Loe raamatut: «Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot»

Font:

Sibylle Berg

Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot

Roman

Reclam

1997, 2008, 2019 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Coverabbildung: Sibylle Berg, fotografiert von Daniel Josefson

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2019

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960415-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020560-0

www.reclam.de

Inhalt

  VERA trinkt Kaffee

  NORA hat Hunger

  BETTINA guckt so

  RUTH langweilt sich

  TOM geht weg

  VERA sitzt auf dem Balkon

  NORA ist weggefahren

  HELGE geht ins Hotel

  VERA geht ins Büro

  RUTH schminkt sich

  VERA glaubt nix

  HELGE ist allein

  BETTINA steht auf

  RUTH trifft einen Mann

  TOM liegt im Bett

  BETTINA fährt Taxi

  PIT ärgert sich

  RUTH sieht da was auf dem Nachttisch

  NORA ist unterwegs

  BETTINA blöd

  TOM fährt mal los

  BETTINA sitzt vor dem Café

  TOM sitzt am Meer

  KARL riecht nix Gutes

  VERA geht zu einer Party

  BETTINA in der Bar

  KARL geht los

  NORA wird angesprochen

  VERA wacht auf

  NORA geht in einen Sado-Maso-Shop

  RUTH redet mit KARL

  BETTINA denkt

  HELGE fährt weg

  NORA immer noch bei THOMAS

  TOM fährt nach Barcelona

  VERA und PIT sagen nix

  TOM liegt im Bett

  VERA sagt was

  NORA und TOM sitzen rum

  Da kommt Erde auf KARL drauf

  HELGE ist immer noch nicht tot

  RUTH ißt was

  NORA verabschiedet sich

  BETTINA entdeckt die Mittelmäßigkeit

  VERA ist durcheinander

  HELGE entdeckt den Tunnelblick

  Ein normaler Tag für BETTINA

  NORA steht so rum

  PIT sieht Amerika

  BETTINA und die Sukkulente

  TOM und NORA verlieben sich und so ein Scheiß

  VERA wundert sich

  HELGE findet Freitag

  VERA fährt Auto

  BETTINA träumt Mist

  VERA sitzt rum

  PIT hat Pech

  HELGE und Freitag

  BETTINA macht einen Zauber

  NORA fährt Auto

  TOM schreit

  NORA läuft so rum

  VERA und BETTINA treffen sich

  VERA macht alles anders

  TOM sitzt auf der Piazza

  NORA im Hotel

  BETTINA bekommt Besuch

  TOM kommt gut drauf

  VERA raucht eine

  BETTINA kann nicht schlafen

  DER MANN ist nicht verliebt

  VERA ist in Gefahr

  BETTINA hat die Idee

  HELGE geht was spazieren

  BETTINA und ihr Bekannter sind nach Marrakesch gefahren

  BETTINA kriegt einen Auftrag

  PAUL (who’s the fucking Paul?) fährt nach Marrakesch

  TOM ist überrascht

  NORA fühlt sich nicht so

  BETTINA hat eine Idee

  PAUL und der Mann fahren in die Wüste

  BETTINA fährt Auto

  NORA ist allein

  VERA guckt aus dem Fenster

  TOM guckt auch aus dem Fenster

  NORA guckt auch noch einmal aus dem Fenster

  BETTINA und TOM sehen einen Laster

  VERA trinkt Kaffee

VERA trinkt Kaffee

Glückwunsch, sagt Vera. Das Wort steht in der leeren Küche. Fröstelt. Schaut sich die Küchenzeile an, das Wort, und verkriecht sich unter der Spüle. Stirbt daraufhin. Keiner ist da, um Vera zu gratulieren. Was soll mir auch wer gratulieren, und vor allem wozu? Denkt Vera. Wer bis 30 nicht versteht, worum es geht, wird es nicht mehr begreifen. Vera trinkt Kaffee. Sie guckt dabei ihre Beine an. Da sind blaue Adern drauf, die gestern da noch nicht waren. Seit ihrem 30. Geburtstag findet Vera andauernd Dinge an sich. Dinge, die zu einem Menschen gehören, der nicht mehr jung ist. Das Leben ist wie Auto fahren, seit Veras 30. Geburtstag. Eine Fahrt, so eine Straße lang, am Ende eine Mauer zu sehen, auf die das Auto auftreffen wird. Und links und rechts nur bekannte Gebiete. Das Auto fährt immer schneller, seit Vera 30 wurde. Warum anhalten. Geht nicht. Aussteigen, um zu laufen, warum? Vera guckt aus dem Fenster. Bekanntes Gebiet. Ein Hinterhof und ein toter Baum und dann Fahrräder in einem dämlichen Häuschen. Damit die nicht frieren.

Ich könnte was rausgehen und mir Kuchen holen, denkt Vera. Sie guckt aus dem Fenster und sieht sich über diesen Hinterhof gehen. Zum Bäcker, der dämlichen Frau im Bäckerladen freundlich guten Tag sagen. Obwohl sie der jeden Tag eigentlich lieber sagen würde, daß sie eine blöde Kuh ist. Die runde, selbstzufriedene Frau beim Bäcker. Die nachts bestimmt alleine in ihrem blöden Bett liegt und schwitzt. Weil sie so dick ist und nicht schlafen kann, weil sie einsam ist und weiß, daß sie es bleiben wird. Noch viele Jahre. Und die dann im Laden steht, poliert und sich fühlt, als wäre sie Gott, in dem, was sie für Unbescholtenheit hält, in dem, das Angst ist.

Vera sieht das so deutlich, wie sie da in dem Laden steht, daß ihr unbehaglich wird. Und sie kurz denkt, ob das so ist, wenn eines den Verstand verliert. In welche Richtung läuft Zeit eigentlich, überlegt Vera, und dann fällt ihr ein, daß diese Frage nicht neu ist, und daß schon mehrere Menschen verblödet sind, an dieser Frage. Da könnte sie auch gleich über das Universum nachdenken oder Dinge dieser Art, von denen keines wissen kann, ob es sie wirklich gibt. Und weil das ja blöd ist, über so was nachzudenken, geht Vera raus. Über den Hinterhof. Zum Bäcker. Grüßt freundlich, denkt alte Sau, und kauft sich Kuchen. Und an der Ecke noch ein paar Margeriten. Als Vera klein war, waren die Margeriten im Garten das einzige Schöne. Der Rest war ziemlich Scheiße. Aber die Margeriten waren schön. Vera war manchmal Margeritenarzt und mußte Operationen vollziehen. Ab und zu heirateten welche von den Blumen und so Sachen, und als Vera eines Morgens aufwachte, waren alle Margeriten weg. Ihre Mutter hatte sie umgegraben, in der Nacht. Vera weiß bis heute nicht warum, und sie guckt die Blumen an und fragt sich das. Sie geht hoch in die Wohnung, das darmige Treppenhaus, Geruch nach Bohnerwachs und nach Menschen, die nie ein großartiges Leben haben werden. Am Tisch, in der Küche sitzt sie dann und ißt den Kuchen auf. Sie guckt die Margeriten an. Guckt ihre Beine an. Und wußte schon unten auf der Straße, wie sie das machen würde. Jede Bewegung mit dem passenden Gefühl dazu. Herzlichen Glückwunsch, Vera, sagt Vera, und dann wird ihr schlecht, von dem Kuchen, und sie übergibt sich.

NORA hat Hunger

Ich wiege mich jeden Morgen.

Morgens ist es immer ein bißchen weniger.

Seit einem halben Jahr esse ich nur noch Gurken. Äpfel und Salat. Alles ohne Zusätze, versteht sich.

Zuerst war mir übel. Ich hatte Bauchkrämpfe. Aber jetzt geht es einfach. Wenn ich Essen rieche, habe ich keinen Hunger mehr. Mir wird direkt schlecht, wenn ich Essen rieche.

Gestern waren es 40 Kilo. Ich bin 1,75 groß. Vielleicht wachse ich noch. Dünner werde ich auf jeden Fall.

Ich habe es mir geschworen.

Seit ich nicht mehr esse, brauche ich niemanden mehr. Meine Eltern sind fremde Personen geworden. Es ist mir egal, ob sie mich beachten oder nicht. Ich bin sehr stark. Meine Mutter hat geweint, neulich. Ich habe zugesehen, wie das Wasser ihr Make-up verschmiert hat. Und bin rausgegangen. Es sah häßlich aus. Ich habe auch gesehen, wie dick sie ist. Sie sollte etwas dagegen tun. Ich verstecke mich in der Schule nicht mehr. Als ich noch dick war, bin ich in der Pause immer aufs Klo gegangen, damit sie mich nicht ignorieren können. Jetzt stehe ich offen da und denke mal, daß sie mich beneiden.

Ich sehe noch immer nicht ganz schön aus. Ich bin noch zu dick. Die Arme sind gut, da ist kaum noch Fleisch dran. Ich finde Fleisch häßlich. Und die Rippen sieht man auch schon gut. Aber die Beine sind zu dick.

Als ich noch richtig dick war, hatte ich irgendwie keine Persönlichkeit. Jetzt ist das anders. Ich bin innen so wie außen. Ganz fest. Mit einem Ziel ist keiner alleine, weil ja dann neben dem Menschen immer noch das Ziel da ist. Ich kann mich noch erinnern, wie es war, dick zu sein. Mal ging es mir gut, und im nächsten Moment mußte ich heulen und wußte nicht, warum. Ich meine, das kam mir alles so sinnlos vor. Daß ich bald mit der Schule fertig bin und dann irgendeinen Beruf lernen muß. Und dann würde ich heiraten und würde in einer kleinen Wohnung wohnen und so. Das ist doch zum Kotzen. Mit so einer kleinen Wohnung, meine ich. Das kann doch nicht Leben sein. Aber eben, wie Leben sein soll, das weiß ich nicht. Ich denke mir, daß ich das weiß, wenn ich schön bin. Ich werde so schön wie Kate Moss oder so jemand. Vielleicht werde ich Model.

Meine Mutter war mit mir bei einem Psychologen. Ein dicker, alter Mann. Mutter ließ uns allein, und er versuchte mich zu verarschen.

Mich verarscht keiner so leicht. Ich hab so einiges gelesen, ich meine, ich kenne ihre blöden Tricks. Und der Typ war mal speziell blöd.

»Bedrückt dich was«, hat er gefragt. Und so ein Scheiß halt, und ich habe ihn die ganze Zeit nur angesehen. Der Mann war echt fett, und unter seinem Hemd waren so Schwitzränder. Ich habe nicht über seine Fragen nachgedacht.

Ich meine, was soll ich einem fremden, dicken Mann irgendwas erzählen. Einem Mann, der sich selbst nicht unter Kontrolle hat. Der frißt. Ich bin weggegangen und habe den Psychologen sofort vergessen.

Ich habe ein Ziel.

Ich habe vor nichts mehr Angst. Ich denke nicht mehr nach. Das ist das Beste.

BETTINA guckt so

Ich liege neben dir und guck die Decke an. Vor der Tür, unten, so eine Ampel, die die Decke färbt. Ampeln ganz weit in der Nacht, da weiß ich immer nicht, was die sollen. Kein Auto da, das sie regeln können. Wenn auf der Welt nichts mehr lebt, werden die Ampeln immer noch tun, als wär alles in Ordnung. Ich frag mich, ob das ein deutsches Problem ist. Ich dreh den Kopf und sehe, daß du mich ansiehst. Munter bist. Ich zieh deinen Kopf zu mir, damit ich dir nicht in die Augen sehen muß. Damit du meinen Blick nicht siehst. In dem nichts für dich dabei ist. Außer Mitleid mit mir, daß ich schon wieder allein sein werde. Morgen wahrscheinlich schon. Oder laß es was länger dauern. Keine Ahnung, wie Verlieben anfängt. Und wie es aufhört. Ich greife nach dir, und wir fangen an mit unseren Körpern Sachen zu machen, die unsere Köpfe gar nicht mehr wollen. Ich fühle deine Haut und schmecke jetzt schon, daß sie mir bald fremd sein wird. Ich werde dich sehen, deine Haut, dein Fleisch und alles, und mir nicht mehr vorstellen können, daß es mal war. Fast wie meins. Ein letztes Umarmen. Solange es noch geht.

Zusammenschlafen mit dem Gefühl, das ist das letztemal. Und das bringt ja nun mal gar keine Nähe. Das bringt wirklich gar nichts. Und dann schläfst du ein. Ich höre zu, wie du schläfst. Noch weniger ahnend als ich selbst. Und ich schaue dich an, und die ganzen großen Sachen sind weg. Weinen zu wollen, vor Liebe. Beschützen zu wollen oder einfach nur anschauen, die ganze Nacht. Da ist nur noch jemand, der schläft. Und wo der Mund offen ist. Nix mehr da. Ich denk nur, daß ich morgen das Kissen wechseln sollte, wegen der Spucke aus deinem Mund.

Draußen steht der Vollmond und du schläfst und warum laufen wir jetzt nicht draußen rum. Erzählen uns Gruselgeschichten, fassen uns an, weil wir Angst haben, wegen der Geschichten, fallen auf so eine Wiese, vom Mond beschienen. Der Mond und du und ich gehe raus und laufe im Bademantel die kalte Straße hoch und runter. Die Füße nackig und die frieren. Ich diese blöde Straße lang und die Kälte ist gut. Steigt das Bein lang und hat was Lässiges, so im Bademantel in der Großstadt. Ich bin wieder dabei. Ein urbaner Single mit nackigen Füßen.

RUTH langweilt sich

Es ist wirklich unangenehm langweilig.

Als ich jünger war, dachte ich, wenn ich viel daran denke, wie es ist, alt zu sein, dann kann mich nichts mehr überraschen. Ich dachte mir, es wäre wahrscheinlich ganz gut, alt zu sein. Ich habe mir vorgestellt, ich wäre so eine coole Alte, mit viel Schmuck und lila gefärbtem Haar. Und ich würde in einem Haus wohnen, in Nizza vielleicht, und das schwankte immer, die Idee, wo das Haus sein würde. Auf jeden Fall wäre das Haus immer voll mit wirklich verrückten Menschen, die echt verrückte Sachen machen würden. Auf Tischen tanzen und so was. Und ich könnte über alles lachen, weil ich weise wäre und es besser wüßte. Was auch immer. Und so richtig klasse wäre es, dachte ich immer, daß mir im Alter die meisten Geschichten egal wären. Liebeskummer, Cellulite und so was. Ich dachte mir, es müsse wirklich ganz nett sein, alt zu werden. Und jetzt bin ich alt und weiß gar nicht, wie es so schnell dazu kommen konnte. Ich bin nicht reich, ich dachte immer, das käme schon noch, aber es kam halt nicht. Es kam auch kein reicher Mann. Oder sagen wir mal, überhaupt ein Mann, der blieb. Immer dachte ich, es käme da noch ein besserer, weil ich ja auch immer besser würde. Aber das stimmte auch nicht. Es kamen eher immer weniger und schlechtere. Und auf einmal war ich alt. Ohne mich irgendwie weise oder eben alt zu fühlen. Ich fühle mich nur gelangweilt. Ich wohne also nicht in einem Haus in Nizza, sondern in einem verfluchten Altersheim. Die anderen hier, die sind wirklich alt. Ich nicht. Wenn eines noch an Wunder glaubt, ist es nicht alt. Ich glaube, das kann wirklich nicht alles gewesen sein. Es wird noch etwas ganz Großes passieren. Irgendwas, das mir klarmacht, wozu das alles gut ist. Das weiß ich nämlich beim Stand der Dinge nicht wirklich. Ich am Fenster und seh den totkultivierten Garten an. In meinem Haus in Nizza wäre mein Garten ganz verwildert gewesen. Ich hätte da jetzt draußen gesessen, mit ein paar Freunden, einige würden grad wieder auf dem Tisch tanzen, und ich würde mich vielleicht langweilen, wegen dieser permanenten Tischtanzerei. Wenn dem Menschen nichts mehr einfällt, glaubt er auf einmal, daß es einen Gott gibt. Hey, bitte lieber Gott mach, daß noch etwas kommt.

TOM geht weg

Die Luft riecht nach Großstadt, morgens um 4. Ein dicker Geruch. Nach schimmelndem Metall und Bäcker. Die Frau liegt oben. Wahrscheinlich weint sie. Wenn ich eine Frau wäre, würde ich auch weinen. Weil das so bequem ist, eine Flucht, die nichts ändert, falls ihr versteht, was ich meine. Die Frau weint also vermutlich. Ich nicht. Ich weine nicht, ich leide auch nicht. Ich gehe einfach nur nach Hause. Ich werde mir die Frau abduschen. Wieder durch die Bars laufen und suchen. Nach einer neuen Frau. Wenn Weihnachten ist, und ich kann euch sagen, das kommt immer schneller, als man so denkt, werde ich wieder vor diesem Kaufhaus hier stehen. Jetzt sind da irgendwelche Herbstsachen drin. Blöde Plastefrüchte und so. Aber Weihnachten ist da eine Eisenbahn drin, in dem Schaufenster. Die fährt durch verschneite Dörfer. Die Häuschen sind von innen beleuchtet. Ich steh da immer ganz lange. Stell mir Sachen vor, die in diesen Häuschen passieren. Irgendwo wird eine Katze geschlachtet, in den Ofen geschoben, die Därme an den Baum geputzt. In einem anderen Häuschen liegt der Großvater im Bett und ist schon geraume Weile tot. Da sind Fliegen und die Enkel spielen mit dem Opa. Solche Sachen eben, und ich habe dann so einen Haß auf die Kinder. Die stehen neben mir und sehen meine Bahn an. Und die Eltern zwinkern, wenn die Scheißkinder fragen: Krieg ich so eine? Wir werden sehen, sagen die Eltern und zwinkern. Ich könnt die dann immer in die Schnauze haun. Ich weiß wirklich nicht, warum. Was ich sagen will, ist, irgendwie suche ich nach einer Frau, die Weihnachten mit mir diese Bahn anguckt. Und die mich nichts Blödes fragt. Die vielleicht so einem Kind eine runterhaut. Und die mir dann eine Eisenbahn schenkt. Aber ich habe so eine noch nie gefunden. Ich gehe jetzt heim, dusche. Und dann gehe ich wieder los. Und suche weiter nach der Frau, die mit mir zu diesem Schaufenster geht.

VERA sitzt auf dem Balkon

Vera und Helge sind verheiratet. Schon lange. Wissen sie eigentlich gar nicht, warum.

Sie sitzen draußen, auf dem Balkon. Es ist ein Sommerabend. Die Luft fleischwarm und macht im Menschen das Gefühl, daß er etwas unternehmen müßte, in dieser Nacht, das ihr gerecht wird, in der Aufregung, die sie verursacht. Was kann ich machen, mit so einer schönen Nacht, denkt sich Vera und weiß keine Antwort. Und eigentlich auch keine Frage. So eine Nacht ist eben eine Nacht. Die will gar nichts gemacht kriegen. Vera sieht Helge an. Der sitzt neben ihr und ist tausend Gedanken entfernt.

Sie würde gerne rübergehen, zu ihm. Aber sie weiß nicht wie. Sie schaut in den Himmel und sucht dort den Satz. Der alles ändert. Ein Satz nur. Himmel, schenk mir einen. Der Himmel bleibt stumm und schön, und Wunder gibt es eben nicht. Wunder muß es aber geben, denkt Vera und guckt stur in den Himmel. Und dann guckt sie zu Helge rüber und der guckt geradeaus. Helge trinkt Bier.

»Helge …« Helge trinkt Bier.

»Ein schöner Abend.«

Helge bleibt stumm, und Vera könnte gut tot umfallen. So leer fühlt sie sich an und weiß gar nicht, warum sie noch hier sitzen soll, oder aufstehen, oder weiterleben. Der Himmel ist ein Verräter, und einen Gott gibt es nicht. Vera nimmt ihre Hand und legt sie auf die von Helge. Da liegt sie dann so. Helges Hand bewegt sich nicht.

Sie fühlt, daß ihre Hand weglaufen möchte. Sie mag das schwitzige Ding nicht anfassen müssen. Nichts ist peinlicher als eine Hand, die man anfaßt und die sich nicht bewegt, denkt Veras Hand, sondern nur atmet. Vor lauter Widerwillen laut atmet. Das denkt sich Veras Hand so, und Vera selbst schämt sich und nimmt ihre Hand weg, um sich eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen. Sie steht auf und geht in die Küche. Der Abwasch steht noch da. Vera bindet sich die Schürze um. Sie wäscht ab und überlegt sich, was sie morgen ins Büro anziehen soll. Dann fällt ihr ein, daß Nora bald Geburtstag hat, und sie schüttelt den Kopf. Es gibt doch wirklich wichtigere Sachen als so einen blöden, warmen Abend und eine Hand, die nicht von ihr angefaßt werden will.

NORA ist weggefahren

Ich bin weggefahren. Ans Meer. In meinem Alter kann man alleine ans Meer fahren. Wenn ich zurückkomme, werde ich von zu Hause ausziehen. Vielleicht komme ich auch gar nicht zurück. Ich rede mit niemandem mehr. Zu Hause nicht und hier auch nicht. Ich habe einen Schlafsack. Es ist ziemlich kalt. Den ganzen Tag laufe ich, und abends lege ich mich in den Schlafsack. Ich rede mit niemandem.

Das Meer ist langweilig. Es bewegt sich nur. Das Geld ist fast alle. Ich brauche auch kaum Geld.

Ich esse nichts. Ab und zu esse ich Äpfel. Aber von denen wird mir inzwischen schlecht. Mir wird schlecht, wenn ich irgendwas Fremdes in mir habe. Vor ein paar Tagen bin ich mit einem Jungen mitgegangen, der hier wohnt. Wir waren in seinem Zimmer. Das war total staubig, und überall standen voll häßliche Pokale rum. Und dann hatte er ein Poster von so einer dicken Frau an der Wand. Pamela Anderson. Eigentlich hätte ich da schon wieder gehen sollen, wenn einer so dicke Frauen gut findet. Aber ich bin geblieben, weil er sich schon ausgezogen hat, und ich nicht wußte, wie ich sagen soll, daß ich doch besser gehe. Ich bin mitgegangen, weil ich dachte, es wäre ganz gut, in einem Bett zu schlafen, und weil ich sowieso keine Idee hatte, wo ich hingehen sollte. Weil es egal ist, wo ich hingehe. Der Junge hat mich nicht groß angefaßt. Wir haben nicht geredet. Ich weiß nicht, worüber ich mit einem Jungen so reden soll. Er hat es gemacht. Als er schlief, bin ich wieder weggegangen. Draußen war es noch ganz still. Ganz früh morgens in so einem kleinen Kaff am Meer. Ich dann so durch die leeren Straßen.

Ich laufe. Wenn ich mich nicht bewege, dann sitze ich da und muß nachdenken, und dann habe ich das Gefühl, ich kann die Gedanken nicht im Kopf festhalten. Wenn ich mich bewege, ist es O. K.

Aber ich muß schnell gehen. Wenn mich Leute ansehen, sehe ich weg.

Ich war in einem Tierheim. Ich wollte einen Hund haben. Einen kleinen Hund. Ich dachte mir, es wäre schön, wenn er neben mir herlaufen würde. Ich könnte abends ein Lagerfeuer machen und Mundharmonika spielen. Der Hund hätte seinen Kopf auf meinen Beinen und würde mir zuhören. Und dann würden wir zusammen in den Schlafsack gehen, und ich würde sein Herz schlagen hören.

Da war auch ein Hund. Er saß in einem Käfig. Er war ganz dünn. Wir haben uns in die Augen gesehen. Das war mein Hund.

Aber sie haben ihn mir nicht gegeben. Als ich weggegangen bin, hat der Hund gejault. Ich wollte so gerne weinen, wegen dem Hund. Das ging aber nicht.

Ich sitze am Meer. Es ist schon dunkel. Wenn ich viel laufe, werde ich noch dünner. Ich trinke abends immer Rotwein. Manchmal auch schon morgens. Dann ist mir nicht so kalt. Ich friere auch, wenn die Sonne scheint. Die scheint kaum. Es ist ja schon Herbst. Wenn ich Rotwein trinke, dann ist auch alles schön weich, und es macht total Sinn, daß ich weggefahren bin. Ich sehe mir die Wellen an, die in der Dunkelheit kommen. Sie kommen ganz klein und leise und dann werden sie groß und brüllen.

Möcht ich irgendwie auch. Aber ich trau mich das

nicht.