Loe raamatut: «Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext»
Sara Izzo
Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext
Herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg), Christian Papilloud (Halle)
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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Als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn entstanden.
Umschlagabbildung: Jean Genet face à un policier, 1970. ©Fondation Gilles Caron/GAMMA RAPHO
© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0009-0
Inhalt
Danksagung
0 Einleitung
1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand1.1 Methodisches Konzept1.1.1 Der Diskursbegriff bei Foucault und Bourdieu1.1.2 Aussagenspezifische Bezugssysteme: Foucaults ‚champ de possibilités stratégiques‘ und Bourdieus ‚espace des possibles‘ im Vergleich1.1.3 Prämissen der methodischen Anwendung: Die feldspezifische Positionierung von Jean Genet und die Bedeutung des revolutionären Diskurses1.2 Korpus1.3 Forschungsstand
2 Genet und das intellektuelle Feld in Frankreich2.1 Jean Genet im Fokus der medialen Öffentlichkeit: Zwischen revolutionärer Emblematisierung und Anonymitätsgebot2.2 Intellektuelle Handlungsentwürfe2.2.1 Genet und Sartre: Der Poet und der Philosoph2.2.2 Genet und Foucault: Kooperation im ‹Groupe d’information sur les prisons›2.3 Kritik an der Rechtsstaatlichkeit aus Sicht Genets, Sartres und Foucaults2.3.1 Zwischen ‚tribunal populaire‘ und ‚contre-procès‘ – Sartres und Foucaults Kritik an der Institution des Gerichtes2.3.2 Vor Gericht: Zur Problematik der Zeugenaussage2.3.3 «La Sentence» – Genets Kritik an der Rechtsprechung2.3.4 Zur Bedeutung strafrechtlicher Kategorien: politische Gefangene oder Strafgefangene?2.3.5 «Le Langage de la muraille» – Genets Antwort auf «Surveiller et punir»2.3.6 Zum Begriff der Gewalt2.4 Zwischenbilanz
3 Genet und das gegenkulturelle Feld in den USA3.1 Genet, Ginsberg, Burroughs3.1.1 Genet als Inspirationsquelle für die Autoren der ‹Beat Generation›3.1.2 Genet, Ginsberg und Burroughs als Akteure der gegenkulturellen Öffentlichkeit in den USA3.1.3 Genets Selbstverständnis als ‚voyageur‘ und das poetische Konzept von Revolution im Vergleich zu Ginsbergs Perspektive des Reisenden3.2 Ereignis schreiben im Grenzbereich zwischen Journalismus und Literatur3.2.1 Varianten eines impressionistischen Journalismus: Genet und Burroughs als Reporter für «Esquire»3.2.2 Ereignisinspirierte Poesie: Ginsbergs Begriff der poetischen Reportage3.2.3 Exkurs: Genets journalistischer Pastiche des literarischen Realismus3.3 Antiamerikanische und antiwestliche Kritik aus der Sicht Genets, Ginsbergs und Burroughs’3.3.1 Der Vietnamkrieg als Symptom der amerikanischen Kultur3.3.2 Die Interpretation des Vietnamkrieges als sprachlicher Konflikt3.3.3 William S. Burroughs’ Cut-up-Methode und Genets Konzept der ‚écriture arachnéenne‘ als antiwestliche Schreibarten3.4 Zwischenbilanz
4 Zur Metaisierung des revolutionären Diskurses in «Un captif amoureux» 4.1 Der Einfluss der journalistischen Reportage auf «Un captif amoureux» am Beispiel von „Quatre Heures à Chatila“ und die ästhetischen Prinzipien der Zeugenschaft 4.2 Autoreflexive Kritik zur eigenen Funktion in der Öffentlichkeit: die Transkription des Interviews als dialogische Selbstbefragung in «Un captif amoureux» 4.3 Die Transposition des Selbstbildes als ‚voyageur‘ in eine makrokosmische Erzählperspektive 4.4 Zur Umdeutung des Kanons in «Un captif amoureux»: Von der revolutionären Kunstform zum kriegerisch-musikalischen Täuschungsmanöver 4.5 Die Interpretation der ‚écriture arachnéenne‘ als eine erinnerungsliterarische Gegenform zur westlichen Memoriakultur 4.6 Zwischenbilanz
5 Ergebnisse
LiteraturverzeichnisI. Schriften von Jean GenetII. Schriften von William S. BurroughsIII. Schriften von Michel FoucaultIV. Schriften von Allen GinsbergV. Schriften von Jean-Paul SartreVI. Weiterführende Literatur
Danksagung
Entstanden ist die vorliegende Arbeit als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In Dank für die Unterstützung während der gesamten Promotion möchte ich die Arbeit meinen Eltern, meinem Bruder Sergio und Olivier widmen. Meinen herzlichen Dank möchte ich insbesondere meiner Doktormutter Prof. Dr. Mechthild Albert für ihre Zuversicht in mein Projekt und die motivierende wissenschaftliche Betreuung aussprechen. Zu Dank verbunden bin ich darüber hinaus meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Paul Geyer, der Vorsitzenden meiner Prüfungskommission Prof. Dr. Daniela Pirazzini und Prof. Dr. Michael Bernsen. Mein aufrichtiger Dank gilt Albert Dichy für unser Gespräch zu Beginn der Promotion, welches für die thematische Entwicklung des Projektes von Bedeutung war, sowie für die durch ihn ermöglichten Recherchen im Fonds Jean Genet des IMEC. Für die anregenden Diskussionen und gewinnbringenden Anmerkungen möchte ich auch allen Teilnehmern des von Prof. Dr. Mechthild Albert geleiteten Doktorandenkolloquiums danken, die den Entstehungsprozess der Arbeit konstruktiv begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt Dr. Ulrike Becker und Dr. Elmar Schmidt für die kollegiale Hilfe zu Beginn des Veröffentlichungsprozesses. Ich danke meinem Bruder Sergio darüber hinaus für die korrigierende Lektüre der Arbeit. Meinen Freundinnen Elena, Jenny und Roxana danke ich für die moralische Unterstützung, die fachlichen Ratschläge und das stets offene Ohr.
0 Einleitung
„J.G. cherche, ou recherche, ou voudrait découvrir, ne le jamais découvrir, le délicieux ennemi très désarmé, dont l’équilibre est instable, le profil incertain, la face inadmissible, […] je cherche l’ennemi déclaré.“1 Mit diesen Worten, die nicht nur in den sechsten und letzten Band seiner Werke, die politischen Reden und Texte, einleiten, sondern diesem auch seinen Titel geben, lässt sich Jean Genets Einsatz im politischen Zeitgeschehen metaphorisch als eine auf der politischen Bühne der Öffentlichkeit vorgenommene Suche nach dem erklärten Feind umschreiben. Ausgehend von den Ereignissen im Mai 1968 unterstützt er insbesondere die Black Panther Party in den USA und den palästinensischen Befreiungskampf, aber auch die Immigranten in Frankreich und die Rote Armee Fraktion. Er schreibt über den Vietnamkrieg und die Friedensdemonstrationen in den USA, die Willkür des französischen und amerikanischen Justizsystems und entwirft eine Kampagne gegen die Wahl von Giscard d’Estaing 1974. Seine Haltung der Konfrontation charakterisiert die gesamten zwischen 1968 und 1983 entstandenen politischen Schriften und Interventionen, die sich im Kontext eines historisch determinierten revolutionären Diskurses situieren lassen. Faszinierend und umstritten zugleich, formen sie das Substrat, auf dessen Basis sich sein ambivalentes politisches Profil nachzeichnen lässt. Gekennzeichnet durch seine Ablehnung jedweder seine schriftstellerische und gesellschaftskritische Haltung subsumierender Kategorien, lässt sich seine Sichtweise vor allem ex negativo bestimmen: nicht Intellektueller, sondern Poet, nicht Revolutionär, sondern Vagabund oder Reisender, nicht Beobachter der Gesellschaft, sondern ihr Kontrahent.
In dieser durch Abgrenzung bestimmten Selbstdefinition ist die vergleichende Grundstruktur der vorliegenden Untersuchung begründet. So kristallisiert sich Jean Genets öffentliche Position in bestimmten Personenkonstellationen besonders deutlich heraus. Seine politischen Aktivitäten in Frankreich lassen sich nicht ohne eine Kontrastierung mit Jean-Paul Sartre und Michel Foucault fassen, die dem intellektuellen Feld der sechziger und siebziger Jahre durch unterschiedliche Handlungsentwürfe seine Prägung geben. In den USA ist sein öffentliches Bild eng an die Autoren der Beat Generation gebunden, die als Bezugsgrößen im gegenkulturellen Feld agieren. Jean Genets politische Stellungnahmen sollen folglich als Elemente bestimmter Aussagensysteme und Korrelationsräume mit jeweils spezifischen diskursiven Gegenständen, Konzepten und Argumentationsmustern beleuchtet werden. Am Beispiel seiner zwischen 1968 und 1986 entstandenen Texte lässt sich auch ein Wandel des so ermittelten Diskurses nachzeichnen, der durch die Öffnung und den Verschluss des Möglichkeitshorizontes einer umfassenden gesellschaftlichen Veränderung bestimmt wird. Insbesondere in seinem letzten literarischen Werk Un captif amoureux von 1986 zieht Jean Genet eine Bilanz seines gesellschaftspolitischen Handelns, zu einem Zeitpunkt, als er die revolutionären Bewegungen in ihrer Endlichkeit erfasst. Mit der letzten Seite von Un captif amoureux, das kurz nach dem Tod seines Autors erscheint, schließt sich symbolisch auch ein Kapitel der Zeitgeschichte, deren Entwicklungen jedoch auf die Gegenwart ausstrahlen.
Es zeugt von Genets politischer Weitsicht, dass weiterhin jene Konfliktherde, auf die er in besonderem Maße sein Augenmerk richtete, ihren Platz in den aktuellen Schlagzeilen finden. Dazu zählen nicht nur der Nahostkonflikt, sondern auch die jüngst wieder aufkeimenden Rassenunruhen in den USA. „Amerika diskutiert wieder über Rassismus“2 – mit diesen Worten leitet beispielsweise der Historiker Manfred Berg in seinen Beitrag über die Proteste gegen die Polizeigewalt in Ferguson und Baltimore ein,3 in dem er einen direkten Vergleich mit den Unruhen in den sechziger Jahren anstellt.4 Man würde der politischen Schlagkraft von Genets Texten jedoch nicht gerecht, wenn man sich ihnen allein mit rationalen Erklärungsmodellen, wie etwa dem Bemessungskriterium der Weitsicht, des Scharfsinns, der Richtigkeit oder auch der Falschheit, nähern wollte. Denn was seine Haltung vor allem charakterisiert, ist die Radikalität seiner Position, welche auf dem Verständnis einer poetischen Negation basiert und in seinen Augen überhaupt erst eine neue Sichtweise eröffnen kann. Diese soll in der vorliegenden Arbeit mit dem methodischen Ansatz einer Verschränkung der Diskursanalyse nach Foucault und der Feldtheorie nach Bourdieu ergründet werden.
1 Grundlagen: Methode, Korpus, Forschungsstand
1.1 Methodisches Konzept
Der nachfolgende Vergleich des diskursanalytischen Ansatzes nach Michel Foucault und des feldtheoretischen Analyseansatzes nach Pierre Bourdieu zielt auf eine synthetische Verknüpfung beider Theoriemodelle ab. In zwei Stufen sollen Divergenzen und Berührungspunkte gegeneinander abgewogen werden. In einem ersten Schritt soll der in beiden Theorien grundsätzlich unterschiedlich konzipierte Diskursbegriff beleuchtet werden, um dann in einem zweiten Schritt die in Bourdieus Begriff des Möglichkeitsfeldes operationalisierbare Schnittmenge zu beschreiben.
1.1.1 Der Diskursbegriff bei Foucault und Bourdieu
„Il n’y a pas de science du discours considéré en lui-même et pour lui-même.“1 Mit dieser Aussage setzt sich der französische Soziologe Pierre Bourdieu eindeutig von den methodischen Ansätzen Michel Foucaults ab. Dessen zwischen 1966 und 1970 in unterschiedlichen Phasen entwickelte Theorie der Diskursanalyse will sich von traditionellen Geschichtsmodellen abheben, indem das für letztere typische Denken in großen Einheiten und Kontinuitäten (Epochen, Jahrhunderten, kollektiven Mentalitäten, Bewegungen, Schulen, Gruppierungen), die Suche nach den Ursprüngen sowie das Verständnis der Souveränität des Subjektes in Frage gestellt werden. Die bei Foucault bewusst unpräzise und variabel gehaltene Definition des Diskursbegriffs unterliegt innerhalb seines Gesamtwerks einem bedeutenden Wandel. Während Foucault den Diskursbegriff in seinem Frühwerk im Kontext unterschiedlicher Themenbereiche praktisch anwendet, definiert er ihn in L’archéologie du savoir2 in Hinblick auf die Entwicklung eines Instrumentariums für die Diskursanalyse und rückt ihn in L’ordre du discours3 als machtorientierte Instanz vorübergehend ins Zentrum seiner machttheoretischen Überlegungen.4 Wie er in seiner Einleitung zu L’archéologie du savoir darlegt, setzt er sich in diesem Werk zum Ziel, das methodologische Grundgerüst seiner Diskursanalyse auszuarbeiten, welche bereits in früheren Studien Anwendung gefunden hat:
Ce travail n’est pas la reprise et la description exacte de ce qu’on peut lire dans l’Histoire de la Folie, la Naissance de la Clinique, ou Les Mots et les Choses. […] Il comporte aussi pas mal de corrections et de critiques internes. […] [D]ans Les Mots et les Choses, l’absence de balisage méthodologique a pu faire croire à des analyses en termes de totalité culturelle.5
Foucault betont in L’archéologie du savoir die bewusste Polyvalenz seiner Diskursdefinition:
Enfin au lieu de resserrer peu à peu la signification si flottante du mot ‚discours‘, je crois bien en avoir multiplié les sens: tantôt domaine général de tous les énoncés, tantôt groupe individualisable d’énoncés, tantôt pratique réglée rendant compte d’un certain nombre d’énoncés; et ce même mot de discours qui aurait dû servir de limite et comme d’enveloppe au terme d’énoncé, ne l’ai-je pas fait varier à mesure que je déplaçais mon analyse ou son point d’application, à mesure que je perdais de vue l’énoncé lui-même?6
Denn wie er hier verdeutlicht, bezeichnet der Terminus ‚Diskurs‘ bei ihm gleichsam das allgemeine Aussagengebiet, eine individualisierbare Aussagengruppe sowie die regulierte Praxis, die von einer bestimmten Zahl von Aussagen Rechenschaft ablegt. Daraus ergeben sich die einzelnen Bestandteile seines analytischen Werkzeugs, mithilfe dessen er auf unterschiedlichen Diskursebenen operiert. Die kleinste Einheit, auch „atome du discours“7 genannt, ist dabei die Aussage in ihrer Beschaffenheit als Aussagenfunktion in einem bestimmten Koexistenz- und Korrelationsraum mit anderen Aussagen, der als „champ discursif“8, diskursives Feld, oder auch als „groupement discursif“9, diskursive Gruppierung, beschrieben wird. Anhand dieses terminologischen Instrumentariums entwickelt Foucault schrittweise eine konkrete Definition, wonach der Diskurs sich aus Aussagen mit bestimmten Existenzmodalitäten und einem bestimmten Verbreitungs- und Verteilungsprinzip – auch als diskursive Formation bezeichnet – konstituiert. Die Fixierung des Diskursbegriffs als „ensemble des énoncés qui relèvent d’un même système de formation“10 ermögliche daher erst die Existenz eines spezifischen Diskurses wie beispielsweise des klinischen, ökonomischen oder psychiatrischen Diskurses.
Die Prämisse der Diskursanalyse nach Foucault ist jedoch die Suspendierung aller unmittelbaren und traditionellen Kontinuitätsformen – Werk, Buch, Disziplin, Individuum bzw. Autor – und der Verzicht auf den damit verknüpften Rückbezug auf die hermeneutische Frage nach der Absicht eines sprechenden Subjektes. Foucault setzt sich hingegen zum Ziel, durch die Fokussierung von Aussagen als Ereignisse an sich, ihre Besonderheit, ihre Existenzbedingung, ihre Korrelation mit anderen Aussagen auf Basis gemeinsamer Aussagengegenstände, -typen und -konzepte zu bestimmen, um sie so entsprechend ihrer diskursiven Formation neu gruppieren zu können. Die so determinierte diskursive Einheit wird folglich nicht durch die Verbundenheit einer den Aussagen bzw. den Sprechern gemeinsamen Ideologie, Theorie oder Wissenschaft hergestellt, sondern durch das rein diskursimmanente Bezugssystem. Die einzelnen Korrelationskomponenten wie Aussagengegenstand, -typ und -konzept unterliegen wiederum bestimmten Existenzbedingungen, die beispielsweise auf historischer, funktionaler oder korrelativer Ebene liegen können. Foucaults minutiöse Deskription der Möglichkeiten diskursiver Regelmäßigkeiten und der Formationsregeln einzelner Aussagenfelder bleibt strikt auf der Ebene des Diskurses und verzichtet explizit auf die Rückkoppelung an jedwede psychologische Individualität oder an traditionelle Erklärungsprinzipien ideengeschichtlicher Theorien. Dennoch trägt er den kulturrelevanten Determinanten von Raum und Zeit Rechnung. So ist für Foucault die diskursive Praxis
un ensemble de règles anonymes, historiques, toujours déterminées dans le temps et l’espace qui ont défini à une époque donnée, et pour une aire sociale, économique, géographique ou linguistique donnée, les conditions d’exercice de la fonction énonciative.11
Der historisch und geographisch fundierte Diskurs repräsentiert dabei stets ein begrenztes, mithin defizitäres System von Präsenzen, da nie alles Mögliche gesagt werden kann. Das Auftauchen von Aussagen, ihre Positivität, untersteht bestimmten Realitätsbedingungen, die Foucault als historisches Apriori bezeichnet und von dem Begriff des Archivs abgrenzt.12 Er unterstreicht dabei die unkonventionelle Juxtaposition, welche seinen Terminus ‚historisches Apriori‘ kennzeichnet und die Stefan Rieger als „ungewohnte Koppelung des Transzendentalen und des Historischen“13 interpretiert: „Juxtaposés, ces deux mots font un effet un peu criant; j’entends désigner par là un a priori qui serait non pas condition de validité pour des jugements, mais condition de réalité pour des énoncés.“14 Das Apriori bezieht sich in diesem Verständnis auf die „histoire […] des choses effectivement dites“15, wodurch die Komponente der zeitlich bestimmten Transformierbarkeit von Aussagensystemen erfasst wird. Mithilfe des Archivbegriffs beschreibt Foucault wiederum das „système général de formation et de transformation des énoncés“16 als ein Gesetz von Aussagemöglichkeiten. Das Archiv reguliert den Fortbestand und die Modifikation von Aussagen in der größtmöglichen Dimension, sodass es nie in seiner Totalität erfassbar ist, aber je beschreibbarer wird, desto klarer die Trennung von der Aktualität vollzogen ist.
Die von Bourdieu diagnostizierte Inexistenz einer Wissenschaft des Diskurses impliziert die Kritik an Foucaults Diskursanalyse, um sich dem Diskursbegriff aus soziologisch-pragmatischer Perspektive zu nähern. Im Gegensatz zu Foucault verwehrt sich Bourdieu der terminologischen Verwendung traditioneller Analyseeinheiten nicht und postuliert die Rückbeziehung der Werke auf die Sprecher sowie ihre Einbettung in das soziale Gefüge der Gesellschaft:
[L]es propriétés formelles des œuvres ne livrent leur sens que si on les rapporte d’une part aux conditions sociales de leur production – c’est-à-dire aux positions qu’occupent leurs auteurs dans le champ de production – et d’autre part au marché pour lequel elles ont été produites (et qui peut n’être autre que le champ de production lui-même) et aussi, le cas échéant, aux marchés successifs sur lesquels elles ont été reçues.17
In Bourdieus Diskursverständnis sollen die spezifischen Eigenschaften eines Diskurses analog zur sozialen Position des Sprechers bzw. Akteurs gedeutet werden, so dass der Diskurs zum einen als ein sozial bedingtes Konstrukt aufgefasst wird und zum anderen aus sprachtheoretischer Perspektive hergeleitet wird. In Ce que parler veut dire entwickelt Bourdieu den Diskursbegriff maßgeblich in Abgrenzung zur strukturalistischen Sprachwissenschaft, indem er ‚Diskurs‘ als sozialabhängigen, stilistisch gekennzeichneten Idiolekt bezeichnet:
Ce qui circule sur le marché linguistique, ce n’est pas la langue, mais des discours stylistiquement caractérisés, à la fois du côté de la production, dans la mesure où chaque locuteur se fait un idiolecte avec la langue commune, et du côté de la réception, dans la mesure où chaque récepteur contribue à produire le message qu’il perçoit et apprécie en y important tout ce qui fait son expérience singulière et collective.18
Als sozialbedingt distinguierte Kommunikationsformen definiert, zirkulieren Diskurse nach Bourdieu innerhalb spezifischer Felder. Beispielsweise sind Diskurse einzelner politischer Gruppierungen dem politischen Feld zuzurechnen, während literarische Werke grundsätzlich im kulturellen bzw. intellektuellen Feld zirkulieren. Unabhängig von jedweder Spezifität nimmt das Feld in Bourdieus Verständnis die Funktion eines Kräftefeldes ein, innerhalb dessen unterschiedliche Akteure Stellung beziehen:
Le champ est un réseau de relations objectives (de domination ou de subordination, de complémentarité ou d’antagonisme, etc.) entre des positions […]. Chaque position est objectivement définie par sa relation objective aux autres positions, ou, en d’autres termes, par le système des propriétés pertinentes, c’est-à-dire efficientes, qui permettent de la situer par rapport à toutes les autres dans la structure de la distribution globale des propriétés.19
Diese Prämisse bedingt die Gliederung des Feldes in zwei zueinander homologe Bereiche, den Bereich der Stellungen (espace de positions) und den Bereich der Stellungnahmen (espace de prises de position), wodurch die Relationalität zwischen Diskurs und Akteur expliziert wird:
Toutes les positions dépendent, dans leur existence même, et dans les déterminations qu’elles imposent à leurs occupants, de leur situation actuelle et potentielle dans la structure du champ […]. Aux différentes positions […] correspondent des prises de position homologues, œuvres littéraires ou artistiques évidemment, mais aussi actes et discours politiques, manifestes et polémiques, etc.20
Letztlich determiniert das Konzept des Feldes maßgeblich die Kategorisierung von Diskursen, welche im Unterschied zum diskursanalytischen Ansatz nach Foucault nicht aus sich selbst heraus gedeutet werden, sondern in Rückbindung einerseits an den individuellen Sprecher und andererseits an das feldbedingte Sozialgefüge seiner Entstehung. Erst durch diese feldspezifische Homologiestellung von Stellungnahmen und Akteuren treten unterschiedliche diskursive Ausprägungen in Erscheinung. Die feldspezifische Lokalisierung und Klassifizierung von Diskursen intendiert ein Analysemodell, das unterschiedliche Ansätze berücksichtigt: den direkten Zusammenhang zwischen Individualbiographie und Werk, die immanente Werkinterpretation und die ein Ensemble von Werken in Beziehung setzende intertextuelle Analyse.21 Indem einzelne Positionsnahmen zueinander in Beziehung gesetzt werden, rücken bei Bourdieu der distinktive Antrieb bestimmter Diskurse eines Feldes sowie der Distinktionswert der entsprechenden Akteure in den Vordergrund, was Joch/Wolf zu Recht als besondere Errungenschaft des feldtheoretischen Ansatzes bezeichnen.22 Tatsächlich postuliert Bourdieu die Lektüre und Interpretation „à travers le système des écarts par lequel elle [une œuvre, S.I.] se situe dans l’espace des œuvres contemporaines“23, um der Singularität seiner Textualität in angemessenem Rahmen Rechnung zu tragen. Somit lässt sich der Diskurs nach Bourdieu als zweifach gefiltertes Produkt beschreiben: Als sowohl akteur- wie auch feldbezogenes Konzept24 spiegeln sich in ihm der spezifische Habitus des Sprechers sowie die für das jeweilige Feld epochenspezifischen Frage- bzw. Problemstellungen.
Die fundamentale Differenzierung zwischen einem Bereich der Stellungnahmen und einem Bereich der Stellungen im feldtheoretischen Ansatz indiziert innerhalb der methodischen Kontrastierung Bourdieus und Foucaults den essentiellen Unterschied beider Denkmodelle. Bourdieu postuliert damit die Integrität der von Foucault als zu suspendierende traditionelle Einheit bewerteten Subjektsouveränität und folglich in Hinblick auf die Literaturwissenschaft auch die Zusammengehörigkeit der Aussagen eines Autors zu einem Werk. Jene bei Foucault diskreditierten Entitäten wie Werk, Autor und Disziplin konstituieren bei Bourdieu die analytische Grundlage einer kultursoziologischen Interpretation. Dennoch existiert zwischen beiden Ansätzen eine Schnittmenge, die im Folgenden herausgearbeitet wird. Vorausgesetzt nämlich, dass man den von Bourdieu abgesteckten Bereich der Stellungnahmen in seiner epochenspezifischen Feldbezogenheit fokussiert, lässt sich eine gewinnbringende Kombination beider Theorien rechtfertigen. Es sollen daher nun die beiden Diskurskonzepte unter dem Blickwinkel dessen betrachtet werden, was Bourdieu zunächst als „kulturelles Unbewusstes“25 und schließlich als „Raum der Möglichkeiten“26 bezeichnet, um in einer daran anknüpfenden synthetischen Schlussfolgerung den besonderen Mehrwert dieser theoretischen Verknüpfung für die praktische Anwendung herauszustellen.