Loe raamatut: «St. Pauli, meine Freiheit»
Copyright © Claudius Verlag, München 2020
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München
Umschlagfotos: © CP Krenkler
Layout: Mario Moths
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020
ISBN 978-3-532-60066-5
INHALT
Einstimmung
Jenseits von Friedhof und Fluss
Dann gab es kein Amen mehr
Vom Elfenbeinturm in den Busch
Kalter Start in Hamburg
Schwule Liebe auf dem Kiez
Vom Angstraum zum Kirchgarten
Wunden und Wunder
Lampedusa auf St. Pauli
Regenbogenfamilie
Die Synode tagt
Trauerfeier für Florent
G20 – Welcome to Heaven
Freiheit eines Himmelskomikers
Danksagung
Für Ronald in so vielen Jahren der Liebe auf St. Pauli, und für alle, die mit uns das Leben geteilt haben.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“
Paulus, Brief an die Galater 5, 1
„St. Pauli, die Freiheit, das liegt uns so im Blut.“
Hans Albers: Das Herz von St. Pauli
Einstimmung
Ich komme aus den Bergen zurück nach St. Pauli, S-Bahn Reeperbahn. Ich rieche den kalten Zigarettenrauch, die Pisse und den Männerschweiß. Wiedersehen mit meinem Kiez nach zwei Wochen Urlaub in der heilsamen Einsamkeit, die ich dringend nötig hatte. Zeit, um Abstand zu gewinnen, sodass mir das Groteske jetzt wieder auffällt, an das ich mich sonst allein aus Selbstschutz gewöhnt habe.
Freitagabend kurz nach Acht: Da raucht eine Gruppe von Jungs mit dünnen Beinen und großen Löchern in den Hosen, den Verbotsschildern zum Trotz auf dem Bahnsteig. Auf einer Bank ist ein Bärtiger in Lederjacke in sich zusammengesackt. Der wartet auf keinen Zug mehr, die S-Bahn-Wache wird ihn irgendwann wecken. Jetzt läuft ein Dutzend angetrunkener Jungs mit silberglitzernden Spaßhütchen durchs Bild, gröhlend ziehen sie auf die sündige Meile. Einer von unzähligen Junggesellenabschieden an diesem Wochenende wie an jedem. Der Spaßhütchentruppe läuft ein Crackjunkee entgegen. Der hat weit aufgerissene Augen, kann kaum auf seinen Beinen stehen und schnorrt Kleingeld zusammen für den dringend benötigten Konsum.
Willkommen zuhause! Natürlich wird die Rolltreppe wieder kaputt sein, denke ich. Sie ist tatsächlich kaputt. Hier kenne ich mich einfach aus. Und oben dann die Frauen, die falsche Fellstiefel und neonpinke Höschen tragen und dich mitnehmen wollen, wenn du zahlst.
Mich quatschen sie nicht an, mein Wanderrucksack schützt mich heute. Mit meinen Stiefeln überquere ich einen Bach von Pisse, der über Beton und Asphalt seinen Weg findet. An dieser Ecke auf meinem Nachhauseweg betrinken und beschimpfen sich gegenseitig jeden Abend die Polen: „Kurva, Kurva“ ist das einzige, was ich davon verstehe. Aber viele der Männer kenne ich seit Jahren und sehe ihre roten, verschwitzten Gesichter, gezeichnet von Prügeleien.
Neben dem überquellenden Mülleimer liegt ein Mann im Schlafsack auf der Straße. Ich sehe nur seinen mit Kreuzen tätowierten Nacken unter der Mütze. Hunderte gehen an ihm vorbei. „Gott, erbarme dich!“ steigt ein Stoßgebet in mir auf.
Ich wandere weiter, will nach Hause durch die Silbersackstraße. Vorbei an der Kultkneipe Silbersack. Dort gehe ich nur Sonntag, Montag oder Dienstag rein. Dann trifft sich hier das ganze Dorf. Jetzt ist Freitagabend, die Busladung Schwaben steht bis auf die Straße hinaus.
Dominik, der Chef hinter dem Tresen, sieht das so: „Mit den Touris verdiene ich das, was ich brauche um mir die Dorfkneipe zu leisten“. Dominik hat den Touristengruppen verboten, das original St.-Pauli-Kneipenmillieu zu fotografieren. „Wir sind doch nicht im Menschenzoo“. Oder doch? Ich weiche zerschlagenen Flaschen und verschmiertem Hundekot aus.
Ein paar Schritte weiter steht Opa Hassan, wie immer mit Bierdose in der Hand. Er trinkt nur warmes Bier und ist der Philosoph der Silbersackstraße, der bärtige Perser, der Geschichtenerzähler, dessen Geschichten kaum richtig sein können, aber doch irgendwie eine tiefere Wahrheit haben.
„Grüß dich, mein Lieber!“ ruft er mir zu. „Wir sehen uns, ich muss nach Hause!“ antworte ich ihm und er führt seine Hand zum Herzen. „Willst du was trinken?“ Ruft er mir nach. Ich winke ab.
Jetzt noch an den Dealern vorbei. Die Jungs aus Gambia haben sich das nicht ausgesucht, in der Kälte der Nacht für 20 oder 30 Euro Gewinn hier zu stehen für ein Geschäft, das sie nicht bestimmen. Wer als Dealer auf der Straße steht, den hat die Armut hierher gebracht. Angespannte dunkle Gesichter, die Augen jagen in den Köpfen hin und her, dann ein Pfiff von irgendwo. Alle rennen. Da taucht die Sondereinheit der Polizei auf in ihren Warnwesten, gemütlich gehen sie zu Dritt. Die Jungs verteilen sich hastig in die Straßen, checken ihr Handy. Irgendjemand wird sie dirigieren, wohin sie sich sammeln sollen. Mit meinen Bergwanderstiefeln gehe ich über das Kopfsteinpflaster des Hein-Köllisch-Platz. Das ist mein Dorf. Hier ist meine Kirche und daneben wohne ich, direkt am Park Fiction, Hamburgs politischstem Park, wie es im Touristenführer heißt. Wir sind direkt an der Elbe, gegenüber liegt eine weiße Luxusjacht in Dock 11. Eigentlich bin ich ganz gerne hier. Auch wenn die Jungs unweit vor unserem Pastorat gleich auf meinen Radar kommen. Billiger Wodka wird mit Energydrink gemischt, unzählige Schalen von Sonnenblumenkernen verteilen sich um die Sitzbank, Zigaretten und Joints werden geraucht. Der schmachtende Orientrap schallt viel zu laut aus der Musikbox. Alle reden durcheinander. Einer geht hinter das futuristische Klohäuschen, das uns vor die Tür gestellt wurde, zum Pinkeln in die Hecke der Nachbarn. Aber bisher schreit und streitet sich keiner. Der Flaschensammler mit seinem Einkaufswagen schiebt die Ernte seiner Arbeit stumm und müde an den Feiernden vorbei, leuchtet mit der Taschenlampe in eine Mülltonne und fischt eine Pfandflasche raus. Für jetzt ist noch alles gut. Erst ab 2 Uhr nachts kann es gefährlich werden. Raubüberfälle häufen sich. Ich bin zuhause angekommen, in dem alten kleinen Backsteinhaus. Diesen Stadtteil mein Zuhause zu nennen, ist alles andere als selbstverständlich. Ich will erzählen, wo ich herkomme und warum ich hier in St.-Pauli-Pastor bin, jetzt schon seit 18 Jahren.
Gerade in den letzten Jahren sind viele Bücher über St. Pauli geschrieben worden. Manches kam anschließend auf die Bühne oder wurde verfilmt. St. Pauli lässt sich einfach gut erzählen und vermarkten. Dabei sind es die alten Geschichten, auf die alle besonders scharf sind. Der gute alte Kiez der 1960er-, 70er- und 80er-Jahre. Dabei weiß ich von vielen Menschen, denen ich zugehört habe, dass der gute alte Kiez nicht für alle gut war. Aber über die vergangenen Zeiten lässt sich ganz bequem in eine Abenteuerwelt hinein träumen. Da fliegen die Fäuste zwischen Fischhändlern und Matrosen in der Kneipe Silbersack. Da werden nachts um drei Uhr Champagnerrunden für alle geschmissen und die Rolex wird verpokert. Da werden professionelle Killer beauftragt, die Konkurrenz im Zuhältergeschäft auszuschalten, da tanzen die Mädchen auf den Tischen und die Jungs trinken, bis sie unter den Tischen liegen. Ja, das hat es alles gegeben und auch heute kommen jeden Tag und jede Nacht Geschichten dazu. Nur was heute passiert, hatte noch keine Zeit, als Kiezgeschichte verklärt zu werden.
Ja, Kiezgeschichten wollen die Leute lesen und hören, sie wollen es genauso sehr, wie sie auf keinen Fall wirklich jemals hätten dabei sein wollten. Wenn mich in der Sommerzeit jemand aus der Redaktion einer Zeitung anrief, dann ahnte ich bereits, was kommt: Wenn in Hamburg sonst nichts los war, dann war St. Pauli immer für eine Schlagzeile gut, die sich an den üblichen Klischees orientierte: Rotlicht und Blaulicht, leichte Mädchen und schwere Jungs. Dann sollte der Pastor mal schnell ein paar altgediente Huren zum Fototermin bewegen. „Aber schöne gepflegte Altersgesichter. Keine Versoffenen bitte“, bekam ich zu hören.
Einen anderen Wunsch hörte ich von vielen Presseleuten: Sie hofften, dass ich mich als Gottesmann empöre über den Sündenpfuhl St. Pauli. Das wäre eine feine Schlagzeile! Schön zugespitzt, schön Kontrastreich: Der Kiezboss und der Friedensstifter, der Gottesmann und die Sünderin, der Jesusjünger und der Totschläger.
Manche Pressewünsche gingen in eine entgegengesetzte Richtung: Ich sollte als Pastor möglichst distanzlos mitmachen, was man so auf dem Kiez macht. Gemeinsamer Nenner ist das Saufen. Wissen wir doch alle: Der Kiez ist erst nach dem dritten Bier so richtig schön. Dann liegen sich alle, alle in den Armen: Der Gottesmann mit dem Kiezboss, mit der Sünderin, mit dem Totschläger. Das finden dann alle gut oder auch empörend. Aber eine gute Story wäre es doch allemal.
Die dritte Art der Anfragen war von der Idee getrieben, ich sei als Pastor die beste Adresse für Bekehrungen. Ich sollte Lebenswenden erzählen. Also: Der Kiezboss, der von Reue geschüttelt wird, die Sünderin, die jetzt glücklich verheiratet und stolze Mutter ist. Der Totschläger, der nach seiner Läuterung jetzt anderen schweren Jungs das Evangelium verkündet. Ach, wie schön wäre das, wie anrührend und wie unterhaltsam.
Ich gebe zu, manchmal habe ich mich auf solche Anfragen eingelassen, auch in der Hoffnung, das Klischee nicht zu bedienen, sondern zu brechen. Manchmal war ich mit dem Ergebnis zufrieden. Aber oft habe ich gemerkt, dass mir in Interviews die Sätze, die mir wirklich was bedeutet haben, weggeschnitten wurden und am Ende doch wieder das erzählt wurde, was alle vorher schon an Bildern im Kopf hatten, wenn sie St. Pauli hören. Ich erzähle hier abseits vom Klischee meine Geschichte mit Gott, die meine Geschichte der Freiheit ist.
Ich erzähle, wer ich bin und wo ich herkomme, was ich hier mache und was dieses St. Pauli mit mir gemacht hat. Ich erzähle über die Menschen, die mein St. Pauli sind. Und ich teile meine Fragen, die mich wachhalten. Ich halte sie für wichtiger als alle Antworten, deren Richtigkeit mich einschläfert.
Ich halte mich für keinen irgendwie besonderen Typen, nur weil ich St.-Pauli-Pastor bin. So wurde ich nicht erzogen, mich für etwas Besonderes zu halten. Ich finde, dass die Pastorinnen in Billstedt, in Wilhelmsburg oder Steilshoop mindestens genauso viele interessante Geschichten erzählen können. Sie haben es auch verdient, dass ihnen zugehört wird. Aber für mich ist es jetzt nach 18 Jahren dran, meine Geschichte aufzuschreiben. Schreiben heißt für mich, hineinzuhören in mein Leben. Es ist ein Aufräumen und Sortieren, es ist ein Aufspüren von Zusammenhängen. Das kostet Kraft, wenn alter Schmerz wach wird und manchmal ist es auch wunderbar schön und befreiend für mich.
Jenseits von Friedhof und Fluss
Von dem Bauerndorf an der Bundesstraße nach Hamburg trennten uns der Friedhof und der Fluss. Östlich der Brücke über den Fluss lagen die Siedlungen. Hier wohnten die Flüchtlinge und ihre Kinder. Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten, die seit 1945 in Schleswig-Holstein hängen geblieben waren – so wie die Familien meiner Eltern. 1969 bauten sie ein Haus auf einem sandigen Hügel, billiges Kirchenland oberhalb einer nassen Wiese. Irgendwie hatten sie die 5000 Mark Mindestkapital zusammengekratzt, um sich an diesem sozialen Siedlungsbauprojekt zu beteiligen. Was an Geld fehlte, wurde mit Eigenleistung wettgemacht. Die Nachbarn waren ja ebenfalls Flüchtlinge und alle hielten zusammen. Mein Vater war nach Feierabend im Sommer immer auf dem Bau, sonnengebräunt im Unterhemd, mal bei den Nachbarhäusern, mal auf unserer Baustelle. Ein Haus nach dem anderen wurde so in Gemeinschaftsarbeit hochgezogen. Bescheidene Häuser, aber für eine ganze Generation von sogenannten „Siedlern“, wie man im Dorf sagte, waren sie das Symbol für ein besseres Leben.
Wir Kinder mussten die Erwachsenen auf der Straße als erstes grüßen, wenn wir uns nicht den Schimpf von Mutter anhören wollten, dass ihr zu Ohren gekommen war: „Ihre Kinder grüßen ja gar nicht!“ Wer in der Siedlung lebte, musste sich besonders gut benehmen, weil zu beweisen war, dass diejenigen, die sich nicht zu den Alteingesessenen zählen dürfen, etwas taugen.
Damals war ich vier Jahre alt und mächtig stolz auf unser Haus. Um den Westwind auf dem Sandhügel zu bremsen, pflanzte mein Vater ein Fichtenwäldchen aus Setzlingen, die groß waren wie seine Hand. Ich durfte die Jahre meiner Kindheit zusehen, wie die Bäume wuchsen, bis man den Friedhof auf der anderen Seite des Flusses nicht mehr sah. Dort lagen meine Großeltern und meine Urgroßmutter in einer Erde, die sie nicht ihre Heimat nannten. Ich habe schwache Erinnerungen an meine väterlichen Großeltern, die sich 1970 in derselben Woche von der Erde verabschiedeten. Opa roch nach Jägermeister und Juno-Zigaretten und stand mit seiner schwarzen Arbeitermütze stolz an der Bundesstraße, die er mitgebaut hatte. Oma trank mit rasselnder Lunge ihren Hustensaft aus der Flasche und hatte noch den Geruch von Brathering mit Zwiebeln in der Strickjacke.
Großgeworden bin ich unter Menschen, die den Krieg und die Flucht als Erwachsene oder als Kinder erlebt hatten. „Ihr wisst ja gar nicht, wie gut es ihr habt“ – wie oft habe ich das gehört, so auch aus dem Mund meines Vaters. Als mein Bruder, meine Schwester und ich nur das weiße Fleisch des Hühnchens essen wollten, nicht aber den Knorpel und die fette Haut, übernahm er unsere Reste und brach auch noch die Knochen des Vogels auseinander, um das Mark auszusaugen. Das Kinn meines Vaters glänzte vor Fett. In diesen Momenten war mein Vater wieder der neunjährige Junge Kurt, 1936 in einer Danziger Arbeiterfamilie geboren, der Kartoffeln und Eier beim Bauern klaute, um zu überleben. Der im Sommer barfuß die vier Kilometer zur Schule lief und sich im frostigen Winter an eine Kuh anschmiegte, um sich aufzuwärmen. Die Familie meines Vaters lebte nach der Flucht zunächst in einem Kuhstall. Dafür mussten der Neunjährige und seine Brüder auf den Bauernhöfen arbeiten: Die Wiese mit der Sense mähen, mit Pferdegespann den steinigen Acker pflügen. Sieben Jahre hat mein Vater diese harte Arbeit nach dem Unterricht in der Volksschule gemacht. Dafür zahlte der Bauer den Anzug zur Konfirmation. Mit den Flüchtlingen gingen die Bauern mal besser, mal schlechter um. Billige Arbeitskräfte waren die jungen Männer, die sich nach der Feldarbeit abends auf die Bratkartoffeln stürzten. Aber der feine Schinken blieb für den Bauern und seine Familie, erzählte mein Vater. Eigentlich wollte Kurt weiter zur Schule gehen und studieren. Doch dafür fehlte das Geld.
In den 1950er-Jahren gab es zu wenig Ausbildungsplätze. Da mein Vater mit Pferden gut konnte und sie zu beruhigen wusste, wenn der Schmied die glühenden Eisen auf die Hufe schlug, überlegte er, Schmied zu werden. Aber die Pferde wurden durch Maschinen ersetzt und weil es nichts anderes gab, wurde mein Vater Lehrling bei einem Tankwart. In den 50ern war das ein Ausbildungsberuf, die Bezahlung war mies.
Während Kurts ältere Brüder sich einen Ruf im Dorf erarbeiteten – Wer kann am meisten Eier essen oder eine Flasche Oldesloer Doppelkorn am schnellsten trinken – entschied sich mein Vater für einen anderen Weg. Als junger Mann fand er eine Art Ersatzfamilie im Nachbardorf, deren Bedeutung ich erst viel später verstanden habe. Sein bester Freund war der Sohn des Hauses – fromme Ostpreußen, die den jungen Mann Ende der 50er wie einen Sohn aufnahmen. Bei ihnen hatte mein Vater gelernt, was Familie bedeutet. Da gab es gutes Essen auf dem Tisch. Aber genauso wichtig war das Gebet. Eine Nähe und Warmherzigkeit und ein Glaube, der das Leben „umbetet“, so wie ein Gemüseacker umgegraben wird, mit Geduld und Hoffnung. Diese Ostpreußen wollten Seelen retten. Und mein Vater wollte sein haltloses Leben retten lassen. Dass er dabei meine Mutter kennenlernte, ist die Gründungslegende unserer Familie. Es geschah durch einen schrecklichen Unfall. Mein Vater hatte mir als Kind die Narbe in der Rinde eines Baumstamms an der Landstraße gezeigt, wo es passiert ist. Damals, Anfang der 60er, fuhr er gerne Motorrad und genoss die Geschwindigkeit in der baumgesäumten Allee. Mit einem der Bäume hatte er einen Frontalzusammenstoß. Das kostete ihn seine vier Schneidezähne und mehrere Knochenbrüche. Im Krankenhaus hatte Kurt Besuch von seinem besten Freund. Dessen Schwester war dort Krankenschwester, und deren Mitschwester und Freundin wiederum war Gismara. Was für ein ungewöhnlicher Name! Ich frage mich, was meine Mutter an diesem Mann fand, dem die vier Schneidezähne fehlten. Vielleicht hatte Gismara erkannt, dass es Kurt genauso ging wie ihr. Beide hatten in ihren kaputten Familien nichts zu lachen.
Meine Mutter hatte ihren Vater niemals kennengelernt. Nach ihrer Geburt 1942 erreichte meine Oma Martha die Nachricht, dass der deutsche Besatzungssoldat, den sie im polnischen Lodz kennengelernt hatte, gefallen war. Nun stand sie alleine mit zwei Kindern, Gisela und Gismara. Gisela wurde ihr von den Nazis weggenommen und zur Adoption freigegeben. Gismara wurde bei Verwandten in Berlin untergebracht. Oma wurde 1915 noch im russischen Zarenreich in Bialystok geboren. Zeitlebens sprach sie ein merkwürdiges Deutsch mit ihrer eigenen osteuropäischen Grammatik. Wir Enkelkinder fanden das komisch und machten uns darüber lustig. Polnisch sprach Oma mit den alten Tanten bei unseren Familientreffen, wenn wir Jungen es nicht verstehen sollten. Die heranwachsende Generation wollte man nicht mit den finsteren Geschichten belasten. Ich war der einzige Enkel, der mehr wissen wollte über diese Zeit, aber Oma wollte meine Fragen nicht beantworten. Dass sie mit dem Berliner Opa nie verheiratet war und dass sie für die Deutschen Handgranaten zusammenbauen musste, war lange ihr großes Geheimnis. So sehe ich sie vor mir, Kartoffeln schälend. Eine gebrochene kranke Frau, kaum 1,50 groß mit einem verkürzten Bein als Folge von Kinderlähmung, das niemals heilen wollte. Oma war immer wieder wochenlang nicht erreichbar, in sich versunken und gefangen in ihrer Gedankenwelt irgendwo zwischen Bialystok, Warschau und Lodz unterwegs in den 1930er- und 40er-Jahren.
Meine Mutter erzählte mir, als ich erwachsen genug war, dass ihre Mutter nicht gut für sie sorgen konnte. Die kleine Gismara musste sich selbst durchs Leben kämpfen. Sie erzählte, wie sie nur ein Kleid hatte und die Schule schwänzen musste, wenn dieses Kleid gewaschen wurde. Solche Erfahrungen aus den Tagen des Mangels hatte sie mit meinem Vater gemeinsam. Ich habe Eltern, die selbst keine Geborgenheit in Familien erlebt haben, wie es Kindern zu wünschen wäre. Kurt und Gismara wollten eine Familie gründen und das miteinander verwirklichen, was sie selbst nicht kannten.
Beide wurden von Kurts ostpreußischer Ersatzfamilie aufgenommen, die eine stabile Frömmigkeit hatten und ihre Mission als Seelenretter ernst nahmen. Meine Eltern übergaben „dem Herrn Jesus ihr Leben“, wie es im frommen Sprachgebrauch heißt. Statt mit der Dorfjugend zu saufen und sich zu prügeln, lernte mein Vater Gitarre spielen und fromme Lieder singen. Meine Eltern gingen gemeinsam zur Stunde. Das war ein Gottesdienst in einer Hauskirche der sogenannten Altpfingstler, einer Glaubensgemeinschaft, die dem Wirken des Heiligen Geistes viel zutraut.
Oma Martha verweigerte vor Gismaras Volljährigkeit mit 21 die Zustimmung zur Heirat ihrer Tochter mit dem Tankwart. Er war ihr wohl nicht gut genug als Schwiegersohn. Aber das half nichts. 1963 heirateten meine Eltern mit bescheidenen Mitteln. 1964 wurde mein Bruder Burkhard geboren, 1965 kam ich zur Welt und 1968 meine Schwester Susanne. Meine Mutter war kaum 26 Jahre alt und hatte drei Kindern das Leben geschenkt. Als sich meine Eltern kennenlernten, so erzählten sie später, hatten sie zwölf Kinder haben wollen. Nachdem das erste Kind geboren wurde, reduzierten sie auf sechs. Und nach dem Dritten sagten sie: Es reicht.
Als Fünfjähriger wurde ich dann in die Hausstunden mitgenommen, bei denen ein Prediger vor kaum zwanzig meist älteren Damen stand. Es roch nach Mottenkugeln und nach Kölnisch Wasser. Wir mussten stillsitzen, der strenge Blick meiner Mutter ließ uns erstarren. Die sogenannte „Stunde“ dauerte viel länger als eine Stunde. Während sich die Predigt in die Länge zog, beeindruckte mich das Doppelkinn und die Nickelbrille des Predigers oder mein Blick betrachtete das Bild vom guten Hirten an der Wand. In seinem langen weißen Gewand unterließ der Heiland nichts, um ein verirrtes Schaf aus dem Dornengestrüpp zu retten. Die Gebete der alten Frauen beeindruckten mich tief. Jesus war der wichtigste Mann in ihrem Leben. Sorgen machte mir nur, wenn die in Ehren ergrauten Kriegerwitwen von der Heimat sprachen. Entweder war damit Ostpreußen gemeint – oder die himmlische Heimat, in die sie Jesus Christus abholen würde. Auf keinen Fall aber das irdische Leben in der Gegenwart, denn hier waren wir ja nur unstete Pilger. Als kleiner Junge machte mich das immer etwas traurig, die Alten so reden zu hören, war ich doch gerade erst auf dieser Erde angekommen und fand es hier manchmal ganz schön. Nach der „Stunde“ gab es Schokolade als Belohnung. Und für die Damen gab es Kaffee und Kuchen und manchmal einen Eierlikör oder einen Kirsch. Dann war das Leben doch für einen Moment irgendwie gut auf dieser Erde.
Meine Eltern müssen wohl gemerkt haben, dass die Stunden nicht gerade kindgerecht waren. Die Landeskirche war meinen Eltern zunächst nicht fromm genug. Aber 1970 kam ein junger Pastor ins Dorf, dessen baptistische Frau den Kindergottesdienst hielt. Das Ergebnis war, dass wir sonntags jetzt vormittags Kindergottesdienst und nachmittags „Stunde“ hatten. Unvergesslich sind mir die Fleißkärtchen des Kindergottesdienstes, wie große Briefmarken, mit gezähnten Rändern. Biblische Szenen waren altmodisch dargestellt. Den guten Hirten kannte ich ja schon. Nun wuchs mit jedem Besuch des Kindergottesdienstes meine fromme Bilderwelt: Arche Noah, Opferung Isaaks, Davids Sieg über Goliath, Daniel im Feuerofen, Jesus wandelt über das Wasser. Das waren meine Helden, während andere Jungs Comicfiguren wie Lucky Luke – der damals noch rauchen durfte – oder Superman verehrten. Nach ein paar Jahren Kindergottesdienst hatte ich alle Fleißkärtchen doppelt.
Schon früh war ich ein guter Sammler. Was mich viel mehr als Fleißkärtchen interessierte, waren Steine, besonders Fossilien. Ich hatte als Kind meinen Blick immer zu Boden gerichtet. Ich suchte, aber ich fand auch immer irgendetwas, dass zumindest ich interessant fand. Meine Mutter zischte nur: „Was wühlst du im Dreck. Schmeiß das weg!“ Aber ich versteckte meine Schätze und baute mir ein Museum daraus, dessen Direktor und einziger Besucher ich war.
Es war die Zeit der großbemusterten Tapeten und der Prilblumen, als ich 1971 eingeschult werden sollte. Um meine Schulreife zu beweisen, sollte ich ein Bild malen, während sich eine Lehrerin mit meiner Mutter unterhielt. Ich konnte immer schon gut malen und überreichte stolz mein Blatt. Es zeigte ein Haus mit freundlichen Gesichtern, die aus den Fenstern schauten, der Schornstein rauchte.
Das einzige, was die Lehrerin zu mir sagte, war: „Das war leider das falsche Händchen.“ Ich hatte das Bild mit links gemalt. Linkshänder konnte man nicht dulden. Ich wurde nicht eingeschult. Meiner Mutter wurde der Auftrag gegeben, mich umzuerziehen. Als ich der Lehrerin zum Abschied das richtige Händchen entgegenstreckte, war aus mir ein trotziger Junge geworden. Ein Jahr später kam ich dann in die Schule. 1972 wehte auch in der holsteinischen Dorfschule ein anderer Wind. Junge Lehrer kamen mit weiten Schlaghosen und Lehrerinnen mit kurzen Röcken. Und ich durfte mit links schreiben und malen. Ich habe aber diese Demütigung der Einschulung nie vergessen. Für mich war seit dieser Zeit klar, dass ich denen, die viel zu sagen haben, nicht immer vertrauen werde. Meine linke Hand hat mich ungewollt zum „linken Systemkritiker“ werden lassen.
Anfang der 1970er-Jahre begann meine Mutter zu arbeiten. Neben unserer Haustür wurde ein weißes Emailleschild mit einem rotem Kreuz angebracht. Hier war jetzt eine Sozialstation. Meine Mutter, examinierte Krankenschwester, hatte extra den Führerschein machen müssen, um mit einem weißen VW Käfer über Land zu fahren und in den zwölf Dörfern, die ihr zugeteilt worden waren, Alte und Kranke zu besuchen, Beine zu wickeln, Blutdruck zu messen, Blutegel anzulegen oder Menschen zu waschen, die dies lange schon nicht mehr selbst getan hatten. Mutter konnte immer Geschichten erzählen, wenn sie von ihren Touren nach Hause kam! Niemand hat die Schattenseiten des Landlebens so hautnah erlebt wie sie. Als Kinder waren wir es gewohnt, wenn sie von durchgelegenen wunden Rücken erzählte, eingekoteten Greisen oder künstlichen Darmausgängen. Wir aßen zu Mittag, hörten unserer Mutter zu und lernten fürs Leben: Auf den Bauernhöfen entledigte man sich der unliebsamen, bettlägerigen Eltern manchmal dadurch, dass in einer kalten Winternacht die Fenster weit aufgerissen wurden. Am kommenden Morgen war der Körper kalt. Mir lief ein Schauer über den Rücken, wenn Mutter sowas erzählte. Aber ich bewunderte sie auch dafür, dass sie es aushielt mit dem körperlichen Gestank und dem Dreck, die sie ertrug, weil sie das Menschliche liebte. Ich war stolz auf meine Mutter, weil sie alltäglich getan hat, was sie glaubte. Nicht viel reden, sondern tun – das war meine Mutter.
Bald waren wir Kinder in der Sozialstation häusliche Sekretäre. Unsere Haustür war nicht mal abgeschlossen und es passierte, dass eine muffig riechende Alte in Kittelschürze plötzlich im Hausflur stand und meine Mutter sprechen wollte, die gerade auf den Dörfern unterwegs war. Dann habe ich einen Sessel angeboten, Getränke gereicht und ein höfliches Gespräch gesucht – und gehofft, dass meine Mutter bald wiederkommt.
Meine Eltern haben sich geliebt. Meine Mutter hat sonntags meinem Vater immer die Kleidung bereitgelegt. Er wäre gar nicht in der Lage gewesen, sich eine passende Krawatte zum Anzug auszusuchen. Aber ich habe meinen Vater niemals im Haushalt helfen sehen. Einige Male hat er Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Eiern gemacht. Sonst kam er abends müde und nach Benzin riechend von der Arbeit nach Hause und erwartete, bedient zu werden. Meine Mutter hat die Hausarbeit und das Kochen niemals gerne gemacht. Dabei war sie oft übellaunig. Sie fand ihre Erfüllung in ihrem Beruf als Krankenschwester.
Meine Eltern wollten eine Familie schaffen, die sie sich selbst als Kinder gewünscht hätten. Der eigene Erwartungsdruck muss für meine Mutter ganz besonders hoch gewesen sein. Ich erlebte sie als Kind meistens als eine starke, selbstbeherrschte Frau, die stolz war, alles im Griff zu haben und zwar immer zack zack. Dann aber konnte es passieren, dass sie ausbrach wie ein Vulkan. Sie konnte sich in einem Moment komplett vergessen und von einem Anfall von Jähzorn gepackt werden. Als Kind erlebte ich, dass diese Wutanfälle nicht meinen älteren Bruder, nicht meine jüngere Schwester trafen – sie trafen mich. Ich habe später viel darüber nachgedacht, warum ich es war. Was an mir falsch war. Ich konnte meinen Fehler nicht finden und das machte mich ohnmächtig. Aus nichtigem Anlass – ein nicht aufgegessenes Leberwurstbrot, in dem mich die Fettstücke ekelten – rastete meine Mutter aus. Sie schlug mich mit dem Teppichklopfer, mit dem Gürtel, mit den bloßen Fäusten auf Arsch und Rücken. Sie auf mir, ich unter ihrer Körpermasse. Ich weiß noch genau, dass in diesem Moment etwas an Vertrauen kaputtging, was niemals wieder gut wurde. Mein Gesicht soll ihr am ähnlichsten sein. Wir sind uns nahe und doch fremd.
Vater hat uns nie geschlagen. Heute denke ich: Vielleicht war das auch bequem für ihn, unserer Mutter das Erziehungsgeschäft weitgehend zu überlassen. Ich erinnere ihn als müden Mann, nach Benzin und Schweiß stinkend, noch in der roten Arbeitskleidung, eingeschlafen auf dem Sofa.
Neben den kirchlichen Aktivitäten war mein Vater nach Feierabend ein leidenschaftlicher Gärtner. Mutter herrschte im Haus, Vater hatte sein Gartenreich. Neben Salat, Gurken und Kürbissen gelangen ihm die Tomaten am besten. Er liebte es, uns Kindern eine frische Tomate vom Busch zu pflücken und uns zuzusehen, wie wir die Frucht genossen. Dann lachten seine Augen. Wir Kinder bekamen jeweils wenige Quadratmeter Gartenland zugewiesen, um uns dort mit Gemüseanbau auszuprobieren. Aber nach ein paar Wochen hatten mein Bruder und meine Schwester ihre Parzellen bereits an mich verkauft. Kräuter habe ich gezogen. Salbei, Thymian, Rosmarin. Sie sind immer noch meine Lieblinge im kleinen Pastorengarten auf St. Pauli. Bei der Gartenarbeit denke ich oft an meinem Vater, besonders, wenn ich eine frische Tomate ernte und genieße.
Die Liebe zu den Pflanzen, die Begeisterung an ihrem Wachstum und die Geduld dazu habe ich von meinem Vater. Auch Bäume habe ich als Kind geliebt und hatte meine Lieblinge, knorrige Knickeichen zwischen den Feldern, die ich gerne besuchte. Ihre raue Borke zu spüren, ihr Laub im Wind zu hören gab mir eine tiefe Kraft, ein Gefühl von Verstandenwerden und Einssein. Auch bestimmte Plätze waren mir heilig. Dort war ich gerne alleine und fühlte mich zugehörig. Als ich zwölf war, bin ich eines Abends mit dem Fahrrad wenige Kilometer den sandigen Feldweg in einen kleinen Wald gefahren. Dort stieg ich die grobe Leiter hoch zu einem Jagdstand. Fern des Dorfes genoss ich die Stille und lauschte dem Knarren der Äste, den Vogelstimmen und dem Rascheln und Grunzen der Wildschweine. Das war meine ganz eigene Religion, die keine Heiligen Schriften kannte. Das wichtigste, was ich damals von den Bäumen gelernt habe, war ein Gebet, das nicht Reden war, sondern Schweigen und Hören.