Loe raamatut: «Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels»

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Silvia Stolzenburg

Die Salbenmacherin und der Fluch des Teufels

Historischer Roman


Zum Buch

Der Teufel in Nürnberg Seit der Entführung von Oliveras Sohn sind zweieinhalb Jahre vergangen. Es hat den Anschein, als würde Normalität in ihr Leben einkehren, bis eines Morgens ein Ratsherr um ihren Beistand bittet. Seine Tochter leidet an einer rätselhaften Krankheit, die selbst den Medicus ratlos macht. Olivera verspricht Hilfe, doch auch sie kann das Leid des Mädchens nicht lindern. Bald erkranken weitere Nürnberger, und es dauert nicht lange, bis das Gerücht entsteht, der Teufel hätte die Kranken verflucht. Als wäre das nicht genug, tauchen die Leichen der Männer auf, die Oliveras Bruder ermordet hat. Zu ihrem Entsetzen soll sie bei der Leichenschau helfen, bei der die Toten erkannt werden. Kann sie den Verdacht von sich ablenken oder drohen ihr und ihrem Gemahl das Lochgefängnis und die Hinrichtung? Die Ereignisse überschlagen sich und zwingen Olivera zu einer folgenschweren Entscheidung.

Dr. phil. Silvia Stolzenburg studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Tübingen. Im Jahr 2006 promovierte sie dort über zeitgenössische Bestseller. Kurz darauf machte sie sich an die Arbeit an ihrem ersten historischen Roman. Sie ist hauptberufliche Autorin und lebt mit ihrem Mann auf der Schwäbischen Alb, fährt leidenschaftlich Rennrad, gräbt in Museen und Archiven oder kraxelt auf steilen Burgfelsen herum - immer in der Hoffnung, etwas Spannendes zu entdecken.

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die

Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © Alex Shadrin / stock.adobe.com und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nuernberg-1650- Merian.jpg

ISBN 978-3-8392-6908-4

Widmung

Für Horschi – zu wenig, zu kurz. Du fehlst.

Kapitel 1

Vor den Toren von Nürnberg, September 1412

Die Sonne schien aus einem makellos blauen Himmel, den nur ein dünner Schleier im Osten trübte. Am Horizont jagten sich ein paar vorwitzige Vögel, als ob der Herbst noch in weiter Ferne läge. Das Laub der Bäume am Ufer der Pegnitz färbte sich in diesem Jahr nur langsam bunt, doch das schöne Wetter konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sommer vorbei war. Zwischen den Grashalmen am Wegesrand spannten sich Spinnennetze, die taunass glitzerten. Der schwere Geruch von feuchter Erde stach Jona in die Nase, als er sich mit Cristin der Hallerwiese vor den Toren der Stadt näherte.

»Warum willst du ausgerechnet hier suchen?«, fragte das Mädchen und sah mit großen Augen zu ihm auf. Sie hatte Mühe, mit Jona Schritt zu halten. Ihre wilden dunklen Locken tanzten um ein vor Anstrengung gerötetes Gesicht. »Vor dem Wöhrder Türlein wächst viel mehr Schafgarbe.«

Jona schüttelte ungehalten den Kopf. »Wenn du lieber zurück nach Hause gehen willst …«

»Nein!« Cristins Wangen färbten sich noch röter. »Ich bin doch kein Kind mehr!«

Jona verkniff sich ein Lachen. Sie war beinahe zehn Jahre alt und benahm sich seit geraumer Zeit seltsam, vor allem in seiner Gegenwart. Er mochte sie wie eine kleine Schwester, allerdings fürchtete er, dass sie in ihm mehr sah als den großen Bruder. Seit seine Stimme tiefer und seine Schultern breiter geworden waren, klebte sie bei jeder Gelegenheit an seinen Fersen. Er fragte sich, wann Götz bemerken würde, was vor sich ging. Allein die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen. Er schob den Gedanken hastig beiseite und sah sich um. Etwa eine halbe Meile vor ihnen hob sich etwas vom Blau des Himmels und dem Braun der Stoppelfelder ab, bei dem es sich um das verfallene Gehöft handeln musste. Der Hof des Alten Endris, dachte er und zog die Schultern hoch, weil es ihn plötzlich fröstelte. Seit der Entführung von Oliveras Sohn Lukas vor zweieinhalb Jahren war im Haus des Stadtapothecarius nie mehr von jener Nacht gesprochen worden, in der auch Mathes, der Knecht, fast sein Leben verloren hätte. Mit gemischten Gefühlen erinnerte Jona sich an alles, was damals vorgefallen war. Wäre er nicht neulich durch Zufall Zeuge eines Gesprächs auf dem Grünen Markt geworden, hätte er dasselbe getan, was die ganze Stadt zu tun schien: den Adepten Alphonsius und seine betrügerischen Helfer vergessen.

»Was, glaubst du, geschieht mit dem Hof?«, hatte ein Knecht eine Frau mit einem Handkarren gefragt, während Jona in der Schlange hinter ihnen gewartet hatte, bis er beim Metzger an der Reihe war.

»Mit welchem Hof?«

»Mit dem des Alten Endris. Wenn die neue Straße gebaut wird, ist der doch mitten im Weg.«

Die Frau hatte mit den Schultern gezuckt. »Dann wird man ihn dem Erdboden gleichmachen. Was geht’s mich an?«

Zuerst hatte Jona sich nicht für das Gerede interessiert, doch auf dem Weg zurück zum Haus in der Burgstraße war ihm der halb verkohlte Zettel eingefallen, den er kurz nach Lukas’ Rettung im Kamin gefunden hatte. …tore zum Hof des Alten E… Mehr hatte er nicht entziffern können. Der Rest des Papiers war verbrannt. Obwohl er vermutet hatte, dass es sich um eine Nachricht des Entführers handelte, hatte er dem Fund keine weitere Beachtung geschenkt, da Lukas wohlauf und der Täter über alle Berge war. Erst einige Zeit später war ihm klar geworden, dass etwas mit der Nachricht nicht stimmte. Waren Lukas und die Amme nicht in einer Kate innerhalb der Stadtmauern gefangen gehalten worden? Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto heftiger hatte ihn die Neugier geplagt. Deshalb hatte er beschlossen, der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Er hatte keine Ahnung, was er sich von dem Ausflug versprach, vermutlich hatte der halb verbrannte Zettel überhaupt nichts mit der Entführung zu tun. Dennoch zog ihn der Hof an wie ein Magnet.

»Ich glaube nicht, dass wir so weit weggehen sollten«, gab Cristin zu bedenken.

Jona ignorierte sie und steuerte zielstrebig auf eine Ansammlung von verfallenen Gebäuden in der Nähe des Flussufers zu.

»Jona?«, quengelte sie.

»Geh Pappelrinde sammeln«, brummte er.

»Aber wir sollen doch Schafgarbe mitbringen!«

»Jetzt mach schon!« Er zeigte ungehalten auf die Bäume und wartete, bis Cristin sich widerstrebend trollte. Dann sah er sich um. Dicht beim Ufer stand ein windschiefer Holzschuppen, dessen Dach an einigen Stellen eingefallen war. Überall wucherten mannshohe Disteln und auf dem Schornstein des Hauptgebäudes hatten Störche ihr Nest gebaut. In den Wänden klafften Durchbrüche, wo die Nürnberger Holz und Steine herausgebrochen hatten, um sie anderweitig zu verwenden. Trotz des frischen Windes lag der Geruch von Schimmel, Fäulnis und Tierkot schwer in der Luft. Jona rümpfte die Nase. War er auf dem Holzweg? Er betrat das Gebäude und blinzelte, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnt hatten. Im Erdgeschoss befand sich nichts außer einer gewaltigen Feuerstelle und einigen alten Töpfen. In einer Ecke türmten sich kaputte Stühle und Bänke, die zum Teil zu Feuerholz zerkleinert worden waren. Das Obergeschoss war ebenfalls verwaist, die Treppe so morsch, dass er mehrmals fast eingebrochen wäre. Zurück im Erdgeschoss sah er sich nach einem Keller um und entdeckte eine Luke.

»Was ist das denn?«, murmelte er, ging näher und kniete sich auf den Boden. Die Klappe der Luke war aufgestoßen und lag auf einem Haufen schwerer Steine. Bei näherem Hinsehen wurde deutlich, dass sich jemand mit einem Messer daran zu schaffen gemacht hatte. Ein Loch klaffte in der Mitte der Bretter, an einem rostigen Nagel hing ein Stück Stoff. Jona befreite es und runzelte die Stirn. Er überlegte gerade, ob er in den Keller klettern sollte, als ein gellender Schrei an sein Ohr drang.

»Cristin!«, keuchte er. Mit einem Satz kam er zurück auf die Beine und rannte zur Tür.

Kapitel 2

Nürnberg, September 1412

Olivera richtete sich mit einem Seufzen auf und legte die Hand an den schmerzenden Rücken. Sie stand schon mehrere Stunden in der Salbenküche, gebückt über Hackblock, Mörser und Tiegel verarbeitete sie die frischen Heilpflanzen, die Jona und Cristin in den letzten Tagen gesammelt hatten. Seit dem vergangenen Sommer überließ sie Jona viele der einfacheren Arbeiten in der Offizin und auch Cristin hatte sich inzwischen zu einer tauglichen Helferin gemausert. Dank der Unterstützung der beiden konnte Olivera viel Zeit im Heilig-Geist-Spital verbringen, wo sich immer mehr reiche Pfründner in den Kreis ihrer Kunden einreihten. Nach der Enttäuschung über das angebliche Allheilmittel, das der Adept Alphonsius den Alten und Kranken für teures Geld verkauft hatte, waren ihre Arzneien beliebter denn je. Kein Wunder, dachte sie. Immerhin halfen ihre Tränke und Salben, die Zipperlein der Insassen des Spitals zu lindern.

Da der Gedanke an den Adepten unweigerlich schlimme Erinnerungen zurückbrachte, schüttelte sie ihn ab und warf eine Handvoll getrocknete Blüten der Akelei in einen Mörser. Sie zerstieß sie mit geübten Bewegungen und füllte sie in kleine Säckchen. Vermischt mit Apfelmus half diese Heilpflanze gegen das Fieber, das bald wieder in Nürnberg grassieren würde. Mit Beifuß und Brennnessel gegen Magen- und Darmbeschwerden, Tausendgüldenkraut zur Linderung von Ohrensausen und Eisenkraut für Kompressen verfuhr sie genauso. Außerdem legte sie Apfelbaumblätter zum Trocknen auf ein Gestell, mischte eine Lärchensalbe zur Behandlung von Ekzemen und bereitete ein Elixier aus grünen Wacholderbeeren. Immer wieder wischte sie sich dabei den Schweiß von der Stirn, da das Feuer unter der Kochstelle dafür sorgte, dass es in der Salbenküche drückend heiß war. Bald würde sie mehr Platz benötigen, denn die Regale an den Wänden des Raumes würden nicht mehr viele Tiegel, Töpfe und Flaschen fassen. Das Geschäft brummte, obwohl Götz aufgrund seines Sitzes im Stadtrat weniger Zeit hatte, im Verkaufsraum zu stehen.

Als hätten diese Überlegungen ihn angelockt, betrat in diesem Moment ein Käufer den angrenzenden Raum, begleitet vom Bimmeln des Glockenspiels über der Tür.

»Ich komme gleich!«, rief Olivera und griff nach einem Tuch, um sich die Hände zu säubern. Dann rückte sie die Haube auf ihrem Haar zurecht, verstaute eine Strähne hinter dem Ohr und ging nach nebenan.

Ein vornehmer Herr in einer von Silberfäden durchwirkten Schecke blickte ihr entgegen. Er trug einen gezwirbelten Bart. »Seid Ihr die Salbenmacherin?«, fragte er ohne Begrüßung.

Olivera nickte.

»Ich brauche Eure Hilfe!«

Olivera trat hinter den Tresen. »Was kann ich für Euch tun?«

»Ihr müsst mit mir kommen! Meine Tochter ist krank!«

Olivera runzelte die Stirn. »Habt Ihr Euch an den Medicus gewandt?«

Der Mann nickte. »Er hat ihr lauter nutzloses Zeug gegeben, das nicht hilft!«

»Mein Gemahl …«, hob Olivera an, aber der Patrizier schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab.

»Ihr müsst mit mir kommen! Eure Arzneien haben meiner Mutter das Leid vor dem Tod erspart.«

»Eurer Mutter?«

»Sie war Pfründnerin im Spital«, erklärte er. »Ohne Euch hätte sie furchtbar unter ihrem Krebs gelitten. Ihr müsst auch meiner Tochter helfen!«

»Ich kann Eurer Tochter nur in Absprache mit dem Medicus Arzneien geben«, hielt Olivera entgegen. »Alles andere könnte vom Rat als Kurpfuscherei angesehen werden.« Obwohl sich ihre Feinde in den vergangenen zweieinhalb Jahren ruhig verhalten hatten, wollte sie niemandem die Möglichkeit geben, erneut gegen sie oder Götz zu intrigieren.

»Lasst das meine Sorge sein.« Der Mann zog eine Geldkatze aus der Tasche und legte sie vor ihr auf den Tresen. »Ich bezahle Euch fürstlich.«

Olivera schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich kann nur helfen, wenn Ihr auch nach dem Medicus schicken lasst.«

»Verdammt!«, schimpfte er, hob jedoch sofort beschwichtigend die Hände. »Es tut mir leid. Meine Tochter … Sie ist …« Er suchte nach Worten.

»Wie alt ist sie?«, wollte Olivera wissen.

»Neun.« Tränen traten in seine Augen.

Wider besseres Wissen beschloss Olivera, seinem Wunsch nachzugeben. Der Medicus Matthäus war weder abweisend noch hochmütig wie sein Vorgänger und würde es vermutlich nicht missbilligen, wenn man auch sie zu Rate zog. Dennoch würde sie darauf bestehen, dass man nach ihm schickte. »Ich werde sie mir ansehen«, sagte sie.

Der Ratsherr wirkte erleichtert.

»Beschreibt mir ihren Zustand ganz genau«, forderte sie ihn auf.

Er fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Sie hat furchtbare Krämpfe. Immer wieder krümmt sie sich schreiend zusammen, hat Schaum vor dem Mund und erbricht sich. Vor zwei Tagen hat sie wie wild um sich geschlagen und etwas vom Feuer der Hölle gestammelt. Es ist, als ob Gott sie für etwas bestrafen wollte.« Seine Augen wurden feucht. »Sie ist doch unschuldig!«

Olivera überlegte einen Augenblick. »Wie lange leidet sie schon an den Krämpfen?«

»Seit drei Tagen. Es fing mit einem starken Zittern an und wird immer schlimmer. Wenn Ihr ihr nicht helft …« Er schluckte mühsam. »Die Kindermagd hat nach einem Pfaffen geschickt, um die Heiligen anrufen zu lassen. Aber wie soll das gegen die Schmerzen helfen?«

Obwohl die Symptome auf verschiedene Krankheiten hindeuten konnten, ging Olivera zurück in die Offizin, um Mutterkraut, Kamille und Fenchel einzupacken, die allesamt krampflösend wirkten. Außerdem füllte sie Leinsamen in ein kleines Säckchen, da dieses Mittel mit Honig gemischt gegen Verstopfung half. Wenn Gott dem Mädchen gnädig war, handelte es sich lediglich um einen verdorbenen Magen. Falls nicht … Sie bedeutete dem Mann, den Verkaufsraum zu verlassen, und sah sich im Hof nach Mathes um. Als sie ihn bei einem der Stallgebäude entdeckte, winkte sie ihn zu sich.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er mit einem misstrauischen Blick auf den Patrizier.

Olivera schüttelte den Kopf. »Ich bin eine Weile weg. Falls in der Zwischenzeit jemand nach mir oder Götz fragt, sag ihm, er soll später wiederkommen.«

»Soll ich dich begleiten?«

»Nein.«

»Was soll ich Götz sagen, wenn er fragt, wo du bist?«

Olivera sah zu dem Ratsherrn auf.

»Im Haus von Martin Groß«, sagte er. »Meine Tochter ist krank.«

Olivera ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken. Zwar trug der Mann feine Kleider, doch dass er zu einem der ältesten Patriziergeschlechter der Stadt gehörte, hatte sie nicht angenommen.

»Bitte! Beeilen wir uns«, drängte Groß und schritt hastig zum Hoftor.

Auf der Burgstraße angekommen, liefen sie den Abhang hinunter, überquerten den Marktplatz beim Rathaus und machten schließlich vor einem gewaltigen vierstöckigen Fachwerkhaus halt, dessen bunt bemalte Fassade im Sonnenlicht leuchtete. Nicht nur die vielen Giebel, die senfgelben Holzbalken und das silberne Schild über der Tür zeugten vom Reichtum des Besitzers. Auch die zahlreichen Wirtschaftsgebäude innerhalb der übermannshohen Mauer machten deutlich, dass hier jemand wohnte, dessen Wohlstand beträchtlich war. Nachdem der Patrizier einen Laufburschen losgeschickt hatte, um den Medicus zu holen, führte er Olivera durch eine mit Schnitzereien verzierte Eingangstür, die in eine große, von einem Rippengewölbe überspannte Halle führte. Ein lang gezogener, gequälter Schrei drang aus der Ferne an Oliveras Ohr, als sie dem Hausherrn zu einer breiten Holztreppe folgte, die in die oberen Stockwerke führte.

Vorbei an Heiligenbildern und Kruzifixen gelangten sie ins zweite Obergeschoss, wo die Schreie lauter wurden.

»Gebenedeit seist du, Heilige Jungfrau Maria«, hörte Olivera einen Mann in Priestertracht tönen, als sie mit Martin Groß den Raum betrat, in dessen Mitte ein Bett stand. Darin krümmte sich ein junges Mädchen vor Schmerzen, auf seinem Gesicht glänzte der Schweiß. Immer wieder zuckten die Arme und Beine des Kindes wie in einem furchtbaren Tanz und die Schreie schwächten sich zu einem Wimmern ab.

In einer Ecke stand eine Magd, deren bleiches Gesicht sich kaum von der weißen Wand abhob.

Als der Priester Olivera und Groß bemerkte, stand er auf und kam mit einem Kopfschütteln auf sie zu. »Du wirst nicht viel ausrichten können, meine Tochter«, sagte er an Olivera gewandt. »Der Herr hat der armen Seele eine Prüfung auferlegt, die sie allein durch ihren Glauben bestehen kann.«

»Gebt uns einen Moment, Pater«, bat Groß. »Ich lasse nach Euch schicken, sobald wir fertig sind.«

Einen Augenblick sah es so aus, als wolle der Gottesmann zögern, dann schlug er ein Kreuz vor der Brust, murmelte ein letztes Gebet und wandte sich zum Gehen.

Kapitel 3

»Vater! Hilf mir!« Die Worte waren kaum zu verstehen, da die Zähne des Mädchens heftig aufeinanderschlugen. Es sah Martin Groß so flehend an, dass sich Oliveras Herz zusammenzog.

»Die Frau wird dir den Schmerz nehmen«, sagte er mit einem Blick auf Olivera, nachdem er sich auf die Bettkante gesetzt und die zur Faust geballte Hand seiner Tochter vorsichtig in die seine genommen hatte. Er schien das Kind von ganzem Herzen zu lieben. »Bitte!« Die geröteten Augen richteten sich auf Olivera.

Erst jetzt sah sie, dass sich das Mädchen die Haare büschelweise ausgerissen hatte. Blutige Löcher klafften in ihrer Kopfhaut und ihre Beine begannen wieder, unkontrolliert zu zucken.

Olivera stellte ihren Korb ab, zog sich einen Schemel ans Bett und legte eine Hand auf die Stirn des Kindes. »Sie hat Fieber.«

»Könnt Ihr es senken?«

Oliveras Antwort ging in einem weiteren Schrei unter. Ohne Vorwarnung entriss das Mädchen seinem Vater die Hand und fing an, wild um sich zu schlagen und zu treten. Dabei schien ihr jede Bewegung Höllenqualen zu bereiten, da sich ihre Augen verdrehten und Schaum aus ihrem Mund quoll.

»Helft ihr! Bitte!« Martin Groß wich von der Bettkante zurück, da die Krämpfe seine Tochter immer stärker schüttelten.

Olivera holte Mutterkraut, Kamille und Fenchel aus ihrem Korb, vermischte alles miteinander und gab es in einen Becher. »Bring mir Wein!«, trug sie der Magd auf und rührte die Arznei an, sobald die junge Frau mit dem Gewünschten zurückkehrte. Dann wartete sie, bis sich der Anfall etwas legte, und flößte dem Mädchen den Trank ein.

»Wird sie das gesund machen?«, fragte Groß.

»Es sollte ihre Krämpfe lösen«, erwiderte Olivera, die etwas Derartiges noch nie gesehen hatte. Sie betastete den Bauch des Mädchens, doch anders als erwartet war dieser weder hart noch aufgedunsen.

Eine Weile sah es so aus, als ob die Heilpflanzen Linderung bringen würden, aber schon bald fing das Mädchen aufs Neue an zu stöhnen.

»Herr?« Ein Bursche tauchte im Türrahmen auf. »Der Medicus.«

Martin Groß bedeutete ihm, den Arzt ins Zimmer zu führen, der so hager war, dass er fast ungesund aussah. Sein Gesicht war lang und schmal, die braunen Augen sanft. Er war jung, doch etwas in seinem Gesicht verriet, dass er schon zu viel Leid gesehen hatte. Er nickte Olivera zum Gruß zu und sah den Hausherrn mit hochgezogenen Brauen an. »Geht es ihr immer noch nicht besser?«

Groß verneinte. »Ihr Zustand verschlechtert sich stündlich. Eure Kur hat nichts bewirkt.«

Die Zuckungen fingen erneut an.

»Ich habe ihr einen Trank gegen die Krämpfe verabreicht«, erklärte Olivera, als Matthäus’ Blick auf ihren Korb fiel. »Mehr wollte ich nicht tun ohne deinen Rat.«

Der Medicus seufzte. »Ich fürchte, hier bin ich ratlos«, gestand er. »Solch ein Leiden ist mir noch nie begegnet.« Er rieb sich das Kinn. »Zwei weitere Kinder sind daran erkrankt.«

»Was?« Martin Groß sah ihn ungläubig an. »Wollt Ihr behaupten, es handle sich um eine Seuche?«

»So weit würde ich nicht gehen«, entgegnete der Medicus. »Allerdings scheint es, als ob sich die Krankheit in der Stadt ausbreiten würde.« Er ging zum Bett und nahm die Hand des Kindes, um den Aderschlag zu fühlen. »Ihr Herz rast.«

»Dann tut etwas dagegen!«

»Ich wünschte, das könnte ich«, seufzte Matthäus. »Aber ich fürchte, in diesem Fall seid Ihr mit einem Priester besser beraten als mit einem Arzt. Alles, was ich tun kann, ist, ihr das Leid erträglicher zu machen.« Er suchte Oliveras Blick. »Oder ist dir etwas Ähnliches bekannt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Verabreicht ihr stündlich zehn Tropfen hiervon«, sagte er und holte eine Flasche aus seiner Tasche.

»Was ist das?«

»Ein Elixier aus Bilsenkraut. Falls sich ihr Zustand trotzdem weiter verschlechtert, schickt nach mir.«

»Ihr wollt schon gehen?«, fragte Groß empört. »Was ist mit der Salbenmacherin? Sie sagt, sie dürfe meiner Tochter keine Arznei ohne Eure Zustimmung verabreichen!«

»Ich vertraue auf Oliveras Kenntnisse«, entgegnete der Medicus. »Alles, was sie für richtig hält, hat meinen Segen.« Mit diesen Worten verschloss er seine Tasche wieder, nickte Groß zu und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Wartet!« Der Ratsherr fasste ihn beim Arm. »Was …? Wie soll ich wissen …?«

»Vertraut auf Gott«, riet Matthäus ihm. »Und betet für ihre Seele.«

»Was ist mit den anderen Kranken?«, fragte Olivera. »Sollten wir nicht den Rat und den Spitalpfleger davon in Kenntnis setzen, was vor sich geht?«

Matthäus nickte. »Das hatte ich gerade vor.«

»Was soll denn das bringen?«, erboste sich Martin Groß, sobald der Medicus gegangen war.

»Falls es sich um eine Seuche handelt, ist es wichtig, den Rat rechtzeitig zu informieren«, antwortete Olivera.

Groß brummte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Seht Ihr? Ich hatte Euch gesagt, dass seine Behandlungen nutzlos sind. Alles, was ihm einfällt, sind Suppen und Aderlass!«

Olivera betrachtete das Mädchen, dessen Gesicht wächsern dalag. Nach kurzem Zögern griff sie eine kleine Flasche aus ihrem Korb und gab sie dem Vater. »Falls das Bilsenkraut nicht anschlägt, gebt ihr alle zwölf Stunden zwei Tropfen hiervon.« Sie hob warnend den Zeigefinger. »Nicht mehr. Ihr könntet sie sonst damit umbringen.«

Er betrachtete das Fläschchen mit gerunzelter Stirn.

»Es enthält Mohnsaft«, erklärte Olivera, griff nach ihrem Korb und atmete schwer. »Ich wünschte, ich könnte mehr für sie tun, aber solch ein Leiden ist auch mir noch nie begegnet.«

»Es ist das Feuer des Antonius«, sagte die Magd tonlos. Sie hatte sich wieder in die Ecke zurückgezogen und umklammerte das Kruzifix an ihrem Hals.

Olivera sah sie fragend an. »Das Feuer des Antonius? Wie kommst du darauf?« Bei dieser Krankheit handelte es sich um etwas, das Oliveras Yiayia in Konstantinopel mehrfach versucht hatte zu heilen. Allerdings färbten sich die Glieder der Befallenen bei dieser Krankheit schwarz wie Kohle, da sie von Fäulnis zerfressen wurden. Die meisten starben elendig, einige blieben einem noch elendigeren Leben erhalten, nachdem sie die verfaulten Hände und Füße verloren hatten. Die Krankheit war nach dem Feuer benannt worden, das in den Kranken loderte und viele von ihnen dazu brachte, sich ins Meer zu stürzen.

»Das Dorf, aus dem ich komme«, sagte die Magd. »Dort gab es so was vor ein paar Jahren. Alle haben es das Anto­niusfeuer genannt.«

Olivera schüttelte den Kopf. »Du musst dich irren. Das Antoniusfeuer äußert sich anders.«

»Was ist dieses Antoniusfeuer?«, wollte Martin Groß wissen. »Wie könnt Ihr sicher sein, dass meine Tochter nicht daran leidet? Mit welchen Arzneien wird es behandelt?«

Olivera nahm die Hände und Füße des kranken Mädchens genauer in Augenschein. »Die Leute in deinem Dorf müssen an einer anderen Krankheit gelitten haben«, beschied sie schließlich. »Dennoch solltet Ihr nach mir schicken, falls sich ihre Extremitäten verfärben«, sagte sie an den Vater gewandt. Dann, nach einem letzten Blick auf das leise stöhnende Mädchen, verließ sie die Kammer und trat wenig später auf die Straße. Wenn sie doch nur wüsste, wie sie dem Kind helfen konnte! Trotz aller Ratlosigkeit beschloss sie, zurück in die Offizin zu gehen und in den gelehrten Büchern nachzuschlagen, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.