Loe raamatut: «Vermisst», lehekülg 5
16
Jack versuchte schon seit über einem Jahr einen Krimi zu Ende zu lesen. Das Buch war an sich okay. Nur war Jack nie ein eifriger Leser gewesen, deswegen dauert es so lange. Er las ab und an ein paar Seiten, hatte Mühe sich zu erinnern, was vorher passiert war, und legte das Buch wieder beiseite. Weil es so lange offen dagelegen hatte, war der Buchrücken zerknickt.
Das Badezimmer des Anwalts war fertig. Jack hatte den Großteil der Arbeit alleine erledigt und sich nur dann Hilfe geholt, wenn es unumgänglich gewesen war. Er hatte die Männer nicht nach ihren Namen gefragt und nicht mit ihnen gesprochen. Und immer hatte er Ausschau nach dem schwarzen SUV und den Cops gehalten, aber niemanden gesehen. Er zahlte den Männern ihren Lohn und schickte sie anonym wieder ihres Weges. Es war besser so.
Jetzt hatte er frei. Und Lust, ein paar Seiten zu lesen, also machte er sich einen Krug Kool-Aid und setzte sich auf die hintere Terrasse. Er besaß einen kleinen, runden Tisch aus Eisen, der die richtige Höhe hatte, um das Getränk darauf abzustellen und sich daneben in einen Klappstuhl zu setzen. Eine rot-weiße Markise hielt die Sonne ab, nicht aber die Hitze. Krug und Glas begannen sofort zu schwitzen.
Er las zwei Stunden am Stück, was mehr war als in den letzten drei Monaten zusammen. Der Held hatte gerade den Kopf des Mannes entdeckt, den er suchen sollte. Die Story nahm Fahrt auf. Jack bekam kaum mit, dass die Hintertür aufgeschoben wurde.
»Jack.«
»Hmm?«
Lidia trug kühle, helle Kleidung und verströmte vom Liegen auf ihrem Lieblingsplatz, dem Sofa, schwach den Geruch des Hauses. Sie baute sich vor Jack auf und sah mit verschränkten Armen auf ihn herab. »Wir müssen reden«, sagte sie.
Jack legte das Buch auf den Tisch. Die Seiten streiften über den Krug, die Feuchtigkeit färbte das Papier dunkel. »Worüber?«
»Marina geht heute Abend zum Konzert.«
»Ja, stimmt, ich weiß.«
»Was ist mit mir?«
»Was soll mit dir sein?«
»Ich meine, was soll ich heute Abend machen? Krieg ich nichts Besonderes?«
Lidia war ein Teenager, aber in solchen Momenten sah Jack immer noch das kleine Mädchen in ihr. Die verschränkten Arme wirkten so pummelig wie früher als Kind. Sie zog einen Schmollmund.
Jack hob die Hände. »Ich weiß nicht, was schwebt dir vor?«
»Du hast mich nie gefragt, ob ich heute irgendwo bei einer Freundin übernachten möchte.«
»Hätte ich das tun sollen?«
»Du hättest fragen können.«
»Schon gut. Okay. Tut mir leid, dass ich nicht gefragt habe. Möchtest du irgendwo bei einer Freundin übernachten?«
»Jetzt ist es zu spät dafür, Jack. So kurzfristig klappt das nicht mehr.«
»Warum hast du dann nicht früher was gesagt?«
»Ich dachte, du würdest fragen.«
Jack rieb sich mit Daumen und Zeigefingern die Augen, bis er Farben sah. Er atmete ein, dann aus, und sagte: »Es tut mir leid, dass ich nicht gefragt habe. Was soll ich jetzt tun?«
»Ich weiß nicht. Was Besonderes.«
»Wir könnten eine Pizza bestellen.«
»Ich würde lieber essen gehen.«
»Okay, gehen wir essen. Wo möchtest du hin?«
»Wie wäre es mit italienisch?«
»Gut. Italienisch klingt gut.«
»Und ich will einen Film ausleihen.«
»Wir können uns auch einen Film ausleihen, wenn du das möchtest. Im Supermarkt steht jetzt so ein Automat. Du kannst dir einen Film aussuchen. Welchen du willst.«
Lidia sah ihn an, die Arme noch immer verschränkt. Dann ließ sie sie sinken. »Okay.«
Jack versuchte es mit einem Lächeln. »Okay?«
»Es ist bloß, ich darf nie was Cooles machen.«
»Weil du dreizehn bist. Wenn du älter wirst, darfst du mehr machen. Deine Zeit wird kommen«, sagte Jack.
»Ich will nicht zickig sein.«
»Das weiß ich doch.«
»Können wir vor Marina losgehen, damit sie weiß, dass sie was verpasst?«
»Das können wir machen«, sagte Jack. »Ich ziehe mir sogar ein frisches Hemd an. Willst du Kool-Aid?«
»Nein, danke. Von den Farbstoffen kann man krank werden.«
Jack schenkte sich nach. Der Krug war halb leer. »Hat mich noch nie krank gemacht«, sagte er.
»Dich kann nichts unterkriegen, Jack«, sagte Lidia und ging wieder ins Haus.
Er betrachtete die rote Flüssigkeit im Glas, in der halbgeschmolzene Eiswürfel trieben. Von Lebensmittelfarbe konnte man krank werden? Was würden die sich als Nächstes ausdenken? Jetzt mussten schon Kinder auf Dreirädern Ellbogenschützer und Helme tragen, und jeden Tag kam eine neue Warnung, was man besser nicht essen sollte. Vilma hatte es besser gewusst. Sie hatte ihre Kinder nie überbehütet.
Ihre Kinder. Seine und ihre.
Zuerst hatten sie gedacht, Vilma wurde nur deswegen nicht schwanger, weil sie schon älter war oder zu viel arbeitete oder aus irgendeinem anderen Grund, den noch keiner entdeckt hatte. Dann hatten sie eine Zeit lang geglaubt, Jack wäre das Problem. Sie hatten nicht geahnt, dass das Schicksal die Dinge in die Hand genommen hatte und ihnen dieses Eine verweigerte, weil es ihnen noch viel mehr nehmen würde.
Vielleicht wären sie sonst besser vorbereitet gewesen, hätten eher auf die frühen Warnzeichen geachtet. Die Ärzte hatten versichert, nein, es hätte keinen Unterschied gemacht, aber Jack wurde das Gefühl nicht los, irgendeinen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Wenn er nur auf einen weiteren Test bestanden hätte, auf noch eine weitere Untersuchung. Aber das hätte Vilma die Verantwortung abgenommen und sie allein in seine Hände gelegt. So funktionierte es nicht.
Er trank das Glas aus, die Eiswürfel klackerten gegen seine Zähne. Er öffnete den Mund und schluckte sie herunter: zwei kalte Klumpen rutschten in die Tiefe, wo sie wie schlechte Gefühle und Zweifel verschwinden würden. Ihre Kinder. Seine und ihre.
Heute würde er nicht mehr weiterlesen. Die Lust hatte ihn verlassen, das Buch lag da und würde auf ihn warten. Eines Tages würde er erfahren, was es mit dem Kopf des toten Mannes auf sich hatte, aber nicht jetzt.
Jack stand auf und sammelte seine Sachen ein. Er musste sich um die Wäsche kümmern.
17
Marina hatte ihr neues Kleid angezogen. Jack war genauso unglücklich darüber wie an dem Tag, als sie es gekauft hatte. Dazu trug sie Pumps, und er fragte, wie sie mit den Dingern tanzen wollte. »Ich hab’s kapiert, Jack«, sagte sie.
»Was ist mit dem Pulli?« Jack ließ nicht locker.
»Es sind zweiunddreißig Grad«, erwiderte sie.
»Heute Nacht kühlt es ab. Dann wirst du froh sein, ihn dabei zu haben.«
»Schon gut. Ich nehme den blauen mit, den du mir zu Weihnachten geschenkt hast.«
Er machte Wirbel um sie, obwohl er wusste, dass sie das nicht ausstehen konnte. War ihre Tasche fertig gepackt? War ihr Handy aufgeladen? Hatte sie alle für die Grenzüberquerung notwendigen Papiere? Sie beantwortete alle Fragen mit Ja, und Jack wusste sowieso, dass sie an alles gedacht hatte: Sie war verantwortungsvoll und dachte mit. Das hatte er ihr beigebracht, und davor Vilma.
Sie standen auf dem Rasen vor dem Haus. Marina hatte ihre Tasche über der Schulter. »Lass dich noch mal ansehen«, sagte Jack.
»Ich bin nur eine Nacht weg«, sagte Marina. »Ich ziehe nicht aus.«
»Ich will nur, dass es dir gut geht«, sagte Jack.
»Ich weiß. Aber im Ernst, der Pulli? Den lasse ich einfach im Auto liegen.«
»Dann lass ihn im Auto.«
»Mache ich.«
»Gut.«
Er sah ihr nach und winkte, bis der kleine Galant außer Sichtweite war. Auf dem Weg ins Haus hoffte er insgeheim, dass man sie an der Grenze vielleicht abweisen und nach Hause schicken würde, und dann würde er sich keine Sorgen machen müssen. Vielleicht wäre das überhaupt das Beste.
Lidia fing ihn an der Tür ab. Sie trug einen Rock und eine hübsche Bluse. »Hey, ich dachte, wir wollten vor ihr los«, sagte sie.
»Sie ist ein bisschen früher gefahren. Keine Sorge, sie weiß, dass sie was verpasst.«
»Gut.«
Jack zog sich um, ein weißes Hemd und eine frische Jeans, und überlegte sogar, ein Bolotie umzubinden, entschied sich aber dagegen. So toll war das Restaurant nicht, und er wollte niemanden beeindrucken. Nach Vilma war er nie wieder mit einer Frau ausgegangen. Er bezweifelte, dass ihn noch jemand attraktiv finden würde.
Sie fuhren zu dem Familienrestaurant, in dem sie schon x-mal gewesen waren. Die Betreiber waren keine Italiener, sondern Mexikaner, doch das Essen schmeckte authentisch, und im Hintergrund lief immer Frank Sinatra oder irgendein anderer italienischer Schnulzensänger.
Lidia bestellte eine Vorspeise, Jack tat es ihr nach. Der Kellner hielt ihm die Weinkarte hin. »Nein, danke«, sagte Jack. »Ich bleibe bei Wasser.«
Als der Kellner gegangen war, fragte Lidia: »Warum trinkst du eigentlich keinen Wein? Ist es wegen –?«
»Nein, nicht deswegen. Vermutlich gibt es zwei Arten von Menschen: Weintrinker und Biertrinker. Und ich bin nun mal zufällig Biertrinker. Wein ist bloß vergorener Traubensaft.«
Lidia lächelte. »Der ist gut. Den merke ich mir.«
Das Essen kam. Es war noch früh, das Restaurant leer, nur ein paar Familien saßen schon im Speisesaal. Ein Kleinkind in einem Hochstuhl richtete mit einem kleinen Teller Spaghetti einen wahren Saustall an. Es waren mehr Nudeln an als in dem Kind. Jack musste lächeln.
»Was wohl Marina gerade macht?«, fragte Lidia.
Jack sah auf die Uhr. »Keine Ahnung. Brezelt sich noch mehr auf. Schwatzt mit deiner Cousine. Du verpasst nichts.«
»Wie alt muss ich sein, damit ich zu einem Konzert gehen darf?«
»Warten wir ab, wie es heute Abend läuft. Wenn deine Schwester auch nur den geringsten Unsinn macht, friert eher die Hölle zu, als dass ich euch beide noch mal aus den Augen lasse.«
»Das sagst du bloß so.«
»Glaub mir.«
Dean Martin sang »Ain’t That a Kick in the Head«. Das Essen schmeckte gut, die Portionen waren groß. Jack wusste, dass er sich zurückhalten sollte, aber es war ein besonderer Abend, und für besondere Abende galten besondere Regeln. Er bestellte sogar einen Nachtisch, den sie sich teilten, und dann noch einen Kaffee hinterher.
»Hast du dir überlegt, welchen Film du heute Abend sehen willst?«, fragte er Lidia.
»Ich hab Lust auf eine Komödie. Mit Romantik. Was ist?«
»Nichts. Romantik ist gut.«
»Du hast ein Gesicht gezogen!«
»Hab ich nicht«, sagte Jack. »Komm, wir zahlen und verschwinden.«
Als sie auf dem Weg nach draußen waren, kamen ihnen neue Gäste entgegen, der Eingang war voller Menschen. Jack bahnte den Weg und hielt Lidia die Tür auf. Draußen auf dem Parkplatz war es schon nicht mehr so warm wie am Nachmittag, obwohl der Asphalt immer noch Hitze abstrahlte.
Der Supermarkt lag auf dem Weg. Jack wartete, während Lidia sich langsam durch das Angebot im Automaten klickte. Als ein Mann hinter ihnen ungehalten wurde, sah Jack ihn stirnrunzelnd an, und der andere senkte den Blick. Am Ende entschied sich Lidia für einen wahrscheinlich furchtbaren rosa Mädchenfilm, und Jack bezahlte.
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Popcorn auf dem Sofa. Jack hasste den Film nicht ganz so sehr wie befürchtet, und Lidia sagte hinterher, sie hätte ihn irgendwie albern, aber lustig gefunden. Sie gingen beide später zu Bett als sonst.
Jack lag noch wach und lauschte dem Rauschen der Klimaanlage. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte an, dass es fast elf war. Bald ging das Konzert zu Ende, und Marina wäre um Mitternacht wieder bei Bernardo. Jack hoffte, dass sie sich amüsierte und dass sie den Pulli angezogen hatte.
Teil 2
1
Am Morgen stand Jack leise auf, duschte und rasierte sich und ging in Shorts und T-Shirt in die Küche. Heute musste er nirgendwohin und nichts tun, was ihm ausgesprochen gut gefiel. Der Essensgeruch lockte Lidia aus ihrem Zimmer, sie genossen das gemeinsame Frühstück.
»Wann kommt Marina nach Hause?«, fragte Lidia.
»Keine Ahnung. Warum?«
»Ich dachte, wir könnten schwimmen gehen. Du kannst auch mit.«
»Nee, ich schwimme nicht gern.«
»Du musst ja nicht schwimmen. Du kannst auch nur die Füße ins Wasser halten.«
»Mal sehen.«
Sie erledigten den Abwasch, Lidia ging sich anziehen. Jack hörte das Klingeln seines Handys im Schlafzimmer erst, als fast schon die Mailbox angesprungen wäre. Er lief hin.
»Hallo?«
»Jack, Bernardo hier.«
»Hey, Bernardo. Ich wollte dich nachher anrufen.«
»Jack, ist Patricia bei dir?«
Bernardos Ton war scharf, und die Frage blieb lange im Raum hängen, bevor Jack begriff, was sie bedeutete. Er stürmte zu Marinas Zimmer und stieß die angelehnte Tür auf. Das Bett war ordentlich gemacht, Marinas Sachen aufgeräumt.
»Jack? Bist du noch da?«
»Ich bin da. Nein, Patricia ist nicht hier. Marina ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie sollte doch bei euch übernachten.«
»Ich weiß, Jack. Ich habe spät abends einen Anruf auf dem Handy bekommen, bin aber nicht drangegangen. Es war Patricia. Sie hat keine Nachricht hinterlassen. Ich dachte, vielleicht haben sie es sich anders überlegt und sind zu dir gefahren.«
Jack suchte Halt an der Wand. Lidia tauchte mit fragender Miene aus ihrem Zimmer auf, Jacks Blick ließ sie verstummen. »Davon weiß ich nichts«, sagte er zu Bernardo. »Ich habe keine Nachricht bekommen.«
»Das ist nicht gut«, sagte Bernardo, und Jack hörte die Angst in seiner Stimme. »Ich rufe die Polizei an. Ich lege jetzt auf und rufe die Polizei an.«
»Okay, okay. Ruf die Polizei an. Ich komme rüber, so schnell ich kann.«
»Ist gut, Jack. Bis nachher.«
Sie legten auf.
»Jack, was ist los?«, fragte Lidia.
»Es geht um deine Schwester«, sagte er. Er sah die Panik in ihrem Gesicht und streckte beruhigend die Hand aus. »Ihr ist nichts passiert. Das ist es nicht. Onkel Bernardo hat gesagt, sie und Patricia sind letzte Nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Woher willst du dann wissen, dass ihr nichts passiert ist?«
»Ich will im Moment nicht daran denken. Hol deine Schuhe, wir fahren los. Ich ziehe mich um. Wir müssen los.«
Zuerst wählte er noch Marinas Nummer. Es klingelte fünf Mal, dann ging die Mailbox an. Er hinterließ eine Nachricht und wählte die Nummer erneut. Wieder Klingeln. Wieder die Mailbox.
Während Jack sich umzog, wartete Lidia schon ungeduldig am Truck. Beim Abschließen der Haustür zitterte seine Hand, aber als er am Wagen war, hatte sie sich beruhigt.
So früh am Morgen rollte nur wenig Verkehr in Richtung Nuevo Laredo. Vor dem amerikanischen Zoll zitterte Jacks Hand wieder, er packte das Lenkrad fester.
Er versuchte, nicht das Offensichtliche zu denken: dass Marina niemals hätte gehen dürfen, dass er es nicht hätte erlauben dürfen. »Nicht jetzt«, sagte er laut.
Der Grenzbeamte forderte ihn auf, das Fenster zu öffnen. Jack hatte seinen Pass bereits auf dem Schoß liegen, und Lidia reichte ihren hinaus.
»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte der Beamte.
Jack sah ihn scharf an. »Was?«
»Schön, Sie wiederzusehen. Sie sind neulich erst hier durchgekommen.«
Jack zwang sich, den Namen des Mannes zu lesen. Gallego. Er erinnerte sich nicht, nickte aber und bemühte sich zu lächeln. »Stimmt«, sagte er. »Wir kommen öfter.«
»Ist alles in Ordnung?«
Gallegos Augen waren hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen, die er trug, obwohl es gar nicht besonders hell war. Jack suchte sich einen Punkt auf seiner Stirn und konzentrierte sich darauf.
»Wir haben heute Morgen schlechte Nachrichten bekommen«, sagte er. »Familiensache.«
»Nichts Ernstes, hoffe ich.«
»Das hoffe ich auch.«
Gallego hielt die Pässe noch ein wenig länger in der Hand, und Jack dachte schon, er würde sie zum Aussteigen auffordern, doch dann gab er sie zurück. »Seien Sie drüben vorsichtig«, sagte er. »Anscheinend ist es heute Morgen zu einer heftigen Schießerei gekommen. Da will man nicht zwischen die Fronten geraten.«
»Wir passen auf.«
»Okay. Fahren Sie weiter.«
Jacks Gedanken schwirrten schon, bevor er das Fenster wieder zugemacht hatte. Er stellte sich alle möglichen Szenarien vor, die er nicht in Worte fassen wollte. Eine Schießerei am Morgen, aber wo? Wer hatte geschossen? Wer war verletzt worden? Marina war sicher so spät nicht mehr unterwegs gewesen, redete er sich beruhigend ein, selbst wenn die Mädchen beschlossen hatten, nicht bei Bernardo zu übernachten. Außerdem, wenn eine Amerikanerin verletzt worden wäre, wäre das bestimmt schon bekannt, oder nicht?
Eine Straßensperre der Armee blockierte den direkten Weg zu Bernardo, sie mussten einen Umweg nehmen. Militärfahrzeuge summten durch die Innenstadt wie wütende Hornissen, die man in ihrem Nest gestört hatte. Ihr Anblick beruhigte Jack. So viele Soldaten, einer musste doch etwas gesehen haben. Vielleicht hatte Marina an einer Straßensperre umdrehen müssen und sich dann verfahren. Das konnte doch sein.
Mit einer Hand am Steuer rief Jack erneute Marinas Handy an. Klingeln, Mailbox. Er musste sich zusammenreißen, um nicht sein Telefon aus dem Fenster zu schmeißen. »Tu mir einen Gefallen«, sagte er zu Lidia. »Ruf deine Schwester an. Immer wieder, auch wenn sie nicht antwortet.«
»Okay, Jack«, sagte Lidia, und Jack hörte, dass ihre Stimme sich vor Angst zu überschlagen drohte. Nicht jetzt. Noch nicht.
2
Reina umarmte Jack fest. Sie sah aus, als wäre sie schon seit einiger Zeit den Tränen nahe, wollte aber nicht klein beigeben. Jack hörte Bernardo im Wohnzimmer telefonieren. Als er eintrat, winkte Bernardo nur kurz.
»Ja, ich verstehe, dass Sie viel zu tun haben«, sagte Bernardo ins Telefon. »Deswegen habe ich ja so lange gewartet, um jemanden sprechen zu können. Mir ist klar, dass es schwierig ist. Ja, ich bleibe dran.«
»Was ist los?«, fragte Jack Reina.
»Die Polizei dreht durch wegen der Schießereien heute Morgen«, sagte Bernardo. »Alle sind unterwegs, heißt es. Aber irgendwer muss ja mal aufs Revier zurückkommen und meinen Bericht aufnehmen.«
»Kann nicht jemand hierherkommen?«, fragte Jack.
»Habe ich schon gefragt. Im Moment ist niemand verfügbar.«
»Irgendwer muss doch da sein!«
»Ich versuch’s ja, Jack. Wir müssen Geduld haben.« Bernardo richtete sich auf. »Ja, ich bin noch dran.«
Jack wandte sich an Reina. »Wann habt ihr gemerkt, dass sie nicht nach Hause gekommen sind?«
»Heute Morgen. Wir hatten sie nicht vor Mitternacht erwartet und waren ins Bett gegangen. Ich hatte noch überlegt, wach zu bleiben, aber eigentlich habe ich mir keine Sorgen gemacht. Bei solchen Veranstaltungen sind immer so viele Polizisten anwesend. Es tut mir so leid, Jack.«
»Ich hätte anrufen sollen. Ich hätte Marina sagen müssen, sie soll mich anrufen.«
Reinas Gesicht verzog sich, wieder hielt sie die Tränen zurück. »Ich hole dir was zu trinken«, sagte sie. »Lidia, komm, hilf mir.«
Sie verließen das Zimmer. Jack sah Bernardino und Leandra aus dem Flur um die Ecke schauen. Leandra hielt eine nackte Puppe umklammert. Als Jack die beiden anlächelte, schraken sie zurück. Er wandte sich ab.
Lidia brachte ihm eine Tasse Kaffee, die er nicht wollte. Reina drückte Bernardo ebenfalls eine Tasse in die Hand. »Komm, setz dich«, sagte sie zu Jack. Er tat ihr den Gefallen. Sie nahm neben ihm Platz. »Wir haben einige von Patricias Freunden angerufen, um zu fragen, ob sie vielleicht dort wären. Alle haben Nein gesagt.«
An Jacks Kühlschrank hing ein mit Magneten befestigter Zettel. Darauf standen etwa ein halbes Dutzend Namen und Nummern von Marinas engen Freunden. Jack fluchte innerlich. Warum hatte er den Zettel nicht mitgenommen? Dann könnte er jetzt auch etwas tun, anstatt Bernardo zuzusehen.
»Wahrscheinlich sind sie zu Freunden gegangen, die wir nicht kennen«, fügte Reina hinzu. »Und sind jetzt immer noch da.«
Jack hätte gerne daran geglaubt. Es war vorstellbar, dass Marina gefeiert und unerlaubt Alkohol getrunken hatte und sich jetzt irgendwo versteckte, bis der Kater sich verzogen hatte, ohne dass ihr jemand Vorhaltungen machte. Reina und Bernardo kannten sicher nicht alle Freunde von Patricia. Jack kannte nicht alle Freunde von Marina. Irgendwer würde sich bald melden.
Lidia stand verloren neben ihm. »Rufst du immer noch deine Schwester an?«, fragte Jack.
»Nein, ich hab damit aufgehört.«
»Mach weiter. Ruf noch zehn Mal an.«
»Sie geht nicht ran, Jack!«
»Ist mir egal! Wenn es nicht klingelt, kann sie auch nicht rangehen!«
Er hatte Lidia nicht anbrüllen wollen. Sie verzog sich mit ihrem Handy in die Küche. Jack wollte sie rufen und sich entschuldigen. Vielleicht später.
Der Kaffee schmeckte wie Asche. Bernardo lief auf und ab, ohne einen Schluck zu trinken, und blieb dann am Fenster stehen, als hoffte er, seine Tochter und Nichte würden jeden Moment durchs Tor kommen. Ab und an versicherte er der Person am anderen Ende der Leitung, dass er weiterhin dran bliebe. Jack wollte aufstehen und ebenfalls hin und her laufen.
Lidia kam aus der Küche. »Ich hab’s zehn Mal versucht, Jack.«
»Dann –« Jack hielt inne. Versuch’s noch zehn Mal, dachte er. Mach weiter, bis dir das Ohr wehtut, weil du horchst, ob am anderen Ende endlich jemand abhebt. »Okay. Komm und setz dich.«
»Ich sehe mal nach Leandra.«
»Ist gut. Ich bin hier.«
Reina knetete mit solcher Kraft ihre Hände, dass es schmerzen musste. Ihr Gesicht war grau. »Sie hat sicher den Ton abgestellt«, sagte sie. »Bestimmt liegt es daran. Sie hört das Handy nicht.«
»Genau«, pflichtete Jack ihr bei. »So wird es sein.«
Bernardo sagte: »Ja, ich bin noch dran. Bei wem soll ich mich melden? Soler? Und wo finde ich den? Wann? Ja, ich komme. Danke Ihnen. Vielen Dank.«
»Was ist?«, fragte Jack.
Bernardo steckte das Handy in die Tasche. Sein Gesicht war gerötet, er schwitzte. Er stellte die immer noch volle Kaffeetasse auf den Sofatisch. »Sie haben gesagt, wenn ich aufs Revier komme, kann ich mit einem Ermittler sprechen. Seine Schicht hat gerade angefangen. Gonzalo Soler. Ich muss los.«
»Warte«, sagte Jack. »Ich komme mit.«
Reina erhob sich vom Sofa, Bernardo umarmte sie. Sie hielt ihn so fest, dass er sich befreien musste. »Es kommt alles in Ordnung«, sagte sie.
»Natürlich«, erwiderte Bernardo. »Komm, Jack.«
»Ich sage nur Lidia Bescheid.«
Der Flur war lang, Leandras Zimmer das vorletzte vor der Hintertür. Lidia saß dort mit Leandra, die einen kleinen Tisch und Stühle aufgestellt hatte und ein Kaffeekränzchen abhielt. Die nackte Puppe schien der Ehrengast zu sein.
Lidia sah Jack an. »Haben sie sie gefunden?«
»Nein. Ich fahre jetzt zur Polizei. Bleib bei deinen Cousins. Wenn du was brauchst, sag deiner Tante Bescheid. Und versuch bitte weiter, Marina anzurufen. Bitte.«
»Mach ich.«
Jack ging.
Tasuta katkend on lõppenud.