonst. Einen großen Teil der Edelsteine verarbeiten sie selbst zu Schmuck. Die Stücke sind heiß begehrt und werden oft von Generation zu Generation weitervererbt. Und sie sind bekannt für die edlen Stoffe, die sie weben. Das Festkleid meiner Mutter hat ein Vermögen gekostet.“

Sie legte die Stirn nachdenklich in Falten.

„Was willst du noch wissen, Maximilian?“

Max zuckte zusammen. Seine Mutter nannte ihn immer bei seinem vollen Namen, wenn er ihrer Meinung nach etwas Ungezogenes angestellt hatte. Für sie war er nie erwachsen geworden, dementsprechend behandelte sie ihn auch immer noch wie einen Teenager. Er mochte es lieber, wenn man ihn Max nannte. Er ärgerte sich hinterher jedes Mal, wenn er sich mit vollem Namen vorgestellt hatte. Dumme Angewohnheit.

„Sag Max!“, meinte er. „Erzähl mir etwas über diese Welt. Ich meine, du hast gesagt, es gibt kaum Städte. Was gibt es dann? Wie lebt man hier denn so?“

Max kam sich bei dieser Frage ziemlich dämlich vor. Er hasste es nicht Bescheid zu wissen, um entsprechend reagieren zu können. Er versuchte sich immer im Voraus zu informieren, um nicht allzu dumm dazustehen. So wie jetzt.

Anemone klopfte sich mit dem Finger gegen die Nase.

„Na ja, so viel bin ich nun auch noch nicht rumgekommen. Mimbelwimbel kann dir da mehr erzählen. Es ist meine erste Reise, ich bin noch nie von zu Hause weg gewesen.“

Anemone verstummte, in Gedanken versunken. Doch bevor Max nachhaken konnte, sprach sie weiter:

„Von durchreisenden Händlern, die regelmäßig nach Eisenberg kommen, weiß ich, dass es außer Altseeburg noch andere Städte irgendwo in entfernten Teilen der Welt gibt. Altseeburg aber ist die Hauptstadt der Welt, ihr Zentrum. Der Handel läuft dort zusammen, die Regierung hat ihren Sitz ebenfalls in Altseeburg, und die Weise Magna soll in den Höhlen unter der Burg leben. Ansonsten gibt es Dörfer, manchmal vereinzelte Höfe, aber das ist eher die Ausnahme. Im Dorf ist es sicherer. Es gibt nicht nur Landwirtschaft, sondern viele Berufe und Gewerke.“

Anemone zuckte mit den Schultern, fertig mit ihrer Ausführung. Max hätte es gerne noch etwas ausführlicher gehabt, aber so wie es aussah, würde er Anemone nach und nach die Dinge, die ihn noch interessierten, aus der Nase ziehen müssen. Ihm brannte vor allem die Frage auf der Zunge, was sie eigentlich hier machte, wieso sie mit einem griesgrämigen Wobbelhobbel und diesem merkwürdigen Hund unterwegs war.

„Mehr fällt mir jetzt nicht ein, aber ich rufe Mimbelwimbel, damit er dir noch etwas mehr erzählt.“

Sie schickte Hund, um den Wobbelhobbel anzuhalten.

„Könnten wir vielleicht eine kleine Pause machen?“, fragte Max.

Sie waren zwar schätzungsweise erst eine Stunde unterwegs, aber eine Stunde barfuß ist eine lange Zeit. Anemone nickte.

„Wir müssen dir unbedingt ein Paar Schuhe besorgen. Und Kleidung!“, fügte sie mit einem Blick auf seinen bunt gestreiften Schlafanzug hinzu.