Loe raamatut: «Sarah (eBook)»

Font:


Scott McClanahan

Sarah

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Clemens Setz

ars vivendi

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Sarah Book bei Tyrant Books, New York.

Copyright © Scott McClanahan

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen deutschen Originalausgabe 2020

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten.

www.arsvivendi.com

Cover: Sarah Eschbach

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

ISBN 978-3-7472-0107-7

Für Julia

Inhalt

TEIL EINS

TEIL ZWEI

TEIL DREI

DER AUTOR

TEIL EINS

Ich weiß nur eine Sache übers Leben. Wenn du lang genug lebst, fängst du an, Dinge zu verlieren. Alles wird dir weggenommen: Zuerst verlierst du deine Jugend, dann deine Eltern, dann verlierst du deine Freunde, und am Ende verlierst du dich selbst.

Ich war der beste betrunkene Autofahrer der Welt. Ich war schon jahrelang in Übung. Eines Morgens kam Sarah von der Arbeit nach Hause und ging sofort ins Bett. Ich deckte sie gut zu, küsste sie auf die Stirn und sagte, dass sie sich um nichts zu sorgen brauche. Ich sagte ihr, sie solle einfach ins Traumland hinübergleiten und nicht mehr an ihre Nachtschicht denken, und wenn sie erwachte, würde alles besser sein. Dann machte ich die Tür zu und schlich die Kellertreppe hinunter. Ich wich den Bergen aus Müll aus und ging in den kleinen Raum, in dem das verstimmte Klavier aus Sarahs Kindheit stand. Dort bewahrte ich die große Flasche auf. Ich nahm die leere Wasserflasche aus meiner Hosentasche und öffnete den Deckel des Klaviers. Das Holz knarrte iiek und klaffte auf wie das Maul eines Ungeheuers. »Ich mach mir Sorgen um dich«, hatte Sarah mir einige Wochen zuvor gesagt. Daran musste ich nun denken, als ich in das aufgeklappte Klavier hineinfasste und die Flasche herauszog. Ein paar Klaviertöne taten sich zu einer kurzen Melodie zusammen, als ich den Deckel abschraubte und meine leere Wasserflasche darunterhielt und sie befüllte. Ein kleines Liebeslied. Ich hörte ihm zu. Dann schraubte ich beide Deckel fest, legte die große Flasche zurück und klappte das Klavier zu.

Jetzt kam das Beste. Auto fahren. Ich fuhr die Straße runter, vorbei an roten Ampeln und Stoppschildern, die »Stopp!« brüllten. Ich schwebte mit 120 km/h auf gleicher Höhe mit anderen Autos und dachte: Wir sind alle nur wenige Meter voneinander entfernt. Nur ein paar Meter von der Physik des Todes entfernt.

Manchmal sagte ich so etwas laut und manchmal auch nicht. Ich wechselte auf die Interstate und starrte auf die weißen Linien und dachte an meinen Freund, der immer geisteskrank lachte, wenn ich zu ihm ins Auto stieg, und dann »Ich bin der beste betrunkene Autofahrer der Welt!« brüllte und aufs Gaspedal trat. Womit er, ganz unter uns, absolut recht hatte. Es war fast so, als hätten sich alle seine Reflexe verbessert oder so. Oder vielleicht war er auch einfach nicht so nervös und unter Spannung und konnte Auto fahren, ohne Auto zu fahren. Ich hab ihn einmal nach seinem Geheimnis gefragt, warum er niemals von der Polizei angehalten worden war, und er sagte mir, du musst unsichtbar sein. »Sei unsichtbar, Scott. Sei unsichtbar.«

Ich trank aus der mit Gin gefüllten Wasserflasche und trank dazu Wasser aus einer anderen Wasserflasche und dann wiederholte ich das Ganze. Aus dem Handschuhfach holte ich das Mundwasser. Ich machte den Deckel auf und musste kurz kichern und kippte das Zeug in meine Kehle und gurgelte. Dann fuhr ich weiter auf den blauen Himmel und die purpurne Erhabenheit der Berge zu und ich spuckte das Mundwasser zurück in die Mundwasserflasche. Ich hörte Radio und suchte nach einer CD und fühlte mich wie sonst nie. Ich fühlte mich ruhig, ich fühlte mich glühend, und unsichtbar. Und ich fuhr auf der Interstate den Hügel hinauf. Dann hörte ich Iris.

»Oh Gott, Scheiße«, sagte ich. Ich hatte die Kinder vergessen. Ich wandte mich um und da, auf dem Rücksitz, waren mein Sohn Sam und meine Tochter Iris. Die ganze Zeit passierte mir so saudummer Scheiß, wie zum Beispiel die Kinder mitnehmen und dann vergessen, dass sie da sind, oder die Kinder ins Auto laden und dabei gar nicht registrieren, dass ich sie ins Auto lade. Ich rief: »Geht’s euch gut da hinten? Setzt euch einfach hin und genießt die Fahrt. Vielleicht fahren wir Oma und Opa besuchen, ja? Wollt ihr Oma und Opa besuchen?«

Ja, wollten sie. Also streckte ich meinen Arm in die Luft und rief: »Dann auf zu Oma und Opa!« Und sie lachten, da hinten auf ihrem Rücksitz, und ich rief noch einmal: »Auf zu Oma und Opa!«, allerdings lachten sie diesmal nicht mehr. Aber es war mir egal. Ich würde mir von ihrer Griesgrämigkeit nicht die Stimmung verderben lassen. Also nahm ich einen Schluck vom Gin und spülte mit Wasser nach und die ganze Welt drehte durch. Ich begriff, wie sehr ich jeden Tag Angst hatte, Sarah könnte meine Flaschen entdecken. Ich begriff, wie sehr ich Angst hatte, dass sie meine Versteckplätze fand. Also trank ich weiter. Ich stellte mir vor, die ganze Haut der Erde aufzutrinken und all das Blut der Welt und die Geister all meiner Freunde und ich trank sogar die Luft. Ich ließ meine Kinder schmelzen und trank auch sie. Und sie schmeckten herrlich.

Ich fuhr also weiter in Richtung Oma und Opa, und da bemerkte ich auf einmal das Polizeiauto neben der Straße. Fuck. Fuck. Auf die Bremse. Auf die Bremse. Radarpistole. Wir fuhren vorbei. Ich schaute in den Rückspiegel und dachte: Bleib, bitte bleib. Ich stellte mir vor, ich wäre unsichtbar. Dann sah ich, wie das Polizeiauto in Bewegung kam und auf die Interstate fuhr. Ich sah die Lichter. Rot. Blau. Weiß. Rot. Blau. Weiß. Ich fuhr weiter und erinnerte mich daran, was mir mein Nachbar, der auch Polizist war, geraten hatte: »Das Verhalten von Personen nach dem Angehaltenwerden entscheidet darüber, ob sie verhaftet werden.« Ich hielt am Straßenrand, wenige Meter entfernt von den anderen Autos, die mit 120 an uns vorbeirasten. Wir waren alle so nah dran, einander zu erschlagen, die ganze Zeit. Das Polizeiauto hielt hinter mir. Ich sah das Gesicht des Polizisten im Rückspiegel.

Für einen kurzen Moment blieb er in seinem Wagen sitzen, also nahm ich schnell drei Stück Kaugummi aus meiner Hemdtasche, die ich immer dort aufbewahrte. Ich steckte sie in den Mund, um den Geruch zu übertönen, dann beobachtete ich den State Trooper, wie er aus seinem Wagen stieg, jetzt richtete er sich auf und immer weiter auf und stand schließlich ganz aufrecht da. Und da kam er, riesengroß, zu mir, und ich beobachtete ihn, wie er die Rückseite meines Autos berührte, um dort für den Fall, dass ich auf ihn schoss und davonfuhr, seine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Ich kurbelte das Seitenfenster runter, und der Polizist sagte: »Führerschein und Zulassung bitte.«

Aber ich war vorbereitet. Führerschein und Zulassung und Versicherungsvertrag lagen immer auf dem Beifahrersitz, damit ich mich bei einer Kontrolle nicht besoffen durchs Handschuhfach fingern musste. Ich reichte ihm die Unterlagen und dachte dabei: »Nicht zittern. Bitte nicht zittern.« Wenn ich mich betrank, saß ich immer auf Parkplätzen und übte Sprechen ohne Lallen und Bewegen ohne Zittern. Aber jetzt war ich hier und meine Worte verwischten sich und meine Hände zitterten. Beinahe wäre mir alles runtergefallen. Der Polizist sagte nichts. Er bückte sich und schaute zu uns in den Wagen herein.

Dann stand er einfach da und schaute sich die Zulassung an. Dann den Führerschein. Dann den Zettel von der Versicherung. Schließlich neigte er sich ein wenig nach vorne, als wäre da ein Geruch an mir. Ich war mir sicher, dass er ihn bemerkte. Die Kinder strampelten und redet­en miteinander auf dem Rücksitz.

»Einen Augenblick«, sagte er und ging zurück zum Polizeiauto. Alles war vorbei. Sarah würde es erfahren. Iris und Sam begannen, ein wenig zu weinen.

»Keine Angst«, sagte ich. »Alles in Ordnung.«

Aber ich wusste, dass nichts in Ordnung war. Ich sah den Polizisten vor mir, wie er zurückkam und mich fragte: »Sir, haben Sie heute Alkohol getrunken?« Und dann: »Würden Sie bitte kurz aussteigen?« Ich sah Sarah vor mir, wie sie zur Polizeistation kam und die Kinder abholte, und ich stellte mir die Leute vom Jugendamt vor, die plötzlich auftauchten und sie befragten. Ich würde heulen, während ich ihr erzählte, dass ich die ganze Zeit gelogen und dass ich die Kinder in Gefahr gebracht hatte und dass ich das Leben zerstörte, das wir zusammen aufgebaut hatten. Ich würde ihr sagen, dass ich unser Leben zerstörte.

Und so beobachtete ich ihn, wie er endlich aus seinem Auto stieg und zurück zu meinem ging. Ich machte mich bereit für den Moment, da er sagte: »Bitte steigen Sie aus dem Fahrzeug.« Aber er tat es nicht. Er gab mir alles zurück, was ich ihm gegeben hatte. Dann schaute er auf den Rücksitz und, anstatt mich zu verhaften, sagte er: »Hey, Kiddies. Mögt ihr mir dabei helfen, dass euer Dad heute nicht mehr zu schnell fährt?«

Ich nahm Führerschein und Zulassung und Versicherungsvertrag. Die Kinder antworteten nicht.

Und er wanderte zurück zu seinem Wagen. Und ich war verschont geblieben. Ich war zu verschreckt, um mich zu bedanken. Die Kinder weinten nun wirklich. Rotz hing aus ihren Nasen. »Hey, hey, meine Babys, nicht weinen«, sagte ich, aber meine Worte waren so undeutlich, dass man sie nicht mal mehr verstehen konnte. Ich versuchte, die CD auszutauschen, aber meine Hände zitterten so stark, dass ich es sein ließ. Ich fuhr zurück auf die Interstate und lächelte und wechselte zwischen den Fahrspuren hin und her. Ich lächelte und hörte den Kindern beim Heulen zu und fühlte die Welt leuchten. Ich übergab mich in eine Plastiktüte von Walmart und warf sie aus dem Fenster. Die Kinder weinten noch immer, aber es war mir jetzt egal. Ich war frei, ich war davongekommen und ich fuhr unseren Todeswagen so schnell und furchtlos über die Erde. Ich zerstörte unser Leben und es fühlte sich so verdammt großartig an.

Ein paar Wochen später verbrannte ich eine Bibel. Ich blickte zu meinem Freund Chris und sagte: »Weißt du was, wir sollten eine Bibel verbrennen.« Tatsächlich hatten wir schon eine Weile darüber gewitzelt. Ein Monat davor war die Rechnung beim Drive-in von Taco Bell genau 6.66 $ gewesen. Danach behauptete ich immer, wenn ich mit Freunden ausging, der Teufel sei hinter mir her. Ich sagte so was wie »Ich schwöre, der Teufel ist total hinter mir her.« Und dann bestellte ich bei Taco Bell das Gleiche wie damals, und es kam wieder auf 6.66 $ und alle so whoa oh mein Gott.

Vielleicht war es ein Zeichen. Vielleicht wollte der Teufel mir ja wirklich was mitteilen.

Also begann ich nach einer Bibel zu suchen. Chris fand die Idee nicht so gut und sagte, Sarah würde es sicher rauskriegen. »Wegen Sarah mach dir mal keine Sorgen«, sagte ich. Ich war erwachsen und wenn ich eine Bibel verbrennen wollte, konnte mir Sarah das auch nicht verbieten.

Ich durchsuchte die Bücherregale im Keller. Wir besaßen drei Bibeln. Es gab eine Gideons-Ausgabe und eine mit einem schwarzen Einband, die meine Kindheitsbibel gewesen war. Und dann noch eine im untersten Regal. Das war die neueste Bibel im Haus. Irgendwer hatte sie uns zu unserer Hochzeit geschenkt.

Ich nahm sie aus dem Regal. Es war eine dieser riesigen weißen ­Plüschbibeln und in der Ecke stand »Sarah und Scott McClanahan« in Gold. Diese Art von Bibel liegt bei Leuten sonst immer gut sichtbar auf dem Couchtischchen oder im Haus von Großeltern oder so. »Ich glaub, wir sollten lieber nicht«, sagte Chris, aber ich hörte nicht auf ihn. Also legte ich die Bibel auf den Tisch und schlug sie auf. Das Buch Daniel. Er ließ den Ofen siebenmal stärker heizen, als man ihn gewöhnlich heizte. Ich ging in einen anderen Teil des Kellers, wo Sarah die alten Werkzeuge ihres Vaters aufbewahrte. Ich kramte eine Zeit lang, dann fand ich endlich einen Behälter mit Feuerzeugbenzin und ein paar Streichhölzer.

Das Benzin tropfte tropftropf auf die Bibelseiten. Dann das Streichholz. Ich riss es an der Reibefläche an, die Flamme kam, aber dann blies ich es wieder aus. »Oh verdammt, lass mich vorher noch kurz …«, sagte ich. Ich schaltete das Licht aus.

Chris wiederholte: »Ich glaub, wir sollten lieber nicht. Wir sollten lieber nicht.«

Aber ich zündete schon das nächste Streichholz an und ließ es auf die Bibel fallen, und es hörte sich an, wie wenn etwas zerreißt, und ha, die Bibel brannte hell.

Mein Gesicht glühte im Licht. Ich sah mein Spiegelbild im Fenster, und da war ein Heiligenschein um meinen Kopf.

Die Flammen verteilten sich wellenartig über die Seiten, und ihre Farbe wechselte von rot zu braun zu schwarz. Ich löschte die paar noch glosenden dunklen Aschestücke, und das war alles. Nichts passierte. Es war genau dasselbe, wie wenn ich mich im Auto betrank und der Teufel nichts dazu beizutragen hatte. Chris und ich mussten lachen. Aber dann hörten wir Sarah oben herumgehen und wir gerieten in Panik. Ich klappte die Bibel zu. Das Papier knisterte und wellte sich. Dann legte ich die Bibel zurück ins unterste Regal, und da kam sie schon die Treppe herunter.

Einen Monat später hatte ich alles vergessen. Ich weiß nicht warum, aber ich hatte die verbrannte Bibel damals einfach zurück ins unterste Regal gelegt, anstatt sie wegzuwerfen. Sarah und ich und eine von Sarahs Freundinnen waren gemeinsam im Keller. Ich arbeitete an meinem Schreibtisch, und Sarah zeigte ihrer Freundin gerade den neuen Boden, den wir im Keller verlegt hatten.

»Oh, schaut super aus.«

»Ja, wirklich super.«

Solche Sachen sagten sie. Und Sarahs Freundin schaute sich den glänzenden neuen Boden an und dann all meine Bücher in den Regalen, und sie sagte: »So viele Bücher.« Sarah schüttelte den Kopf und sagte: »Ja, er mag Bücher.«

Dann entdeckte Sarahs Freundin etwas in einem Regal, das ihr Interesse weckte.

Ich hörte sie sagen: »Oh wow, wir hatten auch so eine Bibel, wie ich klein war. Diese riesigen Plüschbibeln hatte ich so gern!« Ich drehte mich um und sah, wie die Frau die verbrannte Bibel aus dem Regal nahm und in der Hand hielt. Sarah sagte, sie hätte die Bibel vor ein paar Jahren als Hochzeitsgeschenk bekommen. Sarahs Freundin machte die Bibel auf, und die verbrannten Seiten knisterten und krachten und stellten sich auf.

Sarahs Freundin sagte: »Oh Gott.«

Sarah: »Was zum …«

Erwischt. Sarah nahm ihrer Freundin die Bibel weg und wurde still. Ich sagte nichts.

Ich versuchte mir etwas auszudenken, was ich zur Erklärung vorbringen konnte. In der sechsten Klasse waren meine Freunde und ich einmal bis spät in die Nacht wach geblieben und hatten eine ganze Flasche billigen Wein ausgetrunken, die meine Eltern ganz hinten in einem Schrank aufbewahrt hatten. Hinterher hatten wir die leere Flasche einfach wieder zurückgestellt. Im Sommer danach entdeckte meine Mutter die Flasche.

»Was ist mit dieser Flasche passiert, Scott?«, sagte sie.

Ich sagte: »Muss verdampft sein.«

Und sie glaubte mir.

Aber als Sarah mich fragte, ob ich wisse, was mit der Bibel passiert war, wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Ich fragte mich, ob ich mich so wie damals in der sechsten Klasse verhalten sollte, also einfach sagen: Hä, was meinst du, keine Ahnung. Und sie dabei anschauen, als wäre sie irgendwie gestört. Aber dann sagte ich die Wahrheit. Ich erzählte ihr, Chris und ich hätten die Bibel verbrannt. Zuerst stand sie nur da und starrte mich an, als hätte ich sie verwirrt.

Dann sagte sie ganz ruhig: »Warum tust du so etwas?«

Sarahs Freundin stand auch nur da und grinste ein Grinsen, als wüsste sie nichts beizutragen.

Aber dann fing Sarah zu schreien an: »Warum tust du so etwas? Verdammt noch mal, warum tust du so was?« Und sie schrie: »Die Bibel hab ich von Mary Jo zur Hochzeit bekommen!«

Und Sarahs Freundin sagte: »Ich versteh nicht, wie du so was machen kannst, Scott.« Und Sarah brüllte noch irgendetwas, und dann rannte sie die Treppen hoch.

Am Abend war Sarah immer noch sauwütend und schrie mich an: »Warum hast du das getan?«

Ich versuchte wieder, mich zu verteidigen. Ich sagte, wo sei denn das große Problem. Es sei doch witzig. Ich glaubte nicht an das ganze Zeug, was spielte es also für eine Rolle. Ich sagte ihr, wir hätten uns halt gelangweilt.

Und Sarah sagte, es sei ihr direkt unheimlich. Sie frage sich, ob es noch mehr gab, was ich ihr verheimlichte, Dinge, Leute. Ein Doppelleben, das ich vielleicht führte. Sie sagte, so was mache man einfach nicht, auch nicht im Scherz.

Dann sagte sie mir, sie wolle das Ding nicht mehr im Haus haben. Sie sagte, sie wollte diese verbrannte Bibel nicht eine einzige Minute länger im Haus haben. Also versprach ich, ich würde sie morgen in den Müll werfen, aber das genügte ihr nicht. Sie verlangte, dass sie sofort entsorgt werden würde. Also holte ich einen Müllsack aus der Küche, schüttelte ihn aus, sodass er sich ffflup mit Luft füllte. Damit ging ich nach unten und legte die Bibel in den Sack. Kleine Stücke rieselten von ihr ab, langsam, wie Schneeflocken. Dann zog ich die Schnur zu und band sie fest. »Ich werfe sie in den Müll«, sagte ich, aber das genügte Sarah auch nicht. Sie sagte mir, sie wolle nicht, dass die Müllmänner sie sehen. Da brüllte ich sie an, es sei absolut lächerlich, sich darum zu kümmern, was die scheiß Müllmänner über uns denken.

Aber dann sagte ich: »Okay, okay.« Und ich zog meine Kleider an und nahm meine Schlüssel und sagte, dass ich sie irgendwie verschwinden lasse. Ich ging nach draußen in die Dunkelheit und suchte nach einem geeigneten Ort. Ich schaute hoch zum Vollmond und fuhr die Straße entlang.

Ich kam zur Tankstelle und stieg aus, um die Bibel hier irgendwo wegzuwerfen, aber da war ein Typ, der mir den Rücken zukehrte, an der Zapfsäule neben mir. Ich versuchte, die Bibel in den Müllbehälter neben den Zapfsäulen zu drücken, aber der Müllbehälter war bereits randvoll mit Müll, und die riesige Bibel passte nicht rein. Ich versuchte es seitwärts, aber nein. Der Typ schien nichts zu bemerken. Ich hörte Gelächter und es kam von ihm. Er drehte sich zu mir, und ich sah sein Gesicht und ich sah seine Haut. Er sah verbrannt aus. Das Gesicht war knotig vor Narbengewebe, und der Mund sah geschmolzen aus, geknetet zu einer Maske reiner Schmerzen. Also ließ ich die verbrannte Bibel auf den Boden fallen, und der verbrannte Mensch starrte mich einfach an.

Ich floh. Ich stieg ins Auto und fuhr so schnell weg, wie ich konnte. Ich schaute hoch zum Vollmond und ich sah Wolken, die sich über und unter ihm bewegten, wie Messer. Ich sah, wie die Wolken Geisterformen im Himmel bildeten, und ich sah, wie lächerlich das alles war. Und nichts geschah.

Es war erledigt, und ich befand mich nicht an einer Kreuzung, umzingelt von Heerscharen von Engeln aus der Hölle. Und ich sah keine Zukunft vor mir. Ich sah nicht, wie mein Leben zerfallen und wie bald ich mich mit der Schweinegrippe anstecken würde. Ich sah nicht, dass Chris’ Onkel zwei Monate später Selbstmord begehen würde, und ich sah auch nicht, dass sich Chris noch vor Ende des Jahres würde scheiden lassen. Ich sah nicht, dass meine Tochter so krank und klein geboren werden würde. Und ich sah nicht, dass Sarah bald sagen würde, es sei vorbei. Kein Gespenst knisterte mir hinterher. Niemand zeigte mir meine Zukunft, in der alles, was ich kannte und liebte, verschwinden würde. Niemand folgte mir mit der Heugabel, und es roch auch nicht nach Schwefel. Nirgends die Gewissheit einer Apokalypse mit gewaltigem Geschrei allerorts und Geheul und Zähneknirschen. Keine Wegkreuzung, keine Seelen zum Verkauf. Nichts, was irgendwie dem Teufel glich. Nur ich. Die ganze Hölle.

Als ich Sarah Johnson zum ersten Mal begegnete, sagte sie mir, dass ich meinen Penis zum Schrumpfen bringen würde.

Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover und Strumpfhosen unter einem schwarzen Rock und schwarze Stiefel, die bis zu ihren Knien reichten. Sie sah wie eine Zeichentrickfigur aus und sie hatte diese riesigen, also riesig-riesigen, riesigen braunen Augen. Ihre Nase war klein und ihr ­Mu­nd war winzig, im Grunde nur ein Punkt. Und der Punkt kräuselte sich seitlich in so ein stirnrunzeliges Etwas, aber scheiß auf Beschreibungen.

Ich trank mein Mountain Dew, und sie sagte: »Du weißt schon, dass da Tartrazin drin ist? Das bringt Penisse zum Schrumpfen.«

Ich nahm einen Schluck aus der großen Flasche und sagte: »Deshalb trink ich’s ja. Muss paar Zentimeter wegnehmen von dem Ding.«

Sie lachte folgendermaßen: Versuch, Oh Gott zu sagen. Oh Gott. Und jetzt sag es eine Million Mal.

Das erste Mal, dass ich Sarah Johnson eine Geschichte erzählen hörte, ereignete sich dann einige Minuten später. Sie erzählte von einer ihrer Mitbewohnerinnen, die sich heute Nacht ihre Feige polieren lassen wollte. Also würde Sarah ihr etwas Privatsphäre gönnen.

»Ihre Feige polieren? Was bedeutet das?«

Sarah lächelte, deutete zwischen ihre Beine und wedelte mit ihren Händen auf und ab, als wären sie Wild-West-Pistolen, und dann sagte sie: »Na ja, die Feige hier. Die Feige polieren. Beste Feige der Welt.«

Und sie zwinkerte mir zu.

Dann fragte sie, ob ich Feigen mochte.

Ich sagte: »Ja, ich mag Feigen.«

Sarah sagte: »Wer nicht? Gott segne unser Obst.«

Dann, einige Minuten später, kam das erste Mal, dass Sarah Johnson meine Hand berührte. Ich saß in einem Bürosessel mit Rädern und sie auch und sie rollte hin und her zwischen ihrem und einem anderen Schreibtisch. Sie nahm meine Hand und zog mich zu sich. Wir rollten im Raum herum.

Ich sagte: »Was machen wir hier eigentlich?«

Sarah lächelte und sagte: »Bürosesseltanzen, zu zweit.«

Sie erzählte mir von einem Theaterstück, dass sie sich gern ansehen würde. Ob ich sie begleiten wolle. Ich wollte es gern mit ihr anschauen und ich sagte: »Okay.«

Bei meinem ersten Date mit Sarah Johnson passierte Folgendes. Ich war neunzehn und sie war vierundzwanzig und mir wurde bewusst, dass ich nie zuvor ein Date gehabt hatte. Nie. Sie kam zu mir, und ich hatte dieses abgerissene T-Shirt an, und meine Zähne waren im Arsch, weil mir einer der Schneidezähne entzweigebrochen war. Ich hatte in derselben Woche meinen Kopf rasiert, überm Waschbecken.

Ich bot ihr ein Old Milwaukee an. Ich hinkte allem hinterher. Sie schaute mich an und sagte: »Na ja. Besser wird’s wohl nicht.« Dann betrachtete sie mein dreckiges Zimmer. Bücher überall, leere Dosen, verstreute Zettel. Sie fragte mich, warum ich nicht saubermachte. Ich erzählte ihr, dass ich manchmal depressive Phasen hatte, und dann redeten wir und scherzten über die Verwendung von Tampons als Weihnachtsschmuck. Sarah lachte und ich lachte auch. In dem Moment wusste ich, dass ich nichts auf der Welt so gern tat, wie sie zum Lachen zu bringen.

Ich zog ein Hemd an und eine Krawatte, und dann gingen wir das Theaterstück anschauen, eine Dramatisierung von Mark Twains Tagebücher von Eva. Im ersten Akt sahen wir, wie Adam und Eva aus dem Garten verbannt wurden. Im zweiten Akt dann wurden die beiden alt. Wir schauten Eva dabei zu, wie sie einen ihrer Söhne verlor. Das war der Alterungsprozess. Sie betrachtete ihr Gesicht im Wasser eines Flusses und dachte an früher. Sie hatte Angst vorm Älterwerden. Adam sagte ihr, das Fleisch sei eine Täuschung und wir seien jetzt einfach Menschen und am Ende narre uns das Fleisch. Als Eva starb, weinte der Schauspieler, der Adam spielte, und als Adam Eva ganz am Ende begrub, sagte er: »Ich hatte geglaubt, es wäre unser großes Unglück gewesen, den Garten verlassen zu müssen, aber nun sehe ich ein, dass ich mich geirrt habe. Denn man kann nur das lieben, was man verliert. Ich habe begriffen, dass ich den Garten, aus dem wir vertrieben wurden, niemals vermisst habe. Da, wo sie war, da war mein Eden.«

Sarah drehte sich zu mir und ich verdrehte die Augen. Ich steckte mir einen Finger in den Hals, als wollte ich mich übergeben, und Sarah schüttelte ihren Kopf und lächelte. Wir gingen vor Ende des Stücks raus und spazierten nebeneinander her und redeten.

Sarah erzählte mir, dass die letzten Jahre für sie schwierig gewesen waren. Vor zwei Jahren war sie auf der Interstate auf dem Heimweg gewesen, und sie musste plötzlich rechts ranfahren, weil sie glaubte, sterben zu müssen. Sie dachte, sie hätte einen Herzinfarkt, und die Sanitäter dachten das auch, aber es war nur eine Panikattacke. Sie brachten sie schnell ins Krankenhaus und ließen ihr Auto, wo es war, und nach dem Krankenhausaufenthalt hatte sie Angst vor allem und konnte gar nichts mehr tun, weil sie immer glaubte, sterben zu müssen. Deshalb tue sie jetzt so, als wäre sie tapfer. Sie sagte, das sei die Geschichte der ganzen Welt – so tun als ob. Dann fragte sie mich, ob ich das Theaterstück dämlich fand. Sie sagte, dass wir, wenn wir von bloß einem Mann und einer Frau abstammten, eigentlich alle dauernd Inzest machten. Die erste Kindergeneration müsste sich ja miteinander paaren oder mit den eigenen Eltern. Wir lachten, und sie fragte mich, ob mir das Stück gefallen habe. Ich sagte, es sei kitschig und voller Klischees. Dann lachte sie und sagte: »Klischees. So wie unser Leben.«

Als ich Sarah Johnson zum ersten Mal küsste, war es drei Tage vor Thanksgiving. Wir trafen uns bei ihr und schauten einen Film über einen Schulbus voller Kinder, die alle sterben, und dann noch eine Wiederholung von Jeopardy. Ich dachte: Filme über tote Kinder sind immer gut für die Romantik.

Ich dachte: Komm, trau dich.

Ich dachte das die ganze Zeit.

Ich lehnte mich zu ihr und küsste sie auf die Wange. Sie lehnte sich zu mir und ich küsste sie auf den Mund. Es fühlte sich so an: zzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzzip.

Wir küssten uns und küssten uns, und dann sagte Sarah: »Warum lässt du die Augen dabei offen? Das ist seltsam.«

Ich sagte, tut mir leid. Dann küssten wir uns weiter, aber ich machte wieder die Augen auf. Da fühlte ich mich auf einmal, als würde ich fallen. Und ich fühlte all die Klischees. Ich fühlte mich in all die Klischees fallen. Ich fühlte mich, als könnte ich nicht mehr atmen, Finger eng um meinen Hals. Fallen, ersticken. Alles war schön, so schön, aber dann kam Sarahs Stiefbruder in den Raum.

Sarah sagte: »Ich hab gedacht, er ist weg.«

Ihrem Stiefbruder war es ebenfalls peinlich: »Oh, tut mir leid, Sarah.«

Er lief die Treppen hoch, und Sarah und ich setzten uns aufrecht hin und Sarah sagte, es tue ihr leid.

Ich sagte ihr: »Bloß gut, dass er nicht ein paar Minuten später reingekommen ist, sonst hätte er meinen weißen Hintern rauf und runter –«

Sarah sagte, halt die Klappe. Sie sagte, ich sei ein Idiot. Sie hatte recht. Also hielt ich die Klappe, idiot-style.

Aber was Sarah natürlich nicht wusste: Ich war neunzehn. Ich hatte noch nie wen geküsst. An jenem Abend fuhr ich nach Hause und dachte: Jetzt, wo ich wen geküsst habe, muss ich vielleicht nicht sterben.

Ich frage mich, ob ich damals, als ich durch die Berge fuhr, schon ahnte, dass ich Sarah zehn Jahre später heiraten und Kinder mit ihr haben würde. Dass wir in dem Haus leben würden, das ich gerade eben verlassen hatte. Ich frage mich, ob ich ahnte, dass ich eines Tages da­rüber schreiben würde, wie wir uns begegnet waren und wie uns das, was wir lieben, abhanden kommt. Und wie dieses Kapitel endet: mit einer Zeile aus einem Theaterstück, das sich zwei Leute vor langer Zeit angeschaut hatten. Es würde so enden. Was alles passiert ist, tut mir nicht leid. Denn da, wo sie war – da war mein Eden. In meiner Erinnerung lachen wir und verdrehen die Augen und tun so, als würden wir würgen, weil alles so kitschig und dumm ist. Es war alles ein Klischee. So wie unser Leben.

€15,99