Träume von Freiheit - Ferner Horizont

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9. In der Irrenanstalt



Pirna, 05. Oktober 1881, am Mittag



Florence schlug die Augen auf. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, der Hals war wie ausgedörrt. Sie versuchte, sich aufzusetzen. Sie blinzelte und bemerkte, dass sie sich in einem Bett befand, das von hohen Brettern ringsherum umgeben war. Eine Art hölzerne Kiste. Dazu eine vom vielen Waschen hart gewordene Bettwäsche. Erschrocken sah sie sich um. Sah in das Gesicht eines großen Mannes im weißen Kittel und erblickte eine stämmige Frau in Uniform, die sie anstarrte. »Guten Tag, Frau de Meli. So langsam kommen Sie nun bei uns an, hm?« Der Mann beugte sich zu ihr und tätschelte ihre Schulter. Dieser fremde Hüne berührte sie! Florence wollte aufspringen, doch die Frau drückte sie wieder zurück in die Kissen.



»Wer sind Sie? Lassen Sie mich los!« Ihre Stimme war nur ein Krächzen.



»Frau de Meli, haben Sie keine Angst. Ich bin bei Ihnen.« Adele drängte sich an den Rand des Bettes, das beinahe aussah wie ein Sarg ohne Deckel. Der Arzt hatte Adele vorhin erklärt, dass die hohen Ränder unruhige Patienten davon abhielten, aus dem Bett zu fallen und sich zu verletzen. Selbst die Kinder lagen daheim in der Räcknitzstraße in schöneren Betten, dachte Adele, sagte aber nichts.



Dr. Zumpe stand ein paar Meter entfernt und betrachtete die Szenerie schweigend.



»Was soll das? Wo bin ich hier?«



Er hörte die Panik in Florence’ Stimme.



»Frau de Meli, bitte beruhigen Sie sich! Schwester, holen Sie der Patientin ein Glas Wasser!« Der ältere Herr beugte sich über Florence. »Mein Name ist Dr. Lessing. Ich bin der Leiter dieser Anstalt hier. Ich freue mich, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Und ich bin mir sicher, dass Sie hier wieder zu Kräften kommen werden und bald schon die düsteren Gedanken vertreiben können, die Ihnen so zusetzen.«



Seine blauen Augen waren von vielen Falten umringt. Er sah freundlich aus, dachte Florence. Die Schwester gab ihr ein Glas Wasser, das sie gierig austrank.



»Was meinen Sie? Düstere Gedanken?« Jetzt klang ihre Stimme wieder etwas fester.



»Nun, ich habe es hier schriftlich, dass Sie an einer schweren Form der Hysterie leiden, gepaart mit einem wiederkehrenden Kontrollverlust Ihrer Gefühle. Bis hin zu Suizidgefahr. Ihr Hausarzt, Dr. Zumpe, hat es bestätigt sowie Ihr gesamtes Umfeld.«



Florence schüttelte ungläubig den Kopf. »Was? Selbstmordgedanken? Nein, niemals. Ich habe doch Kinder!« Sie schluchzte. »Das ist ein Komplott. Mein Mann will mich loswerden. Glauben Sie nicht, was auf dem Zettel steht!« Anklagend hob sie die Hand und wollte dem Arzt das Blatt Papier entreißen. Doch die Schwester drängte Adele zur Seite und schob Florence mit ungeahnter Kraft zurück in den Bett-Kasten.



»Lassen Sie mich los! Dr. Zumpe, da sind Sie ja! Wo bin ich hier? Was soll das?«



Carl Julius Zumpe trat ein paar Schritte zu ihr. »Frau de Meli, wenn Sie den ersten Schreck verwunden haben, werden Sie sehen, dass Sie hier in Pirna ein schönes Plätzchen gefunden haben, an dem Sie endlich zur Ruhe kommen können.« Er hörte dem Klang seiner eigenen Worte nach und fühlte sich mit einem Mal schäbig. Zum Glück hatte er dem Kutscher Bescheid gegeben, auf ihn zu warten. Lange würde er sich hier nicht aufhalten. Die Sache mit dem Amtsarzt musste er nun doch in Dresden klären. Außerdem hatte er am Nachmittag wieder Sprechstunde.



Plötzlich ertönte ein lautes Lachen aus dem geöffneten Fenster zum Hof. Das Fenster war vergittert, man konnte es nur einen Spalt weit aufmachen. Florence sah Adele fragend an. Das Lachen wurde lauter und hysterischer. »Da hast du’s, elende Schlampe! Ich werde dir die Haare ausreißen. Jedes Haar ausreißen. Gib mir die Blume zurück!«, kreischte eine Stimme. Die andere Frau, die eben noch gelacht hatte, schrie wie am Spieß.



»Schwester Käthe, schließen Sie das Fenster!« Der Lärm war nur noch gedämpft zu hören. »Manchmal geraten die Patientinnen in einen Streit. So etwas legt sich aber schnell«, versuchte der Anstaltsarzt, Florence und die entsetzte Adele zu beruhigen. »Keine Sorge, liebe Frau de Meli. Sie sind hier in einer großen Familie angekommen. Die Patienten sind so etwas wie die Kinder in unserem Haus, Schwester Käthe und die anderen Pflegerinnen kümmern sich wie eine Mutter um sie. Sie werden sehen.« Und leiser, kaum zu verstehen, fügte er hinzu: »Es sind alles meine Kinderchen. Und manche von ihnen sind bisweilen etwas unartig.« Er lächelte gedankenverloren. Dr. Zumpe sah den Kollegen verwundert an. Das Schreien von draußen ebbte ab.



»Ich muss mich um meine eigenen Kinder kümmern. Adele, wir brechen auf!« Florence versuchte, sich aus dem Bett zu schwingen.



»Na, na, gnädige Frau. So einfach geht das nicht. Wir wollen doch erst einmal gesund werden«, mischte sich Schwester Käthe ein. »Dann freuen sich Ihre Kinder auch viel mehr auf ihre Mutter.« Der Tonfall war süßlich-lauernd. Sie lächelte Florence zu, während sie sie wieder hinter die Holzkante drückte. Die Schwester hatte dünnes blondes Haar, das unter der Haube strähnig aussah. Ihre Haltung war schlecht, das fiel Florence sofort auf. Wie kann eine Frau, die wahrscheinlich noch nicht einmal 30 Jahre alt ist, schon so bucklig dastehen?, dachte sie.



Die Krankenschwester warf Adele einen kurzen, verächtlichen Blick zu. »Frau de Meli, Ihre Zofe kennt sich in unserem Haus nicht aus. Von nun an werde ich mich um Sie kümmern.«



»Ich bleibe bei meiner Herrschaft«, entgegnete Adele und stellte sich angriffslustig vor die Wärterin, die nur mit einem höhnischen Lachen antwortete.



»Das ist die Anordnung von Dr. Lessing.« Sie musterte Adele.



»Das kann ja sein. Trotzdem. Ich bleibe!« Adele hielt sich am Bettrand fest.



Schwester Käthe zuckte mit den Achseln. »Das wird Herr Dr. Lessing entscheiden«, antwortete sie und sah ihn mit einem Beifall heischenden Blick an.



»Jaja, schon gut, Schwester Käthe. Für den Moment kann die junge Frau bleiben. Frau de Meli muss sich schließlich erst eingewöhnen.« Er schwieg kurz, als müsste er nachdenken. »Bringen Sie Frau de Meli in ihr Zimmer. Und dann das Übliche, Sie wissen schon, Käthe …« Die Schwester nickte.



Florence war fassungslos und ließ sich von der Wärterin in ein anderes Zimmer führen. Adele wich nicht von ihrer Seite.



Dr. Zumpe schien erleichtert, als die Frauen den Raum verließen. »Bis bald, Frau de Meli. Sie werden sehen, in Sonnenstein wird es Ihnen bald besser gehen«, rief er ihr nach, um wenig später die Kutsche nach Dresden zu besteigen. Die Fahrt kam ihm kürzer vor als auf dem Hinweg. Pirna war nicht aus der Welt, dachte er. Und falls es irgendwann gestattet sein würde, dass die Kinder ihre Mutter besuchten oder der Ehemann, dann wäre es überhaupt kein Problem. Vorerst aber sollte Florence Ruhe haben vor ihrer Familie und dem gesamten Umfeld aus Dresden. Er grübelte. War die Einlieferung medizinisch korrekt gewesen? Ja, gab er sich die Antwort selbst: Die Kuren in Franzensbad und Karlsbad waren wirkungslos geblieben. In Sonnenstein würde man Florence de Meli sicher besser helfen können. Die Anstalt genoss einen hervorragenden Ruf. Dies war eine Psychiatrie auf der Höhe der Zeit. Modernste Behandlungsmethoden in einer Umgebung wie in einem guten Hotel. Billardzimmer für die Herren, Musikdarbietungen, Damensalons, sogar eigene Gärten für die Patienten gab es. Und alles war geordnet: in einen abgetrennten Bereich für die Männer und einen Trakt für die Frauen. Dr. Lessing hielt viel von Tätigkeiten an der frischen Luft. Unkrautjäten, Beete harken, aber auch Handarbeiten, Musizieren und Übungen zur Körperertüchtigung gehörten zum Programm. Hier sollten sich die Patienten beschäftigen, um zu genesen. Dazu Wasseranwendungen, galvanische Strombehandlungen und Mastkuren à la Mitchell. Zumpe kannte den Prospekt beinahe auswendig, so oft hatte er das Faltblatt studiert. Er lehnte sich zurück. Und das Geld von Henri de Meli konnte er gut gebrauchen. Schließlich waren seine Praxisräumlichkeiten in der Wiener Straße alles andere als mondän. Bald schon würde er den Tischler kommen lassen, um eine schöne Holzverkleidung an den Wänden im Warte- und im Behandlungszimmer anbringen zu lassen. Der Gedanke daran machte ihn froh. Es hatte alles seine Richtigkeit.



Schwester Käthe stieß die Tür zu einem Zimmer auf. Es lag an der Nordseite des neu erbauten Frauenhauses. Hier kam kein Sonnenstrahl durch das Fenster. Adele versuchte, die Vorhänge aufzuziehen, um wenigstens ein wenig Licht in den dunklen Raum zu lassen. Sofort sah sie, dass auch hier Gitterstäbe vor dem Fenster angebracht waren. Schnell zog sie die Vorhänge wieder zurück in ihre ursprüngliche Position, um Florence den Anblick zu ersparen, doch sie hatte es längst gesehen. »Meine Güte, es ist wie in einem Gefängnis. Überall vergitterte Fenster.« Florence schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum machen Sie das?«



»Ich habe das nicht zu entscheiden. Das haben die Ärzte veranlasst. Aus gutem Grund. Was meinen Sie, wie viele Patientinnen wir hier haben, die lebensmüde sind? So wie Sie! Und dann stürzen sie sich eines Tages aus dem Fenster – und liegen da unten und sind mausetot.« Käthe seufzte theatralisch. »Da ist das hier schon besser. Die Leute sollen doch gesund werden bei uns.«



Florence überlegte die ganze Zeit, wie sie sich verhalten sollte. Ruhig und gefasst bleiben, um Zeit zu gewinnen und nur ja nicht den Eindruck einer Geisteskranken zu erwecken? Oder laut werden und sich gegen diese ungeheuerliche Verschwörung zur Wehr setzen? Würde man ihr zuhören? Ihr Glauben schenken? Oder wäre es nur ein weiterer Beweis für die Richtigkeit dieses Einlieferungsscheins, den Dr. Zumpe ausgestellt hatte?



Adele setzte die Reisetasche ab und betrachtete das Zimmer. Es war schlicht eingerichtet. Ein großes Bett, dieses Mal ohne hölzerne Einfassung. Ein kleiner Tisch, zwei Sessel. Sogar ein Damensekretär samt Stuhl stand in der Ecke. Dazu ein Schrank. »So, Frau de Meli, meine Kollegin Mathilde wird gleich kommen mit der Wanne. Und dann werden Sie – so wie alle anderen Patienten hier – erst einmal gewaschen.«

 



Jetzt war es doch um Florence’ Fassung geschehen. »Was soll das heißen? Was bilden Sie sich ein? Dass ich verlaust bin? Oder die Krätze habe?« Wütend schrie sie die Schwester an.



Käthe ging einen Schritt auf sie zu. Ihre Augen wurden noch kleiner, der Mund schmal. »Hören Sie mal, meine Dame, solche Auftritte kenne ich zur Genüge. Es gibt hier Regeln. Die gelten auch für Sie.« Alles Freundliche war aus ihrem Gesicht gewichen. Zurück blieben der bucklige Rücken, das fliehende Kinn und dieser Ausdruck von Verachtung im Gesicht. Florence fühlte sich hilflos.



Es klopfte. Käthe öffnete die Tür und half ihrer Kollegin, eine mit Wasser gefüllte Zinkwanne auf Rädern ins Zimmer zu rollen. »So, die ist für Sie. Brauchen Sie Hilfe beim Einsteigen?« Käthe warf ihr einen drohenden Blick zu.



Florence schüttelte den Kopf. »Adele ist bei mir, wir werden das schaffen.«



Käthe verschränkte die Arme vor der Brust. »Nee, Frau de Meli, Mathilde und ich bleiben hier.«



Florence gab sich geschlagen. Auch als Adele hilflos versuchte, ihre entblößte Herrin vor den Blicken der Schwestern zu schützen, winkte Florence ab. »Ach, lassen Sie nur.« Dann kletterte sie in die Wanne. Das Wasser war sehr warm.



Unsicher sah Florence zu den beiden Wärterinnen. Während Mathilde mit einer weiteren Kanne heißem Wasser kam, begann Käthe, Florence’ Körper mit einer Bürste abzuwaschen. Sie schrubbte über die Haut, dass es brannte. Florence wand sich und versuchte, der brutalen Reinigung zu entkommen. Vergeblich.



»Ich kann Frau de Meli waschen«, schlug Adele vor.



Käthe schwieg und machte verbissen weiter. Mathilde reichte ihr ein Stück Kernseife. »So, gnädige Frau, jetzt die Haare!«



Florence schüttelte den Kopf.



»Jetzt kein Getue, meine Dame«, sagte Käthe und drückte Florence’ Kopf unter Wasser. Prustend kam diese wieder an die Oberfläche. »Was fällt Ihnen ein? Na warten Sie, das werde ich Dr. Lessing berichten!«



Käthe zuckte mit den Achseln. »Bitte schön! Machen Sie das. Er hat die Regeln aufgestellt, nicht ich.«



Spätestens in diesem Moment hatte die beruhigende Wirkung von Dr. Zumpes Spritze ganz und gar nachgelassen. Florence war hellwach – und entsetzt. Sie versuchte, aus der Wanne auszusteigen. Doch die starken Unterarme von Schwester Käthe zwangen sie zurück ins Wasser.



»Mathilde, unsere neue Patientin ist noch ein bisschen wild«, stöhnte Käthe und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Bitte sag Bescheid, dass wir nasse Tücher brauchen. So hat das ja keinen Zweck.«



»Ich brauche trockene Tücher. Ich will hier raus!«, schrie Florence. »Adele!«



Das Dienstmädchen wollte sich an der Wärterin vorbeischieben, doch gegen die grobe Frau hatte sie keine Chance. Was für ein Scheusal, dachte Florence und versuchte noch einmal, den starken Händen der Pflegerin zu entkommen.



»Ich bin schon mit ganz anderen Fällen fertiggeworden. Wenn Sie es nicht anders haben wollen, bitte sehr!« Sie packte Florence am Oberarm und zog sie an sich. Der feste Griff schmerzte. »Solange der Herr Doktor nicht hier ist, entscheide ich, wann das Wannenbad vorbei ist«, zischte sie Florence an.



In dem Moment kehrte Mathilde mit einem Stapel Leinentücher zurück. Beide Frauen begossen die Tücher, wrangen sie leicht aus. Dann legten sie sie um die nackte Florence, die tropfend auf dem Fußboden stand. Adele beobachtete diese Prozedur fassungslos. Innerhalb weniger Minuten glich ihre Herrin einer nassen Mumie, eingewickelt in viele Lagen feuchter Tücher. Ein Bett auf Rollen wurde hineingeschoben, zu zweit hievten sie Florence auf die Liegefläche, die mit Segeltuch abgedeckt war. »Jetzt haben Sie Zeit, sich zu beruhigen«, sagte Käthe mit einem grimmigen Lächeln. Florence drehte den Kopf zur Seite. Vom Hals abwärts war sie wie gelähmt.



»Ich habe Hunger«, sagte sie leise, ohne die Wärterinnen anzusehen.



»Deswegen das Theater?«



Florence schwieg.



»Ich kann etwas besorgen«, bot Adele mit zitternder Stimme an. Was sie hier erlebte, überstieg langsam ihre Kräfte. Ihr Alltag in der Räcknitzstraße schien Welten entfernt.



»Mathilde geht schon, nicht wahr, Tildchen? Frag doch mal in der Küche, was sie für unseren Gast haben. Am besten eine Kraftbrühe und etwas Brot. Wir müssen Sie ja füttern, allein kann sie gerade gar nichts machen.« Käthe unterdrückte ein Kichern und strich ihre Schürze glatt. Sie saß neben Florence und ließ sie nicht aus dem Blick. Unschlüssig stand Adele auf der anderen Seite der Liege. Florence schloss die Augen. Eine Träne rollte über ihre Wange. Adele sah es und schniefte selbst. Dann nahm sie ein Taschentuch und tupfte Florence die Wange trocken.



»Gnädige Frau, das wird schon alles. Bestimmt sind wir bald wieder zurück in Dresden!«



Florence sah sie an. Sie schwieg. Verzweifelt.



»Ja, Sie werden sich gleich noch aufmachen können, Fräulein Adele«, antwortete stattdessen Käthe. »Mit der Eisenbahn dauert es keine Stunde, und Sie sind wieder daheim. Aber Ihre gnädige Frau lassen Sie noch ein bisschen bei uns.«



Adele schüttelte den Kopf.



»Denken Sie an das, was wir gestern Abend besprochen haben«, sagte Florence leise.



Natürlich! Die Briefe, das blaue Säckchen mit den Diamanten. Vielleicht sollte sie nach einem noch besseren Platz für die Steine Ausschau halten. Und zur Post musste sie gehen, unbedingt. Adele nickte. »Ich werde mich um alles kümmern!«



»Na, dann haben Sie ja was zu tun und müssen hier nicht bloß rumstehen«, sagte Käthe und wollte Adele zur Tür weisen. Das Dienstmädchen blickte noch einmal fragend zu Florence, als wollte sie die Erlaubnis ihrer Herrschaft einholen. Florence unterdrückte ein Schluchzen.



»Ich komme an meinem freien Tag wieder!«, sagte Adele und strich unbeholfen über die nassen Haare von Florence. Dann verließ sie das Zimmer und fragte sich bis zum Ausgang durch.




10. Die Wärterin



Pirna Sonnenstein, 06. Oktober 1881



Die Stimme war sehr laut. Ein Kreischen. Florence fuhr auf. Ihr Herz klopfte. Sie lauschte. Stille. Das Zimmer war dunkel. Sie suchte nach dem Wasserglas, das ihr Adele jeden Abend auf den Nachttisch stellte. Doch ihre Hand landete im Nichts. Hektisch befühlte sie das Bett, suchte den Nachttisch. Er war fort. Florence schloss die Augen und sank auf ihr Kissen zurück. Sie war in Pirna. Festung Sonnenstein. Frauentrakt. Irrenanstalt. Sie hörte ihren eigenen Atem. Plötzlich noch ein Schrei. Eine Frau schrie wie am Spieß. Florence sprang aus dem Bett. Das Gestell war aus Metall, ohne Seitenwände. Zwei Frauen redeten auf eine dritte ein. Diese schrie wieder. Florence hörte ein hässliches Lachen. Eilige Schritte auf dem Korridor. Eine Tür wurde geöffnet. Jetzt war das Kreischen so laut, dass Florence glaubte, es sei direkt nebenan.



Die Tür fiel mit einem Krachen ins Schloss. Gedämpftes Schimpfen. Florence hörte ein Schluchzen. Auch das klang schrill und unnatürlich. Das Schluchzen wurde lauter, wilder. Jetzt schrie die Frau wieder. Vor Schmerz? Ob sie geschlagen wurde? Florence ging zur Tür und drückte die Klinke hinunter. Die Tür war abgeschlossen. Hektisch versuchte sie es noch ein paarmal. Vergeblich. Sie war eingesperrt. Ihre Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und sie sah die Umrisse der Liege, die noch immer im Raum stand. Sie erinnerte sich, wie sie dort gelegen hatte. Wie die nassen Tücher langsam ausgekühlt waren, wie sie gefroren hatte unter dem vollgesogenen Leinen, das schwer auf ihr gelegen hatte. Und sie erinnerte sich an das Gesicht von Schwester Käthe, die sich einen Moment unbeobachtet gefühlt und ihr Profil im Wandspiegel begutachtet hatte. Diese entsetzliche Frau. So gewöhnlich. Und ganz ohne Manieren. Nur wenn einer der Ärzte in der Nähe war, dann kam sie aus dem Knicksen gar nicht mehr heraus. Florence verabscheute sie. Seitdem Adele nach Hause geschickt worden war, schlich diese Wärterin um sie herum und beteuerte fortwährend, dass sie Florence zu Diensten stünde. Dummes Geschwätz! Florence erinnerte sich sehr wohl an den festen Griff um ihren Arm, mit dem sie sie in die Wanne gedrückt hatte. Die Stelle schmerzte noch immer.



Wieder waren Laute zu hören. Jetzt viel leiser. Florence lehnte sich an die Tür. Eine Frau wimmerte. Eine andere schimpfte mit gedämpfter Stimme auf sie ein. Kurz darauf weinten beide. Dann schien es ein Handgemenge zu geben. Wieder Schreie, dieses Mal aus einer anderen Ecke. Türen wurden aufgerissen, energische Schritte hallten über den Fliesenboden. Kurze Kommandos. Dann hörte Florence dumpfe Geräusche. Schläge. Es mussten Schläge sein. Das einsetzende Weinen war jämmerlich. Florence zitterte am ganzen Körper. Vielleicht war es noch die feuchte Kälte aus den Leinenwickeln. Seit dieser Prozedur am Nachmittag hatte sie das Gefühl, die Nässe sei direkt unter die Haut in ihre Knochen gekrochen. Oder es war die Angst vor dem, was sie nicht sehen, aber hören konnte.



Das Fenster! Florence schob die schweren Vorhänge beiseite. Gitterstäbe. Kein freier Blick. Unten war ein Hof zu erkennen. Ihr Zimmer musste sich wohl im dritten Stock befinden. Das konnte sie erkennen, wenn sie die gegenüberliegende Häuserseite ansah. Sie rüttelte am Fenstergriff. Das Fenster ließ sich öffnen! Aber nur einen kleinen Spalt weit. Dann setzte ein unbekannter Mechanismus ein, und es ging keinen Zentimeter weiter. Mit beiden Händen zerrte Florence am Griff, versuchte es auf der anderen Seite. Unmöglich. Sie sank zurück und starrte fassungslos auf das vergitterte Viereck. Sie war eine Gefangene. Eingesperrt mit lauter verrückten Frauen und einer bösartigen Wärterin an ihrer Seite. »Ach, Henry, mein kleiner Henry, was machst du nur ohne mich? Und Minnie, mein süßes, kleines Mädchen, Mommy vermisst dich.« Die Sehnsucht nach ihren Kindern, gepaart mit der Angst, was ihr tyrannischer Vater ihnen antun könnte, trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.



Florence saß zusammengesunken vor dem Vorhang, als sie einen Lichtstrahl unter der Tür aufleuchten sah. Ein Schlüssel wurde bewegt, die Tür ging auf. Sie erkannte Schwester Käthe. Eine Haarsträhne hing von ihrem Kopf. Die Schwesternhaube fehlte. Mit einer Gaslampe in der Hand leuchtete sie vorsichtig in das Zimmer. »Alles in Ordnung, Frau de Meli?«



Das Licht der Flamme blendete Florence’ Augen. Sie blinzelte.



»Na, was machen Sie denn da?« Die Stimme veränderte sich. Sie sprach mit Florence wie mit einem ungezogenen Kind. »Wenn ich das dem Doktor sage! Sie müssen doch ins Bett.«



Florence rutschte tiefer in die Falten des Vorhangs und hielt die Hand vors Gesicht.



»Nun kommen Sie! Da holen Sie sich doch den Tod. Am offenen Fenster …«



»Das Fenster ist nicht offen«, antwortete Florence und sah sie wütend an. »Man kann es gar nicht öffnen. Sie vielleicht, weil Sie einen Schlüssel haben oder wissen, wie dieser geheime Mechanismus funktioniert. Aber ich kann es nicht. Auch die Tür bekomme ich nicht auf. Sie haben mich eingeschlossen!«



»Das müssen wir am Anfang oft tun«, sagte Käthe und ging auf sie zu, um ihr aufzuhelfen, doch Florence wich zurück. »Viele Patienten wissen nicht, was für ein Glück sie haben, dass sie hier in Sonnenstein gelandet sind. Wir sind eine Reform-Anstalt. Was meinen Sie, was anderswo los ist? Da haben Sie nicht so ein schönes Einzelzimmer. Da werden sie mit den anderen Frauen in einen Schlafsaal gesteckt. Und eines sag ich Ihnen, Frau de Meli, solche Bettnachbarinnen wünsche ich mir nicht. Da sind Frauen darunter, die schrecken vor gar nichts zurück! Krank im Kopf. Verrückt, ganz und gar. Sie sind ja noch ein leichter Fall, Hysterie, na, meine Güte. Aber wir haben hier noch ganz andere … die haben in ihrem Wahn schon Menschen umgebracht.« Käthe war ganz nah an Florence herangekommen und leuchtete ihr ins Gesicht.



Florence roch den Atem der Schwester und drehte den Kopf zur Seite. »Ich lasse mir von Ihnen keine Angst einjagen!«



Die Wärterin lachte kurz auf.



Florence erhob sich. »Was ist mit der Frau, die so geweint hat?«



»Ach, das ist unsere Alwine. Die kriegt regelmäßig solche Anfälle. Macht alle anderen wach mit ihrem Geheule und fängt dann irgendwann eine Schlägerei an. Dann prügeln sich die Weiber. Das muss man sich mal vorstellen! Da hilft nur Strenge.«



»Was heißt das?«

 



»Frau de Meli, was soll das schon heißen? Bei Alwine müssen wir schnell sein. Bevor sie austeilt, kriegt sie erst mal selbst was auf die Finger. Dann ist meistens Ruhe.«



Florence stand mit verschränkten Armen vor der Wärterin. »Schwester Käthe, Sie sehen doch selbst, dass ich völlig gesund bin. Ich möchte morgen früh mit dem Arzt sprechen und ein Entlassungsschreiben bekommen. Ich bin hier ganz und gar falsch.«



Käthe schüttelte die Bettdecke auf und wies Florence an, sich wieder hinzulegen.



»Ach, wissen Sie, Frau de Meli, Sie sind nicht die Erste, die den eigenen Zustand nicht wahrhaben will.« Sie strich die Decke glatt und schob Florence zum Bett. »Morgen haben wir viel vor! Gute Nacht.«



»Ich habe Durst. Bitte bringen Sie mir ein Glas Wasser!«



Käthe hielt inne und sah ihre neue Patientin durchdringend an. »Na, das fällt Ihnen ja früh ein. Ich bringe Ihnen etwas.« Sie entfernte sich mit schnellen Schritten, zog die Tür von außen zu und schloss ab. Es war wieder dunkel im Zimmer. Florence war hellwach. Kurz darauf kehrte die Wärterin mit einem Glas Wasser zurück.



»Vielen Dank, Schwester Käthe. Bitte stellen Sie es auf dem Tisch ab«, versuchte Florence, höflich und freundlich zu sein.



Käthe schnaubte. »Nee, nee, Frau de Meli. Das Wasser trinken Sie aus, solange ich hier bin. Dann nehme ich das Glas wieder mit.«



»Was soll das?«



»Es gibt Menschen, die versuchen, sich mit Scherben die Pulsadern aufzuschneiden.«



Florence schluckte. Dann nahm sie gehorsam das Glas und leerte es vor den Augen der Wärterin.



»Ich seh schon, wir kommen miteinander aus. Gute Nacht!«



Jetzt drehte sich der Schlüssel endgültig im Schloss.



Florence kletterte wieder aus dem Bett und schlich zum Kleiderschrank. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Sie knarrte. Sie wartete ängstlich, ob wieder ein Lichtschein unter der Zimmertür zu sehen war. Nein, alles blieb dunkel. Ihre Kleider waren ausgepackt und an Bügeln aufgehängt worden. Die blaue Truhe stand am Boden. Florence begann, die Kleider abzutasten. Vorsichtig zog sie die Unterwäsche aus ihrer Reisetasche. Sie befühlte die Stoffe und stellte erleichtert fest, dass die eingenähten Juwelen alle noch da waren. Zum Glück hatte man ihr die Kleider gelassen. Sie tastete ein weiteres Mal über das Innenfutter. Den Schmuck würde niemand so schnell entdecken, sie hatte gute Arbeit geleistet. Erleichtert strich sie über die Rückseite des fliederfarbenen Samtkleides, das sie erst vor Kurzem hatte anfertigen lassen. Ja, sie spürte die winzige Erhebung zwischen den Falten – die Brosche! Noch einmal berührte sie den festen Stoff. Sie konnte die Form mit dem Finger nachzeichnen. Die goldene Schlange mit den Rubin-Augen. Florence lächelte erleichtert. Das erste Mal an diesem Tag.



Sie sah die Handschrift von Méry Laurent vor sich. Wie schwungvoll sie schrieb, manchmal war es kaum zu entziffern. Aber jedes Mal eine Freude, wenn wieder ein Brief aus Paris ankam. Oft hatten sie sich nicht geschrieben. Henri missbilligte die Verbindung. Dabei war er es doch gewesen, der den Kontakt zur Schlangenbändigerin wollte. Damals, im Winter vor sechs Jahren. Florence hatte sich über seine strengen Bemerkungen hinweggesetzt. Die Briefe von Mademoiselle Laurent verliehen ihrem Leben als Ehefrau und Mutter in der amerikanischen Kolonie in Dresden so ein gewisses Fluidum, fand sie. Einmal waren sie sogar kurz davor gewesen, Méry in Paris zu besuchen. Doch Henri hatte die Reise urplötzlich abgesagt, und sie waren dann nach Italien aufgebrochen. Was für eine Enttäuschung! Florence sprach kein Italienisch, kannte niemanden in Rom und interessierte sich herzlich wenig für die antiken Überreste und das Kolosseum, das sie sich ansehen mussten. Alles nur, damit der kleine Henry begriff, was die alten Römer geleistet hatten. Schließlich entwarf sein eigener Vater den Lehrplan für den Jungen und mühte sich nach Kräften, dem Kind das Altertum schmackhaft zu machen. Florence schüttelte bei dem Gedanken den Kopf.



Aber immerhin hatte ihr Mann ihr vor ein paar Jahren den Wunsch nach einem Schmuckstück in Form einer Schlange erfüllt. Dieses Tier war für Florence ein Symbol geworden nach dem denkwürdigen Abend im Varieté im Dezember 1875. Die Frau mit diesen gewaltigen Tieren. Ein faszinierender und gleichzeitig abstoßender Anblick. Florence erinnerte sich ganz genau. Aber alles, was sie anschließend von Méry Laurent erfahren hatte, was sie aus ihrem Leben gemacht hatte, imponierte Florence. Vo

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