Delilah

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Sandra Weihs

DELILAH

Roman


Sandra Weihs

DELILAH

Roman


Gedruckt mit Unterstützung der Kulturabteilung des Landes Kärnten, des Landes Oberösterreich und Stadt Wien, Kultur

Weihs, Sandra: Delilah / Sandra Weihs

Wien: Czernin Verlag 2020

ISBN: 978-3-7076-0703-1

© 2020 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Florian Huber

Autorinnenfoto: Nico Laurin Grabner

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

ISBN Print: 978-3-7076-0703-1

ISBN E-Book: 978-3-7076-0704-8

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Delilah

Im langen Herbst

… sei sie gegen eine glatte, kalte Oberfläche gestoßen …

… wahrscheinlich schickte sie eine höhere Macht …

… Delilah jedoch erhob – nur sacht – das Wort und in der Stimme hörte man die Bereitschaft zu verlieren …

Der klirrende Winter

… ihr Körper vor dem grauweiß verhangenen Himmel prangte wie ein Schatten vor dem Fenster …

… sie habe sich nur verlaufen …

… nur der Liebe wegen …

Der kurze Frühling

… als plötzliches Aufbegehren des Lebens …

… Delilah, in deren Lüfte ich mich nie erheben wollte …

… wir würden uns in die Augen sehen, uns küssen, dann lächeln …

Der wechselhafte Sommer

… irrationale Zahlen, die sich bis ins Unendliche näher bestimmen ließen, ohne je ganz und rational zu werden …

… ein Kreis, der sich um ein Zentrum zog in nahezu perfekter Ausführung …

Epilog

Delilah

Sie hieß Delilah. Delilah war der Name, den sie sich selbst gegeben hatte. Der Name war ihre Haut. Er war ihr Blick und ihr Tanz. Der Name war ihr Gefäß, ihr Drang, ihre Sprache. Delilah wurde sie genannt seit dem Tag ihrer Selbsterkenntnis. Wer sie zuvor gewesen war, war ein Geheimnis, das sie in sich trug.

Im langen Herbst

… sei sie gegen eine glatte, kalte Oberfläche gestoßen …

Der Tag, an dem Delilah mir die Geschichte ihres Namens schilderte, war einer der ersten, die ich mit ihr durch die Gegend stromerte. Es muss ein Tag gewesen sein, kurz nachdem sie an unsere Schule gewechselt war, dem Stiftsgymnasium in einem Vorort einer kleinen Stadt im Süden des Landes. Der lange Herbst zog sich warm bis in den November, das Laub raschelte trocken unter unseren Füßen, als trotze es dem Verrotten.

Damals. Als die Tage lang waren und wir sie noch auszunutzen vermochten durch unsere Jugend und die Gier nach Neuem, Schönem, Unbekanntem. Alles war damals lang, die Tage, an denen wir den Fluss entlang streiften, die Nächte, in denen wir die Stadt entdeckten, die Schulwochen, in denen wir auf die Matura vorbereitet wurden. Die Stromleitungen, denen wir über die Felder folgten, die Gräser, die wir mit den Handflächen streiften, die violetten Kondensstreifen der verzögert nachhallenden Flieger über der untergehenden Sonne. Unser Atem! – Alles war lang.

Der Tag, an dem Delilah mir die Geschichte ihres Namens erzählte, begann mit einer Wanderung durch die Nachbarschaft, vorbei an Einfamilienhäusern mit kleinen und großen, gepflegten und verwahrlosten Gärten. Im Kern des Vorortes ein Supermarkt, die Post, die Bank und ein Café, in dem sich die Arbeitslosen schon vormittags auf ein Bier trafen und nachmittags die Schüler gemeinsam lernten oder einfach den Tag totschlugen. Delilah zeigte sich unbeeindruckt, hatte sie doch schon in vielen Ecken der Welt gewohnt und überall sähe es gleich aus, meinte sie, nur die Felder, Wälder und Auen gefielen ihr und wir wanderten lange ohne Ziel in der Natur. Zur Rast saßen wir auf dem Findling neben dem Fluss, an dem die Kelten vor Jahrhunderten über Recht verhandelt hatten und dem Delilah magische Kräfte zuschrieb. Delilah saß oben, neben der natürlichen Schale, in der sich das Regenwasser am Fels sammelte, und ich am schmalen Vorsprung darunter. Während ich, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die trockenen propellerförmigen Samen des Ahorn vom vergangenen Herbst wirbelnd zu Boden fliegen ließ, reckte sie ihr vorspringendes Schlüsselbein und Kinn in die frische Sonne. Ihre Schultern erstreckten sich in einer Kühnheit und Kampfeslust, als hätte sie schon mehrere Kriege gewonnen und könne es mit jedem neuen Gegner aufnehmen, während sie sich am Fels anlehnte, um ihrem unvermeidlichen Sieg mit Gelassenheit zu begegnen. Dabei war sie so dünn und zart wie Seidenpapier. Die schmale Hand mit ihren zarten Fingern bewegte sie in einer anmutigen, ausholenden Langsamkeit, um sich das kupferne Haar aus der Stirn zu streichen. Ich musste Delilah anschauen, immerzu, Delilah war der schönste Mensch, den ich kannte.

Sie war vorausgegangen zum Findling, unserer Naturfestung, dem Ort, an dem sie ihre wahrsten Geschichten erzählte. Immer ging sie, egal wohin, voraus. Delilah machte den Weg frei für mich, sie war die Kräftigere, die Sichere, die, an die ich mich halten konnte, ohne fürchten zu müssen, verloren zu gehen. Ich folgte ihr in die Natur, in Kneipen, in Menschenmengen. Hauptsache, sie war in Reichweite, Hauptsache, ich konnte den Raum fühlen, den sie um uns erschuf, der Bedrängung und Bedrohung wie eine unsichtbare Glocke fernhielt, egal von wo sie kommen mochte, von einem Wind, von einem Insekt, von einem Jungen.

Unsere Mütter waren verschieden wie Stand- und Zugvogel, wie Nest und Bleibe, wie Käfig und Schlüssel. Während meine Mutter meinen Käfig säuberte und pflegte und ausbaute, wedelte ihre Mutter mit einem Schlüssel vor Delilahs Nase und trällerte das Lied der Freiheit. Während ich meine gesamte Kindheit in meinem Heimatnest verbracht hatte, war Delilah nur Monate, vielleicht Jahre an einem Ort geblieben, war vom Osten in den Westen in den Norden gezogen, bis sie zu uns herüber flatterte, vielleicht nur, weil das der Süden war und sie ihn noch nicht kannte. Sie folgte aber keiner inneren Uhr, keinem inneren Kompass, wie die Natur es von den Vögeln verlangte. Zu allem, was sie tat, entschied sie sich bewusst. Wenn ich ein Vogel war, dann war ich einer, der nicht fliegen konnte. Ich fühlte mich wohl in meinem Nest und hatte kein Bedürfnis es zu verlassen, hatte meine Mutter es mir doch wohlig eingerichtet.

Mein Name ist Penelope, kleines Entlein nannte Delilah mich manchmal und ich schimpfte sie dafür. Sie stupste mich an, wollte mich immer wieder aus dem Nest werfen, mich anfeuern, damit ich fliegen lernte, doch ich hatte Angst, ich hätte keine Kraft in den Flügeln oder die Luft sei zu dünn und könnte mich nicht tragen. Ich krallte mich fest im Nest und Delilah lachte ihr Was-soll-schon-passieren-Lachen, jeder Ton fern der Angst.

Delilah lachte in dreierlei Art und Weise. Die erste Variante war das Was-soll-schon-passieren-Lachen, es war das Lachen, das jeden mit ihrer Unbekümmertheit ansteckte und Sorgen und Ängste vergessen ließ und wenn ich mich recht entsinne, verflog mit ihrem Lachen auch meine Sorge, keine Kraft in den Flügeln zu haben, wenn auch nur kurz.

Wir saßen am Findling neben dem Fluss. Delilah zeichnete Wellen in das Regenwasser der Felsschale und beobachtete ihr Spiegelbild, während sie mir die Geschichte ihres Namens schilderte, entrückt und klar, wie nur Delilah sich auszudrücken vermochte. Delilah schickte voraus, die Geschichte wäre eine ihrer ersten Erinnerungen, sie musste vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. (Und ich schicke voraus, dass diese Geschichte ein Märchen gewesen sein muss.) Das Mädchen, das Delilah heißen würde, habe auf ihrem Bett gesessen, mit den Zehenspitzen habe sie den grauen Teppich gestreift, dabei sei ein Geräusch entstanden, das flauschig in den Ohren gekitzelt habe. Sie habe die Mutter beobachtet, wie sie ein helles, silbern schimmerndes Bild in ihr Zimmer gehievt und es danach vorsichtig an die Wand gelehnt habe. Die Mutter habe sich gebückt, um Hammer und Nagel aus der Werkzeugkiste zu nehmen. Dabei habe ihre Mutter sich lächelnd nach ihr umgeschaut und gefragt, ob ihr der Spiegel gefalle, aber sie habe es noch nicht gewusst. Still habe sie weiterhin auf ihren Händen gesessen und fasziniert das Schimmern in allen Farben beobachtet, während die Mutter das Bild an der Wand befestigt und vorausgesagt habe, dass sie den Spiegel lieben würde. Delilah erzählte die Geschichte so, als sei ihr bis zu diesem Erlebnis kein Spiegel auf der Welt untergekommen, als habe sie nichts von diesem Wunderding gewusst.

 

Das Bild habe alle Farben der Umgebung aufgesaugt, um sie mit dem Silber zu vermischen und in neuem Glanz wiederzugeben, brillanter und strahlender, als alles was sie bisher gesehen habe. Im Spiegel in ihrem Zimmer habe sie einen Raum erkannt, der wie ein Zuhause ausgesehen habe und einen Teddy, der ihrem Balu wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen war. Sonnenflecken auf dem Teppichboden, einen Puppenwagen in getupftem Rosa wie der ihre und ein Kind mit kupfernem, welligem Haar und gelbem Kleid auf dem Bett, das sie staunend angesehen habe.

»Wie verwirrt ich war, als ich das Abbild meiner Kinderzimmerwelt im Spiegel gesehen habe!«, und sie lachte über sich selbst, über ihr Unwissen, als sie vier Jahre alt gewesen war und ich stimmte in ihr Lachen ein. Es war ihre zweite Art zu lachen, selbstironisch, entschuldigend, aber liebevoll und mitfühlend ihrem eigenen Selbst gegenüber, ihrem Unwissen, ihrer Unreife, ihrer Unzufriedenheit, allen Unzulänglichkeiten, die sie an sich selbst bemerkte, und sie lachte trotzdem glockenhell und ohne jeden ängstlichen Ton darin und ich musste mitlachen, unweigerlich, ich konnte nicht daran vorbei und musste sie mit ihr auslachen und im Lachen lag bereits die Entschuldigung dafür.

Delilah erzählte mit zierlichen Gesten deutend weiter, sie habe Mut gefasst. Sie sei vom Bett gehüpft und das Mädchen im Spiegel habe es ihr gleich getan. Sie seien aufeinander zu gekommen, sie hätten sich in die Augen gesehen und die Hände ausgestreckt. Aber als sie die Hand des Mädchens habe ergreifen wollen, sei sie gegen eine glatte, kalte Oberfläche gestoßen. Sie habe das Mädchen so sehr berühren wollen, habe immer wieder an anderer Stelle auf das Bild getippt und das Mädchen habe es ihr gleichgetan. Delilah erzählte und ich glaubte ihr jedes Wort dieser erfundenen Begebenheit, so gerne hätte sie den Raum betreten, mit dem Mädchen spielen wollen, das ihr so gefallen habe, doch nirgends sei ein Eingang, nirgends ein Durchschlupf gewesen, der Raum habe hinter einer unsichtbaren Scheibe gelegen, die nicht zu durchdringen gewesen sei. Sie habe die Stirn an die glatte, kalte Stirn des Mädchens gelegt und ihr in die Augen gesehen. Und sie habe zum ersten Mal in ihrem noch kurzen Leben gedacht: Das bin ich.

Delilah beobachtete sich im Regenwasser der Steinschale. Noch immer lag etwas in ihrem Blick.

Sie habe sich selbst erkannt in ihren eigenen Augen, sagte sie, durch Mutters Geschenk des Spiegels. »Ich drängte meinen Körper an die Oberfläche der Scheibe, deren Kühle sich in der stickigen, feuchten Sommerhitze angenehm anfühlte, ich fuhr lange über die Oberfläche und meine Hand im Spiegel tat es mir nach. Ich drückte Bauch an kalten Bauch und entfernte meinen Kopf, um Überblick zu haben, stand da mit vorgewölbter Rundung, sah auf den Bauch im Spiegel und griff nach meinem körpereigenen. Ich kitzelte den Nabel und drückte ihn sodann wieder an die Scheibe, streckte mich, legte meine Handflächen auf die Augen und spreizte die Finger, lugte verzwickt dahinter hervor und sah mich verstecken. Es sah lustig aus, sodass ich das Lächeln sehen konnte, das ich fühlte. Und plötzlich wusste ich, das, was ich sah, das war nicht das, was meine Mutter in mir sah. Was ich sah, trug nicht den Namen, den Mutter mir gegeben hatte. Ich sah Delilah.«

Sie wiederholte Delilah, und noch einmal flüsterte sie Delilah und sah in das Wasser, fuhr mit den Fingerkuppen über die Oberfläche, sah das Zittern ihres Abbilds, sah mich an und lachte ihre dritte Art des Lachens, ein zartes Lachen, ein sehnsüchtiges, ein Lachen, in dem ein Wunsch lag und Trauer, weil er nicht erfüllt werden konnte.

… wahrscheinlich schickte sie eine höhere Macht …

Ich sitze in dem Zimmer, in dem ich schon als Kind gewohnt habe, und sehe in den Garten. Von hier aus kaum zu sehen ist der Spielplatz, der Delilah so erfreute, ein vergessener Ort im Zwielicht zwischen Wald und Wiese. Ich sitze im ersten Stock in meinem früheren Kinderzimmer, das nun mein Schreibzimmer ist und sehe in den Garten, wie ich es schon immer getan habe. Die Rosen, sie wachsen über die Laube, als würde sie jedes Jahr ein unsichtbares Helferlein stutzen, damit sie zu neuer Blüte finden. Der Apfelbaum, der dort steht und der über die Jahre mehr und mehr Früchte trug, nun, so scheint mir, kommt ins Alter, seine Äste werden schwächer, die Früchte weniger. Ich schaue auf den Schwimmteich daneben, der die Farbe von Delilahs Augen hat, und ich erinnere mich an ihr Schauen.

Ich sehe sie jetzt vor mir an ihrem ersten Schultag im langen Herbst damals.

Meine Erinnerung ist voller Farben, wenn ich an diesen Tag denke. Das Kupfer ihrer Haare, das sonnenblumengelbe Shirt und die teichgrünen Augen, in deren Tiefe ich hineinfiel, sobald ihr Blick auf mir landete, die olivfarbene Haut, aus der einzelne blonde Härchen in die Luft ragten.

Sie bemerkte mich unter den anderen als erste. Es war, als baute unser Schauen eine Kraft zwischen uns auf. Mein Körper drängte auf sie zu, da hatte sie noch kein Wort gesagt. Irritiert wirkte sie, als der Lehrer sie ansprach, wie sie mich ansah. Zögerlich beendete sie unseren Augenblick, erklärte ihm, sie sei hierhergeschickt worden, und mein erster Gedanke war, wahrscheinlich schickte sie eine höhere Macht. Gemeint hatte sie den Direktor, der ihre Aufnahme am Gymnasium für das letzte Schuljahr wegen Umzug aus einer weit entfernten Stadt durch die Zuweisung zu einer Klasse bestätigte. Der Lehrer stöhnte, als sei diese Schülerin der Tropfen, der das Fass der immer mehr werdenden Arbeit zum Überlaufen brachte, und wies ihr einen freien Platz in der ersten Reihe zu. Doch sie zeigte auf mich und erklärte feierlich: »Ich setze mich zu dieser Frau.« Das war in vielerlei Hinsicht verstörend für mich. Nie war ich irgendjemandem aufgefallen, noch nie hatte mich jemand auserkoren, noch nie hatte mich jemand eine Frau genannt. Sie hatte mich erwählt und erwachsen gemacht. Immerhin war ich ein hässliches und schüchternes Entlein, zu ernst und zu versonnen, als dass jemand Interesse an mir gefunden hätte. Ich war langweilig und einfach anders und da ich es schon lange aufgegeben hatte, Freunde unter jenen zu finden, die ich selbst nicht verstand, deren Leben, Ansichten und Späße für mich keinen Sinn ergaben, war ich einsam geblieben, ein Entlein unter Schwänen. Immer schon hatte ich jene bewundert, die sich durch Räume bewegten, als gehörten sie ihnen, die sich entwickelten und wuchsen und für die Zeit etwas war, das sie überwinden, bezwingen mussten, das nie zu schnell vergehen konnte, damit sie endlich ein vollständiger Mensch sein konnten, erwachsen. Die miteinander sprachen über das Wetter und den Schulausflug, Verliebtheiten und Schulnoten. Für mich bargen all die normalen Dinge Gefahren, ich hatte Angst. In Räumen witterte ich versteckte Fallen, trat ich ein, nahm ich alles darin wahr, bemühte ich mich, jede Energie zu registrieren, jeden Blick einzuordnen und sein Ziel vorherzusagen. Bemühte mich, jedes in den Raum geworfene Wort zu verstehen, um zu erkennen, wie und wohin ich mich bewegen musste, um all das eventuell Eintretende, in das ich involviert werden könnte, zu umgehen. Jede Ansprache erzeugte ein Ducken in mir, jedes Gespräch die Angst, ein falsches Wort zu sagen, jedes Lachen in meine Richtung die Vermutung, es sei Spott. Ich fühlte mich wohl in meinem Nest, das mein Zuhause war und mich wärmte. Doch als Delilah auf mich zeigte und mich zur Frau unter Mädchen und Jungen machte und langsam auf mich zukam, als sei es das natürlichste der Welt, das hässliche Entlein als Banknachbarin zu ehren, fühlte ich mich erstmals erhoben. Mein Herz klopfte, sie schaute mich an, die Sonne fiel durch das Blätterwerk eines Baumes auf ihr Antlitz und tanzte in wechselhaftem Spiel mit den Schatten darin.

Nein, das muss eine andere Begebenheit gewesen sein. Die Zeit verschwimmt in der Erinnerung, ich weiß nicht, wo ich in ihr den Anfang und das Ende der Begegnung mit Delilah finden soll. Es überlagert sich das Bild des ersten Schultages, an dem kein Baum in der Nähe war, durch dessen Blätterwerk die Sonne brechen hätte können, weil wir uns im Schulgebäude befanden, mit dem Bild des ersten Ausflugs mit Delilah. Jan und Markus und Tanja und ich, wir hatten uns aufgemacht, Delilah den Spielplatz im Zwielicht zwischen Wald und Feld vor meinem Haus zu zeigen, eine Gruppe, die sich nie gefunden hätte ohne die Neue in dieser Klasse. Wir waren alle Einzelgänger, Außenseiter, aus dem Rahmen Fallende, das wussten wir schon vor Delilahs Erscheinen, doch hatten wir nie die Idee gehabt, uns als Gruppe zu begreifen. Delilah jedoch sammelte uns bereits an diesem ihren ersten Schultag im langen Herbst im Hof des ehemaligen Klosters mit dem Brunnen, den die in Stein gemeißelte Mutter Maria beschaute. Wir waren aneinander vorbei gegangen, hatten aneinander vorbei gesprochen, hatten aneinander vorbei gelebt bis zu diesem Tag. Doch plötzlich hatten Jan und ich denselben Musikgeschmack (epischer Indie Pop) und Tanja und Markus ein gemeinsames Hobby (Mountainbiken). Jan und Markus hatten denselben schrägen Fahrlehrer und ihre Anekdoten bereiteten uns Lachkrämpfe, Tanja und ich musizierten gerne und zeigten unsere Kompositionen nie irgendjemandem. Das alles war uns aneinander über Jahre nicht aufgefallen, aber wurde wahr und real an diesem ersten Tag im Hof des Stifts und die Mutter Maria blickte auf uns gelöst Lachende, während ihr Sohn in den Brunnen pinkelte. Und Delilah sitzend auf den Stufen davor, zu uns aufblickend in ihrer hinreißenden Art und diesem Was-soll-schon-passieren-Lachen auf den Lippen und in den Augen, warf ein Wort nach dem anderen in den Kreis und sie blieben haften und verstärkten dieses dünne Gespinst aus zarter anfänglicher Freundschaft. Ja, ich glaube es war an ihrem ersten Tag in der Schule, da erzählte sie uns die Geschichte, in der sie als Volksschülerin bei einem Rechentest keinen Radiergummi dabei gehabt hatte und sie konzentriert über der Arbeit saß, um ja keinen falschen Strich auf das Papier zu setzen, aber sie hatte es nicht geschafft. Sie hatte in der Eile eine Aufgabe falsch verstanden, den Schluss falsch gesetzt und nun musste sie den Fehler radieren. Hilfesuchend blickte sie sich um und bemerkte, ihre Banknachbarin hatte einen dabei. Flüsternd bat sie um den Radierer als Leihgabe, doch die Banknachbarin nahm ihn vom Tisch und versteckte ihn in ihrer Faust. Und Delilah erzählte, vor lauter Angst, den Fehler nicht korrigieren zu können, und vor lauter Scham, ihren Radiergummi nicht dabei zu haben, und vor lauter Trauer über die Reaktion der Freundin und dieser plötzlich auftretenden tiefen, schweren Last an Einsamkeit habe sie unerwartet und unvermutet heftig mitten im Test zu weinen begonnen. So bitterlich, dass ihre Lehrerin sie mit vor die Tür genommen hatte und fragte, ob denn jemand gestorben sei in ihrer Familie. Dafür schämte sie sich nun noch mehr – dass sie zu weinen begonnen hatte und die Lehrerin solch schlimme Dinge vermuten musste – dabei konnte sie doch nur nicht verstehen, wieso die Freundin ihr den Radiergummi nicht borgte und warum sie sich derart einsam fühlte. Also beruhigte sie sich schnell und trat wieder in die Klasse, setzte sich an ihre Bank und nahm die Arbeit wieder auf. Und die Freundin legte den Radiergummi mitten auf den zu radierenden Fehler und schaute Delilah mitleidig an.

Sie erzählte die Geschichte offen und mit dem Lachen, mit dem sie über sich selbst lachte, über ihr Unwissen, ihre Unreife, ihre Unzufriedenheit, alle Unzulänglichkeiten, die sie an sich selbst bemerkte, und sie lachte trotzdem glockenhell und ohne jeden ängstlichen Ton darin und wir mussten mitlachen, unweigerlich, man konnte nicht daran vorbei und mussten sie mit ihr auslachen und in unserem Lachen lag bereits die Entschuldigung dafür. Ich kannte diese Einsamkeit, die sie gefühlt hatte und vielleicht kannten auch die anderen diese Einsamkeit. Sie hatte einen Sinn für uns gehabt, war offen, ging furchtlos auf uns zu und zeigte sich. Sie sah uns unsere ferne Zugehörigkeit in unserer eigenen Verletzung durch die Welt an, vom ersten Tag an, und wir bemerkten nicht mal, dass wir plötzlich Freunde hatten. Wie Teile eines Puzzles, die schon lange darauf gewartet hatten, fügte sie uns zusammen.

 

Die gefühlte Einsamkeit ging an diesem Tag für lange Zeit.

Ein paar Tage später, oder waren es Wochen? Der Herbst dauerte lang in diesem Jahr, in dem wir Freunde wurden. Irgendwann zeigten wir Delilah die Umgebung. Wir spazierten über die Wiesen vor meinem Haus eingefasst vom Wald, das Gras bis zu den Hüften, Bienen und Mücken umschwirrten uns. Wir landeten auf diesem alten Spielplatz am Waldesrand, den niemand mehr bespielte, der noch aus Metall und nicht aus Kunststoff gefertigt war und von dem der Lack abblätterte und rostbraune Stellen freilegte. Der dichte, schwarzgrüne Wald mit hellem Schafgarbensaum hinter dem kupfernen Mädchen, die gelben Hahnenfüße und Löwenzähne, die Ambrosien und das Johanniskraut an den graublauen Stangen der Schaukel, das vergilbte und quietschende Ringelspiel mit morschen Sitzflächen. Delilah hüpfte von einem Gerät zum nächsten und ich schaute ihr zu, folgte ihr und zupfte das Unkraut um die Pfeiler aus, als könnte ich damit garantieren, dass sie den Beton nicht sprengen würden, dass alles stabil und Delilah in Sicherheit bliebe, wenn sie die Schaukel hochtriebe. Sie aber ließ die Füße baumeln und wies mich aus ihrer Begeisterung an, das Unkraut wachsen zu lassen, es gehöre auf diesen Spielplatz, es mache ihn erst zu dem Juwel, der er war. Ich beobachtete Delilah, wie sie den Platz in sich aufsaugte, als sei er pure Energie und sie nähre sich davon, vom Rost, vom Unkraut, vom morschen Holz und ich beobachtete auch Jan, der Delilah musterte, in einer Weise, als ginge nach jahrelanger Dunkelheit die Sonne für ihn auf. Als sie auf dem Ringelspiel saß und Jan aufforderte, sie zu drehen, zögerte er nicht. Er krempelte sich die Ärmel hoch, rief, »Schnall dich an!« und setzte sich zu ihr. »Bis zu den Sternen!«, rief sie ihm zu und lachte schallend ihr Was-soll-schon-passieren-Lachen. Jan nahm all seine Kraft, mit der er Delilah zu beeindrucken versuchte, und zog und stieß an der Scheibe in der Mitte des Ringelspiels und sie begannen sich zu drehen. Delilah legte die Arme an die Lehne und der Rauch von Jans Zigarette zog kreisförmig davon, bis sie ungestümer wurden und die Schwaden Delilah erreichten und dann waren sie ein Wirbelkreis im weißdurchsichtigen Nebel. Es war schön anzuschauen, beide lachten und Delilah kreischte und Jan freute sich und sogar das rhythmische Jaulen des Gestells wirkte wie ein Einstimmen in diesen Freudenchor. Jan stieß noch wilder an, bis sie »Genug!« jauchzte und sich Jan zufrieden zurücklehnte, in Coolness-Pose, um sein Schwindelgefühl zu vertuschen, und stolz. Dann war Stille am Waldrand, nur die Vögel zwitscherten ihre Lieder zum leiser werdenden Winseln des Ringelspiels und wir beobachteten Delilah, wie sie ihre Augen schloss, den Kopf in den Nacken legte, die Arme ausbreitete und durch die Krone des Laubbaumes brechende Sonnensprenkel auf ihrem Gesicht hasteten. Wenn ihr Gesicht auftauchte, winselte das Karussell und während ihr kupferner Hinterkopf an mir vorbei zog, verhallte das Winseln, um im Schwung neuerlich befeuert zu werden, es war, als erzeuge der Anblick ihres in den Himmel gereckten Gesichts diesen leiernden Kommentar einer alten verlassenen Spielplatzseele.

Das ist das Bild, das sich über den ersten Tag und alle weiteren Erinnerungen legt.

An ihrem ersten Tag im letzten Schuljahr im Gymnasium wurde ich erkoren von dieser Schönheit und geehrt durch ihren Platz neben meinem. Der gelassene Gang die Schulbänke entlang auf mich zu. »Hallo, ich bin Delilah.« Das sagte sie, als sie sich setzte. Und als sie saß: »Was für ein seltenes Bild du abgibst. Du brauchst dich nicht verstecken!«

Das waren ihre ersten Worte an mich. Nie werde ich sie vergessen. Aber das war alles damals und das Damals war zu kurz, auch wenn es sich lange anfühlte zu jener Zeit. Es war ein Jahr, das ewig hätte dauern dürfen.

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