Loe raamatut: «Das Salzfass»
SIMON SAILER
Das
Salzfass
Der weiß nicht mal, was das ist. Er glaubt, es ist eine Dose, eine Zuckerdose vielleicht. Wie er es dreht. Er sucht den Stempel – da hat er ihn gefunden. Jetzt fühlt er sich als Experte. Ein Döschen aus Silber, und dieses blaue Glas, wie er mit dem Finger darüberfährt, als wäre er unsicher, ob es wirklich Glas ist. Es ist Glas, Kobaltglas. Und das weiße Pulver – er hält es für einen Zuckerrest.
Ich sehe genau, ob einer kaufen will. Wenn einer kaufen will, blickt er auf und sucht mich. Wenn nicht, hält er den Kopf gesenkt, aus Angst, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Dieser hier schwankt noch. Einmal hat er aufgesehen, aber sich gleich wieder geduckt. Ich lasse ihn ein bisschen zappeln, er muss sich erst an den Gedanken gewöhnen, den Gegenstand zu besitzen. Darum kaufen nämlich meine Kunden. Sie wollen jemand sein, der ein einzigartiges Ding besitzt. Zum Beispiel jemand mit einem ganz besonderen Zuckerdöschen, einem, wie es nur höchst selten vorkommt, einem aus echtem Silber. Nur ist es keine Zuckerdose, aber selbst, wenn es eine wäre, stünde sie bei diesem hier bald nur in der Vitrine oder weit hinten im obersten Küchenschrank. Deshalb braucht er Zeit, um sich vorzustellen, wie es ist, mit dieser Dose zu leben. Wer besitzt so etwas?, fragt er sich. Und ob er so ein Jemand sein will.
Als nächstes wird er die Dose zurückstellen und die Unterlippe abschätzig herunterziehen. Dann wird er noch eine Runde drehen, vor dem Bild mit dem bloßfüßigen Mädchen stehen bleiben, das sich im Schatten unter einem Bauernhaus ausruht – alle halten davor zumindest einige Sekunden lang –, er wird mit den Fingern die moosfarbene Vase berühren, nicht ohne sich versichert zu haben, dass ich ihn nicht beobachte – dabei muss ich gar nicht hinsehen, alle wollen wissen, ob sie aus Glas oder Ton ist –, und am Ende wird er hier bei mir vorbeikommen und mir Grüß Gott sagen. Dann werde ich den Gruß im Sitzen erwidern und ihn, gerade wenn er wieder bei seiner Dose sein wird, ansprechen. Ich muss ihm ja sagen, womit er sich gerade anfreundet, dass es ein einzigartiges Stück ist.
Und da ist er schon bei dem Mädchen. Lange bleibt der stehen, sehr lange, das muss schon eine halbe Minute sein. Geht ganz nah heran. Er will zeigen, dass er etwas von Malerei versteht. Er begutachtet den Pinselstrich. Dabei sagt der ihm eigentlich nichts. Die Farbe ist dünn aufgetragen, man sieht das Gewebe der Leinwand durchscheinen. Aber was kümmert ihn das? Er wäre gerne jemand, den so etwas fasziniert. Deshalb kneift er die Augen zusammen, deshalb versenkt er sein Auge in das Auge des Mädchens. Jetzt geht er einen Schritt zurück, stolpert gegen die Teller. Wenn er etwas herunterwirft, darf er zahlen. Schade. Einmal habe ich einen gehabt, der hat sich die Hände um die Augen gelegt wie einen Operngucker, angeblich um die Farben besser zu sehen. Das macht dieser hier nicht. Was habe ich gesagt? Er berührt die Vase, jetzt riecht er hinein. Was soll ihm das sagen? Er hat nicht einmal geschaut, ob ich aufpasse. Es macht ihm nichts, dass ich ihn sehe, er will gesehen werden.
Grüß Sie, der Herr. Sehen Sie sich ruhig um, lassen Sie sich Zeit.
Er hat es schon im Blick. Schlendert drauflos, beiläufig. Nicht schlecht, es sieht fast echt aus. Aber er will es, er hat mich gegrüßt, er will, dass ich ihm folge. Von selbst kauft er es nicht. Er will überredet werden, ich soll ihm das Fässchen schmackhaft machen. Ein schönes Stück, nicht? Wissen Sie, was das ist? Es ist ein Salzfass. Englisches Silber, Kobaltglas. Da haben Sie den laufenden Löwen, aber den haben Sie sicher schon gesehen. Der Glaseinsatz ist original, das ist selten, oft fehlt er oder wurde ersetzt. Das Schlichte gefällt Ihnen? Oft sind zu viele Ornamente, das stimmt, eine schöne Qualitätsarbeit. 1916, das erkennen Sie an dem Q. Was stellen Sie sich denn vor? Fünfzig? Da werden wir uns nicht einigen. Der Silberwert ist in diesem Fall nicht entscheidend. Das Wichtigste habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt: Zu dem Fass gibt es eine Geschichte. Sehen Sie diesen weißlichen Rückstand? Das ist kein Salz, auch kein Schaden. Das ist etwas ganz anderes. Dieses Stück hat für mich sentimentalen Wert. Es war als einziges schon hier, als ich das Geschäft übernommen habe. Händlerin bin ich schon seit über dreißig Jahren, aber das ist mein erster eigener Laden, ich habe ihn erst seit letztem Herbst. Der vorherige Besitzer ist verschwunden, untergetaucht, hat man mir gesagt. War einfach weg, von einem Tag zum anderen. Der war selber ein Händler. Maurice Demel hieß er. Wie die Konditorei, hat aber mit der Konditorei nichts zu tun. Sein Vater handelte auch mit Antiquitäten, von ihm hat er den Betrieb übernommen. Ein junger hübscher Bursche war dieser Maurice. Da oben das Bild, das ist er. Wie er das Haar trägt, daran erkennt man, dass er Wert auf sein Äußeres gelegt hat. Wie Seide glänzt das, nicht? Da haben Sie recht, vielleicht etwas vom Maler geschönt, das mag sein. Hübsch muss er trotzdem gewesen sein. Jedenfalls war hier alles leer geräumt, das Lager leer, der Geschäftsraum ganz leer. Ich habe hier alles selbst eingebaut, die Theke, die Vitrinen, die Regale. Nur dieses Salzfass war hier. Mitten im Lager stand es. Nicht einmal versteckt, ganz so, als hätte er es noch mitnehmen wollen. Natürlich hätte jemand wie er so ein Stück nicht einfach stehen lassen, aber es hat eben so gewirkt. So verloren. Einsam stand es im Raum, man hatte beinahe Mitleid mit dem Ding. Jetzt ist es ja bei mir. Insofern ist es aber eben mein erstes Stück. Erst seit dieser Woche habe ich es über mich gebracht, es in den Verkaufsraum zu stellen, sonst wäre es längst verkauft, versteht sich. So ein besonderes Stück. Ich bekomme auch ständig Angebote, aber Sie begreifen sicher, dass ich daran hänge und es nicht einfach dem Erstbesten für den üblichen Preis gebe. Sicher, als Händlerin darf ich nicht an den Dingen hängen. Es ist auch wirklich eine Ausnahme, und schließlich habe ich mich ja dazu durchgerungen, es zu verkaufen. Trotzdem werden Sie mir preislich noch einiges entgegenkommen müssen, fürchte ich.
Verstehe. Nein wirklich, das verstehe ich: Der ideelle Wert, den das Stück für mich hat, erhöht nicht den, den es für Sie hat. Ich finde aber schon, dass es etwas anderes ist. Stellen Sie sich einmal vor, ich hätte das Salzfass auf E-Bay ersteigert, und es wäre vor einer Woche aus England angekommen. Sagen wir aus Chester, weil das Silber von dort stammt. Natürlich hätte es dann auch eine Geschichte, aber die würden Sie nicht kennen. Sie würden sie auch nie erfahren. Und wenn Sie dann jemand auf das Salzfass anspricht, dann könnten Sie nur sagen: aus England. Das macht doch einen Unterschied, auch für Sie, finden Sie nicht?
Vielleicht muss ich Ihnen noch ein bisschen mehr verraten, damit Sie einsehen, womit Sie es zu tun haben. Die Geschichte endet selbstverständlich nicht damit, dass ich das Fass unter mysteriösen Umständen finde. Das war sozusagen nur der Funke, der die Lunte in Brand gesetzt hat. Wir Händler sind neugierige Leute, wir wollen die Dinge kennen. Verstehen Sie? Nicht nur wissen, was es ist, woraus es gemacht ist, wie es gemacht ist. Wir wollen wissen, was die Dinge erlebt haben. Die Biografie der Dinge wollen wir kennen, wie die eines Menschen. Den Charakter der Dinge verstehen, darum geht es. Ich habe einen Knopf, ein unscheinbares Ding aus dunkler Buche. Der hat etwas erlebt, das können Sie sich nicht vorstellen. Ein widerspenstiges Kerlchen ist der. Ursprünglich gehörte er zu einem Mantel Hugo von Hofmannsthals, aber der wollte ihn nicht mehr, weil er immer abfiel. Zuerst hat er ihn natürlich annähen lassen. Doch der Knopf ist einfach wieder ab, und Hofmannsthal ließ ihn noch mal annähen. Viele Male ging das so, jedes Mal brachte Hofmannsthal den Mantel zur selben Schneiderin. Das weiß ich, weil alles Spuren hinterlässt: Ich habe die Rechnungen, habe ein altes Foto von dem Mantel. Alles ist fein säuberlich dokumentiert. Eines Tages reichte es dem alten Hugo und er wollte einen neuen Knopf. Die Schneiderin versicherte ihm, mit dem Knopf sei alles in Ordnung, wahrscheinlich sei der Mantel verschnitten, sie könne ihn gerne ändern und so weiter. Aber Hofmannsthal schwor, es liege am Knopf selbst und trug ihr auf, den Knopf zu ersetzen und den alten zu verbrennen. Verbrennen hat er gesagt. Woher ich das weiß? Wie gesagt, alles hinterlässt Spuren. Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen nachher. Es gibt Briefe, nicht gerade über dieses Gespräch, aber Sie können mir ruhig glauben. Jedenfalls tauschte die Schneiderin den Knopf, aber sie verbrannte ihn nicht, sie bewahrte ihn in einer Holzschatulle auf, zusammen mit den Rechnungen und mit einer Fotografie von Hofmannsthal in dem Mantel. Die hat gewusst, was sie da hat. Ein paar Jahre später starb Hofmannsthal, der ist ja nicht so alt geworden, keine sechzig. Und die Schneiderin verkaufte den Knopf an einen Sammler, zusammen mit der ganzen Dokumentation. An dem Knopf hat sie natürlich mehr verdient als an all den Reparaturen zusammen. Das hat sie schlau angestellt. Bei dem Sammler wollte der Knopf allerdings auch nicht bleiben. Vielleicht, weil er so unscheinbar ist. Die Unscheinbaren wollen immer viel. Er ist ja nicht verziert, überhaupt sieht er nach nichts aus. Vier Löcher, rund, wie ein Knopf eben. Etwas gewölbt ist er, so wie viele Knöpfe, damit sie nicht durchrutschen. Dieser Sammler war übrigens nicht irgendwer, der war auch ein Künstler, ein Musiker. Sie wissen es schon: Richard Strauß. Der ist nämlich alt geworden, über achtzig. Wie Sie sich auskennen! Jetzt hatte der Knopf schon zwei Menschen überlebt, aber für ihn war das gewissermaßen erst die Jugend. Sein Leben hatte gerade erst begonnen und auch heute ist er doch eigentlich noch jung. Zumindest der Möglichkeit nach. So ein Knopf stirbt ja nicht. Er kann schon, aber er muss lange nicht. Eventuell geht er verloren, wird bei einem Brand zerstört oder er schimmelt, durch falsche Lagerung. Aber womöglich gibt es ihn noch in tausend Jahren, man kann es nicht wissen.
Ich sehe schon, ich habe mich ein bisschen verstiegen. Weil mir der Knopf eben sympathisch ist, er ist wie ein Freund, ein guter Kerl ist er. Sie verstehen jetzt, was ich mit Charakter meine. Aus dem Leben des Knopfes könnte ich Ihnen noch einiges erzählen. Das Salzfass ist freilich ein anderer Typus. Das Salzfass ist schweigsam und ernst. Man sieht schon an der Weise, wie ich in den Besitz des Fasses gelangt bin, dass es ein Einzelgänger ist. Das hat mich natürlich besonders neugierig gemacht. Ich habe mich gleich gefragt: Wie ist es so geworden? Ein Salzfass ist ja zunächst ein geselliger Gegenstand. Eindeutig, schon der Funktion nach. Es steht am Tisch, dort wo gegessen wird, getrunken und gelacht. Dieses hier war sogar Teil eines Sets. Das kommt recht häufig vor. Aber ich habe es allein gefunden. Was mit seinem Bruder passiert ist? Leider, das muss ich Ihnen gleich sagen, habe ich auf diese Fragen keine Antworten finden können. Noch nicht. Es ist nicht nur einsam, sondern auch verschlossen. Wie meinen? Ja, das geht oft Hand in Hand, Sie sagen es. Jedenfalls, wenn ich auch nicht weiß, warum das Salzfass geworden ist, wie es nun einmal ist, kann ich Ihnen versichern, dass ich zum Zeitpunkt meiner Geschäftsübernahme das Ausmaß seiner Unduldsamkeit gegen jede Konkurrenz, seiner Kompromisslosigkeit und seiner Standhaftigkeit noch nicht einmal annähernd richtig eingeschätzt hatte. Noch hielt ich es für einen Eigenbrötler. Wissen Sie? Für einen alten Mann: griesgrämig, doch im Grunde gutmütig. Nur ist dieses Salzfass eher ein Genie, ein altes Genie, göttlich in der Kunst und im Leben unerträglich. Ein Klischee? Wenn Sie meinen. Ich beschreibe es nur so, wie es mir gegeben ist. Ich bin kein Hofmannsthal. Sie wissen doch, was ich meine. Nicht? Dann lassen Sie es mich anders versuchen. Sie haben Zeit? Nicht ewig? Dann komme ich gleich zur Sache. Sonst hätte ich Ihnen noch vom Vater von Maurice erzählt: August Demel. Es genügt, wenn Sie wissen, dass er ein Händler war, der zu früh gestorben ist. Seinem Sohn hat er bereits im Knabenalter alles beigebracht, was er über Antiquitätenhandel wusste. Er hat ihn auf die Märkte mitgenommen, auf die Auktionen im Dorotheum und sogar in die perserverlegten Wohnungen des Wiener Bürgertums, die noch der Leichengeruch der kürzlich darin Verstorbenen durchwehte.
Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters hatte sich Maurice bereits in den Geschäftsalltag eingelebt. Obwohl der Vater ihm zusätzlich zum Lager und dem Geschäftsraum im ersten Bezirk ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hatte, machte er alles selbst: Inventar, Buchhaltung, Verkauf. Sogar die Website. Diese Generation ist gut in solchen Dingen, wissen Sie. Die haben schon als Kinder mit Computern gespielt. Und damals waren die Computer noch umständlicher zu bedienen. Maurice las also auch den Auftrag selbst. Es ging um einen Nachlass, um eine der besagten Wohnungen, voll möbliert, übermöbliert. Er hat die Adresse gesehen, Essiggasse 2, und wusste Bescheid. Das ist schräg gegenüber, genau, manchmal hat man Glück. Er bestätigte den Auftrag und vereinbarte noch für denselben Nachmittag einen Termin.
Maurice läutete bei Fleck, der Name war im Auftrag angegeben. Es war nicht die oberste Wohnung, weil der Dachboden ausgebaut worden war. Trotzdem, immerhin dritter Stock mit Mezzanin. Jemand sagte Guten Tag, öffnete, und Maurice ging die Stufen hinauf. Lift gab es keinen, der Transport würde teuer werden. Händler rechnen das gleich alles mit und überschlagen die Kosten im Kopf. Das spielt natürlich eine Rolle beim Preis. Das Gute für uns ist, die Erben wollen meistens die Wohnung leer haben und sind froh, wenn ihnen die Sachen überhaupt jemand abnimmt. Im Stiegenhaus kam Maurice eine Frau entgegen und lächelte ihn an. Das war er gewohnt. Er behielt sie nur in Erinnerung, weil ihr Gang etwas Besonderes hatte. Sie hüpfte die Stufen hinunter, in einer Art Galopp. Die Schritte hallten auf den Stufen und erzeugten einen eigentümlichen Rhythmus: eine Folge schneller Schläge, gefolgt von einer Pause, wie ein Ausholen und ein Schlagen, wie wenn man Murmeln gegen die Wand rollt und sofort wieder einfängt. Fast wäre Maurice hinauf zum Dach gegangen, doch eine sich öffnende Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Mann stand in der Tür, der jugendliche und greisenhafte Züge eigentümlich vereinte. Seine Backen waren glatt und leuchteten apfelrot, aber er stand gebückt, und die Augen steckten tief in ihren Höhlen.
»Herr Demel?«, fragte der Mann.
Maurice schüttelte ihm die Hand. »Guten Tag, Herr Fleck.«
Herr Fleck machte einen Schritt in die Wohnung und wartete, bis Maurice das Vorzimmer betreten hatte, bevor er die Türe hinter ihm schloss. Das Vorzimmer sah aus, wie es Maurice erwartet hatte: zu viele dunkle Holzmöbel, die Tapeten mit bleichen Aquarellen übersät – trotzdem hatte er schon vollere Wohnungen gesehen. Wahrscheinlich hatte die Familie bereits das eine oder andere mitgenommen. Normalerweise klopfen sich die Angehörigen die Brillanten heraus, bevor sie uns anrufen.
»Sind Sie der Erbe?«, fragte Maurice.
Herr Fleck nickte. Maurice sprach sein Beileid aus und bat, sich umsehen zu dürfen. Die Wohnung war groß und fast jeder Quadratmeter von dunkelroten Perserteppichen bedeckt. Darunter lag ein vom Staub ergrauter Teppichboden, der einmal erbsengrün gewesen sein dürfte. Einige kleinere Persianer fehlten; wahrscheinlich die hellen, die waren wieder in Mode, ganz im Gegensatz zu den dunklen. Wo sie gelegen hatten, leuchteten Rechtecke in der ursprünglichen Bodenfarbe. Wenn man alle Teppiche aus der Wohnung geschafft hätte, würden die Abdrücke ein Muster ergeben. Die Möbel waren zum großen Teil alt, ein bisschen Ikea, ein bisschen Neuware, das eine oder andere Designerstück. Alles stand ungeordnet nebeneinander: eine Biedermeier-Kommode neben einem Landhaus-Bett und ein Thonetstuhl an einem Schreibtisch aus den Siebzigern. Übrigens war der Schreibtisch wertvoller als der Stuhl, von diesen Stühlen gibt es ja sehr viele, die frühen sind ein bisschen was wert. In einer Glasvitrine stand Porzellan, sogar etwas Augarten. Davon war mit Sicherheit mehr dagewesen und man hatte nur einige Stücke hiergelassen, damit der Nachlass eine gewisse Würze behalte.
Maurice berührte mit der Nasenspitze das Vitrinenglas. »Sie wollen die Wohnung leer haben, ja?« Er drehte sich zu Herrn Fleck. »Oder verkaufen Sie auch einzelne Stücke?« Am liebsten hätte er natürlich nur einige Stücke genommen.
»Ja«, sagte Herr Fleck. »Also nein. Wenn Sie alles nehmen würden, wäre das ideal. Der Rest käme sowieso weg.«
»Das muss ich dann aber einrechnen, das ist Ihnen klar? So eine Räumung ist nicht billig. Dritter Stock ohne Lift.«
»Was würden Sie denn geben, für alles, Räumung eingerechnet?« Herr Fleck sah zum Augarten-Porzellan in der Vitrine, als erhoffte er sich, es würde Maurice aufmunternd zunicken.
»Auf die Schnelle schwer zu sagen. Es sind schöne Stücke dabei, aber die Wohnung ist voll und das meiste ist nichts.«
»Wollen Sie ein Glas Wasser? Entschuldigung, ich habe gar nicht gefragt.« Herr Fleck drehte sich schon Richtung Küche. »Oder einen Kaffee. Es gibt auch eine Kaffeemaschine. Gar keine schlechte, eine DeLonghi, die war in den Achtzigern sehr teuer. Mein Opa hat Kaffee geliebt. Er hat eine Zeit lang in Rom bei der Botschaft gearbeitet.«
»Gerne ein Wasser«, sagte Maurice.
Herr Fleck griff sich an den Mund, als hätte er etwas vergessen. Dann nahm er zwei Gläser von der Bar und ging sie auffüllen. Maurice nutzte die Zeit, um den Vitrineninhalt zu schätzen. Ein paar Sammlertassen von geringem Wert, aber die Augarten-Väschen waren schön, in gutem Zustand und modern gestaltet. So etwas ging weg wie nichts, also konnte er sich die Kunden quasi aussuchen und damit auch den Preis. Mit dem Wert eines Gegenstandes ist es immer so eine Sache. Wenn man den richtigen Kunden hat, spielt der gar keine so große Rolle. Aus Sicht des Händlers gibt es die meisten Stücke oft. Für den Kunden ist es anders. Der Kunde begegnet einem Stück zum ersten Mal und wenn er es mag, dann ist die Frage nur noch, was er zu zahlen bereit ist. Er darf nur nicht das Gefühl bekommen, übers Ohr gehauen zu werden. Ein Kunde, der weiß, was er kriegt, zahlt einen guten Preis und lacht dabei.
»Können Sie schon eine Größenordnung sagen?«, fragte Herr Fleck und drückte Maurice das Wasserglas in die Hand.
»Seriöserweise nicht«, sagte Maurice, nahm einen Schluck von dem Wasser und stellte das Glas in ein Bücherregal. »Es ist ein großer Nachlass. Ich muss alles einzeln schätzen, und dann rechne ich es mit den Räumungskosten gegen.«
»Aber mit was darf ich rechnen: fünfstellig?«
Maurice riss die Augen demonstrativ auf. »Es kann sein, dass kaum etwas übrig bleibt.«
Herr Fleck verfiel.
»Es muss nicht sein«, sagte Maurice, um dem Verfall entgegenzuwirken, »es kann sein. Ich weiß ja nicht, was sich noch alles findet. Einmal habe ich bei einem Nachlass im letzten Schrank ein Schmuckkästchen gefunden, das allein war so viel wert wie alles andere zusammen. Darin war nämlich eine Feuergranatbrosche, neunzehntes Jahrhundert, böhmischer Schliff. Ein atemberaubendes Stück.«
Herr Fleck stützte sich auf dem Lederfauteuil ab und stürzte sein Wasser herunter. »Für nichts verkaufe ich den Nachlass nicht, das sage ich Ihnen gleich.«
»Mehr als nichts bekommen Sie auf jeden Fall. Die Räumungskosten sind allerdings mit etwa dreitausend Euro zu veranschlagen.« Maurice zeigte Herrn Fleck die gespreizten Handflächen und senkte sie. »Warten Sie erst einmal ab. Man soll sich nicht verrückt machen, bevor man überhaupt die Fakten kennt.«
Am Ende einigten sie sich auf zwölfhundert Euro. Sicherlich weniger als Herr Fleck sich erhofft hatte, aber Maurice hatte ihm klar gemacht, dass ein anderer ihm nicht mehr geben würde. Er hatte ihm offen gesagt, dass er mehr kriegen könne, wenn er alles selbst verkaufen würde, aber erwartungsgemäß war Herr Fleck erleichtert, die Wohnung leer zu bekommen und sogar noch etwas zu kassieren. Kunden hängen oft an den Erbstücken, aber nicht so richtig. Sie fühlen sich den Dingen gegenüber verpflichtet, aber vor allem wollen sie sie auf unanstößige Art loswerden. Die Händler bekommen die Stücke billig, weil sie versichern, ein gutes Plätzchen für sie zu finden. Der Kunde ist beruhigt und kann seine Wohnung vermieten.
Herr Fleck war sogar so zufrieden, dass er Maurice in der folgenden Woche im Geschäftsraum besuchte, um sich zu bedanken. Zumindest sagte er das. Er stand ungefähr da, wo Sie jetzt stehen. Damals war hier eine Sitzecke, zierliches Biedermeier, zwei gepolsterte Stühle und eine Bank.
Tasuta katkend on lõppenud.