Mariedl

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Zum Buch

Das größte Weib, das je gelebt hat – so wird Mariedl, geboren 1879, bezeichnet. Bereits in der Pubertät erreicht sie eine Größe von 2,17 m. Eigentlich träumt sie von einer eigenen Familie, doch welcher Mann liebt schon eine Riesin? Das Mädchen hat immer Hunger und kann von ihrer armen Bergbauernfamilie kaum ernährt werden. Doch sie hat Glück, denn eines Tages taucht Melchior Balthusi auf – ein Schaubudenbesitzer, der die sanfte Mariedl in die weite Welt entführt …

Sophie Reyer

Mariedl

Die Riesin von Tirol


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Südtiroler Landesregierung


© Edition Raetia, Bozen 2020

1. Auflage

Grafik Umschlag: Dall’O & Freunde

Foto Umschlag: Sammlung Paul Felizetti

Grafisches Konzept und Druckvorstufe: Typoplus

Lektorat: Verena Zankl

Korrektur: Helene Dorner

ISBN 978-88-7283-739-9

e-ISBN: 978-88-7283-752-8

Der Verlag bedankt sich bei Samantha Schneider und Inga Hosp, die mit ihrem Buch „Die Riesin von Ridnaun. Abnormitäten, Kuriositäten, Schaustellungen“ (Edition Raetia 2001) die Grundlage für diesen Roman geschaffen haben.

Anregungen an info@raetia.com

Unser gesamtes Programm finden Sie unter www.raetia.com.

Inhalt

1.Prolog

2.Riese Landschaft: Ridnaun

3.Großer Großvater

4.Die erste Schuld

5.Große Pulte für große Mädchen

6.Maria und die Kühe

7.Im Volksblatt

8.Es geht weiter

9.Pfarrer Engl

10.Die Sprache der Musik, die Sprache der Wissenschaft

11.Der gütige Arzt

12.Endlich ein Bett!

13.Maria wird berühmt

14.Die große Stadt

15.Rita und die große Show

16.Mariedl und der erste Auftritt

17.Weiterreisen

18.Eroberungen

19.Alte Liebe

20.Kolossale Freaks

21.Verlorene Lieben

22.Hamburg

23.Eine besondere Show

24.Clive Darril

25.Schlagzeilen

26.Man kommt sich näher

27.Wurstlprater, Fixstarter

28.Riesin Brummbär

29.Seekrank

30.Mariedl und die Musik

31.Das London Hippodrome

32.Kastanien und Kürbisse

33.Der Sturz

34.Der Besitzer wird wütend

35.Ein echter Heiratsantrag

36.Neues Terrain

37.Automobilwerbung

38.Manchester

39.Hull

40.OXO

41.Back home

42.Heimat und weiter

43.Zurück in Berlin

44.Hannover

45.Wer nicht wagt

46.Bremen

47.Mariedls Geschenk

48.Immer noch

49.Altern

1. Prolog

Eine Riesin, werden sie später sagen. Und zugegeben: Das hört sich gut an – Mariedl, die Riesin. Die Riesin von Ridnaun! Wohlklingend, nicht wahr? Tritt um die Jahrhundertwende einfach als Schaustellerin, Gauklerin auf – und das als Frau! Und diese großen Hände, die massigen Füße, der Körper, der sich in einem normalen Menschenbett krümmen müsste, kaum zur Ruhe käme! Exotisch, finden Sie nicht, nein? Im Gedächtnis der Menschen wird sie bleiben, diese Mariedl. Die Monsterfrau mit ihren zwei Komma siebenundzwanzig Metern! Ungewöhnlich, wird man sagen.

Und so mancher Voyeur erfreut sich an ihren Geschichten. Die Zirkusqueen, die da in Tiroler Tracht auftritt, der Freak mit den großen, langen Armen, die da so herabbaumeln, als wären sie Fremdkörper. Ja, im Wiener Prater wird sie viele Jahre später noch zu finden sein, in Wachs gebannt, diese Dame. Und ist sie auch nicht die größte Frau der Welt: Maria ist zumindest eine Frau von Welt! Wen wundert es da, dass die Erinnerungen an sie noch heute wach sind in dem kleinen Südtiroler Tal?

Was heute noch wirklich greifbar ist von ihr, ist zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Werbeannoncen zu verdanken. Aber wie viel davon stimmt wirklich? Und könnten sich die Dinge vielleicht doch ein wenig anders zugetragen haben? Wer war die Riesin von Ridnaun? Und vor allem: Wie? Wie war diese Mariedl, abgesehen von ihrer Größe?

Vielleicht gibt es eine Antwort hier in der morgendlich schlafenden Landschaft von Ridnaun, deren Bergriesen friedlich daliegen wie eh und je. Wir müssen auf die Reise gehen: dorthin, wo alles beginnt.

2. Riese Landschaft: Ridnaun

Des Morgens scheint die Landschaft zu schlafen, wenn sich die Schwere des Sommers über sie senkt. Hin und wieder kreuzt ein Vogel mit zackigem Flug das Firmament, es wippen und zittern die Gräser der Weiden und Wiesen im leichten Wind, der sie streichelt, kaum merklich das Gras frisiert: Ridnaun. So liegt es da, das Tal, schlummert in den Morgenstunden vor sich hin, nordwestlich von Sterzing in Südtirol. Hohe, bewaldete Gebirgsketten ragen schroff in den Sommerhimmel hinein, hier und da ist einer der spitzen Gipfel von Schnee und Eis überzuckert. Über achtzehn Kilometer erstreckt sich die Region, umfasst mehrere Dörfer. Da wird es später über Gasteig weiter nach Stange, Mareit, Ridnaun und Maiern gehen – und würde man die nördliche Seite des Schachts betreten, so würde man in Telfes ankommen. Jetzt aber liegt der Riese Landschaft, der stetig anwächst, bloß schlafend da und begrüßt den Morgen.

Wir schreiben das Jahr 1879, und Ridnaun ist eine kleine Gemeinde im hintersten Teil des Tales. Der kleine Ort neben Maiern erwacht gerade zum Leben. Und siehe: Bald schon krähen die ersten Hähne, sickert der Tau in den Boden, beginnt die Sonne, noch ein orangeroter Ball, immer höher zu steigen. Kostbar sind diese Morgenstunden, so wissen die Bewohner des Dörfchens: Die Arbeit ruft! Die Landschaft will beackert, das Vieh auf die Weide getrieben werden!

Man lebt hier von der Landwirtschaft, Viehzucht, Milchwirtschaft – und hin und wieder verliert sich der eine oder andere Arbeiter auch im Bergwerk am Schneeberg, wo, so munkelt man, angeblich die Zwerge leben! Ehrlich! Und darum habe man dort, so erzählen die Bewohner des Dorfes, vom 13. bis zum 15. Jahrhundert sogar Silber abgebaut.

 

Menschliche Riesen hat im Tal lange Zeit keiner gesehen. Dann jedoch kommt die Maria.

Es ist also ein Sommer, in dem alles anfängt. Ein Sommer, in dem der Wind hinter dem Haus das Gras peitscht. Wie ein wilder Gesang klingt es, die Tage riechen nach Stroh, Hitze und Arbeit. Der Vater, ein einfacher Bauer, befindet sich gerade mit dem Hund beim Vieh. Er ist ein kleiner rothaariger Mann, der Josef genannt wird. Josef, der Rote. „Der Rote hat gut getanzt“, sagt man im Dorf gerne über ihn.

Josef Faßnauer ist also mit dem Hund unterwegs, als seine Frau Theresia niederkommt.

Im Garten tummeln sich die Kühe. Im Haus ein Schrei, der sich verdoppelt. Neues Leben, zwischen den Lenden der Theresia Faßnauer herausgerutscht.

„Ein Mädchen!“, hört man die Stimme der Hebamme.

Theresia Faßnauer verdreht nicht die Augen. Josef, Bauer und Hofbesitzer, ist ein guter Mann. Er wartet nicht auf einen Buben für den Hof. Er liebt Mädchen. Er schweigt gerne und seine Augen schimmern vor Güte. Manch einer im Dorf hänselt ihn wegen seiner roten Haare, doch das ist ihr egal. Denn die Hände dieses Bauern Josef sind wie Teig, und eine gute Partie ist er obendrein; die Kapelle des Dorfes wird von ihm betreut und beschützt die ganze Familie. Sie ist der Maria Schnee geweiht. Und so wird auch das Kind heißen, weiß Theresia längst schon: Maria!

Theresia dreht den Kopf, auf dem ein zarter Schweißfilm glänzt, zur Seite. Ihre Finger strecken sich langsam in die Luft, greifen nach dem Wesen, das man ihr überreicht. Runzelig und ein wenig hässlich sieht es aus, verschrumpelt. Sie seufzt, schließt die Augen.

Da kommt Josef nach Hause, tritt keuchend an seine Frau heran, Schweiß auch auf seinem Haupt. Er wischt ihn von der Stirn. Die Hitze drückt. Schlafend liegt die Kammer da, in diesem Haus im hintersten Teil des Ridnauntals, das von den Riesen der Gebirge umgeben ist. Es liegt an der Schattenseite.

„Maria!“, sagt Theresia da und lächelt Josef an.

Das Kind aber schreit und schreit, hat weder Ablehnung noch Zustimmung in sich, da ist nur Helligkeit, ein Zuviel an Welt, das den Blick sticht. Denn anstrengend ist es zu beginnen. Eben noch hat eine Blase aus schummriger Düsternis und Wärme Maria umgeben, und dann das! Dieses Lärmen und Tönen um sie, diese vielen Farben! Maria schreit, sie weint, während die Nabelschnur abgeschnitten wird und man sie, kleines Bündelchen, in Theresias Arme legt.

Die Mutter streicht dem Kind über den zarten Kopf, lächelt.

„Maria“, wiederholt sie wispernd.

Josef lächelt.

„Weib!“, sagt er zufrieden. Einfach nur: „Weib!“

Er setzt sich an die Kante des Bettes, hält ein wenig Theresias Hand. In seinem Gesicht schläft die Güte der Landschaft, die hinterm Haus beginnt: das große Schweigen, die sprachlose Wildheit des Grases, wenn Gewitter und Hagelkörner es aufwühlen. Da ruht der Stein, der Fisch im schlammigen Teich, der hinter der Landstraße liegt. Ein großer Friede ist in seinem Gesicht.

Theresia Faßnauer wird müde. Das Kind schreit. Es ist der Schmerz, am Leben zu sein.

Der bellende Hund läuft dem Roten nach in die Stube, kläfft laut. Das Brüllen des winzigen, faltigen Bündels scheint ihn aufgeregt zu haben.

„Ruhig“, sagt Josef und fährt liebevoll mit der flachen Hand über dessen Kopf, wieder und wieder. Die Kuppen streichen, der Blick geht ins Leere.

Als er in das Zimmer zurückkehrt, zuckt auf seinem Mund erneut ein Lächeln auf, während er das Kind betrachtet, das neben der Frau auf dem Bett liegt.

Der Hund beruhigt sich. Seine rosige Zunge lappt aus dem Mund, er hechelt. Unter den Händen spürt Josef das Zwerchfell pochen. Er krault den Nacken des Tieres, greift dann nach dem Kind. Auch das Schreiende pocht, pulsiert vor Leben. Als wäre die Dichtigkeit der Welt für diesen kleinen Körper zu viel, denkt Josef.

„Was sagst?“, fragt Theresia mit matter Stimme.

„Gut hast das g’macht!“, sagt Josef.

„Ich weiß“, sagt Theresia.

Normalerweise ist sie eine geschwätzige Frau. Wie die Weiber aus dem Dorf liebt sie das Leiern der Rosenkränze, den Tratsch, den man auf der Parkbank hinterm Bauernhaus des Abends gern treibt, wenn Tau das Gras benetzt. Doch die Geburt hat sie erschöpft.

Für einen Moment herrscht Stille zwischen ihnen.

Josef, der stets mit allem zufrieden ist, lächelt wieder.

„Moidl“, meint er dann zärtlich und fährt über den hellen Haarflaum, der den Schädel des Kindes überzieht.

Theresia nickt.

„Moidl, ja, eine kleine Heilige!“

So ist es beschlossen.

Dann wird es wieder still zwischen den beiden. Nur der Wind pfeift von den Riesen der Gebirge zu ihnen her und durch das Hoffenster herein. Mehr nicht. Es ist eine Vertrautheit zwischen ihnen, eine Seligkeit, die nur zwischen Menschen liegen kann, die sich lieben.

Das Kind ist zwischen sie gebettet: Es hat einen inneren Frieden. Es ruht zwischen den Eltern in der sie umgebenden riesenhaften Landschaft. Maria ist geboren.

3. Großer Großvater

Es ist immer ein Wunder, wenn neues Leben wächst. Und doch geschieht es wie nebenher. Hände werden größer, Beine wachsen sich aus. Auch Marias. Gerade Marias. Moidl, wie die Ridnauner sie nennen.

In den ersten Jahren gestaltet sich Marias Dasein unaufgeregt. Die Familie lebt in bescheidenen Verhältnissen. Marias Sommer sind bestimmt durch das Spiel mit der Schwester Rosa, die ein wenig jünger ist als sie, und die Arbeit auf der Weide. Wehende Kleider, die um die Füße baumeln, sie streicheln, sich zart, gleichzeitig aufregend anfühlen. Aufregend wie das Kitzeln des Grases unter den Sohlen. Aufregend wie die Blase der Schweine, die beim Schlachten entnommen wird und mit der dann, während man das Fleisch auf dem Feuer grillt, Ball gespielt wird.

Spielen: Das ist es, was Maria und Rosa am liebsten tun. Oft läuft Rosa der Schwester hinterher, eine riesige Puppe aus Stroh mit sich schleppend. Sie spielen, die Mutter nachahmend, Hausmütterchen, mit einem Tuch um den Kopf. Schon damals ist eine tiefe Verbundenheit zwischen ihnen. Und das wird so bleiben. Auf allen zukünftigen Reisen wird Rosa die Riesenschwester begleiten. Jetzt aber ist diese blonde Kleine mit dem Puppengesicht selbst noch ein Kind. Und sie ist die Anführerin. Quirlig und aufmüpfig weiß sie um ihre Macht. Maria ist zwar größer, aber gutmütiger und ein wenig dumpf – sie lässt sich leicht manipulieren, sagt zu Rosas Ideen meist „Ja!“ und lächelt gütig.

Rosa ist eine Draufgängerin. Doch ihr Charme kompensiert.

„Wart!“, ruft sie der Maria nach, wenn die mit großen Schritten voraneilt, um des Nachmittags nach getaner Arbeit wieder ein wenig zu spielen.

Zum Brunnen vor der Kapelle zieht es sie. Für die Kinder ist es eine Weltreise; der Feldweg lang und gefährlich. Die Beine muss man einziehen, wenn Schlangen des Weges kriechen. An den Rand muss man flüchten, sobald einer der Gaukler mit einem Leiterwagerl kommt, oder eines der Pferde, deren Hufe laut rattern. Im Sommer zieren schneckenartig zusammengerollte Ballen aus Laub die Straße, sehen aus wie die Nussschnecken, die Maria nur zu Weihnachten zu essen bekommt. Rosas Füße laufen, straucheln, sie will unbedingt schneller sein. Maria drosselt ihr Tempo und folgt der Schwester zum Brunnen vor der Kapelle, beginnt eifrig zu schöpfen wie sie.

„Ich koch jetzt Suppe“, sagt Rosa. „Für den Vater.“

Maria nickt. Obwohl sie älter ist, lernt sie von der Schwester. Sie übernimmt: die Gesten, die Art zu gehen. Denn Rosa scheint viel sicherer zu sein!

So lässt Maria sich von Rosa, der sie doch an Größe und Stärke um einiges überlegen ist, auf einem kleineren Heuballen neben den Brunnen ziehen – wie das kratzt unter den Pobacken! Maria und Rosa klettern auf einen größeren Ballen und schlenkern mit den Beinen, sehen in die Ferne und trinken von dem Wasser, das ein bisschen lehmig schmeckt. Die Sonne brennt, die Hitze sticht.

Sonst geschieht nichts. Und das ist gut so, denn die Kinder sind müde. Hin und wieder ein Habicht am Himmel, der gurrende Schreie ausstößt.

Maria sieht in die Tiefe des Brunnens. Ihr ist ein wenig bang.

„Deine Füße sind viel kürzer als meine!“, sagt sie dann zu Rosa.

„Das macht nix“, meint die. „Dafür ist deine Nase flacher! Du gerätst eben nach dem Großvater.“

„Ja?“, meint Maria und betrachtet sich selbst zweifelnd. Manchmal kommt sie sich unendlich fremd vor, wenn sie ihre Glieder betrachtet: wie eigenartige Gebilde, die nicht zu ihr gehören.

„Iss, Moidl!“, meint da die Schwester und holt eine Semmel aus der Rocktasche und ein wenig Milch, die sie in ihrem Schürzchen verstaut hat.

Maria stopft Semmel und Milch in sich hinein, bis ihr schlecht wird, sich alles aufbauscht in ihrem Mund. Rosa ist angetan.

„Wie schnell du essen kannst!“, ruft sie.

Beschämt zuckt Maria mit den Achseln und kaut weiter. Essen ist immer gut. Ob es auch hilft gegen die Angst vor der Höhe auf dem Heuballen? Egal. Maria seufzt und entspannt sich. Rosa sitzt neben ihr und riecht nach Milch und Sonnenbrand.

In dem Moment hüpft etwas vom benachbarten Baum auf sie herab.

„Ein Kätzchen!“, ruft Rosa aus.

Maria betrachtet das kleine Bündel, das nun zwischen ihnen sitzt und leise maunzt.

„Wie herrlich!“, kommt es aus Maria, und sie betrachtet das Tier genau. Es muss gerade geboren worden sein! Es hat einen roten Gaumen und passt genau in eine Hand, so winzig und zart ist es, noch ganz ohne Fell, nur von einem Flaum bedeckt. Sie könnte es zerdrücken, denkt Maria – stattdessen aber will sie es wiegen und besonders gut zu ihm sein. Maria denkt, dass sie die Kätzchen lieb hat.

„Erzähl doch mehr vom Großvater!“, bittet sie Rosa, während sie das Tier hin und her schaukelt. Denn Rosa kann so gut erzählen, so unbedarft und hell ist ihre Stimme, und ihr Lachen perlt und kitzelt, fühlt sich an wie nieselnder Regen.

„Also, unser Ahnherr, das war ein rechter Hüne!“, meint Rosa wispernd.

Was die Rosa für Worte kennt!, denkt Maria. Bestimmt ist das so, weil sie dem Dorfpfarrer Engl besonders neugierig lauscht, sagt sie sich und geht in der Magie der Erzählung verloren, während es in ihren Armen schnurrt und summt. Hüne, das muss wohl ein großer Mann sein, oder?

„Der Großvater war ein wackerer Riese. Gegessen hat er wie ein Heudrescher, und er konnte, stell dir das vor, das Dach mit seinen Füßen heben. Ehrlich!“, fährt Rosa mit großen Augen fort.

Maria ist fasziniert. Sie betrachtet ihre eigenen Beine. So stark wäre sie auch gern!

„Erzähl weiter!“, bettelt sie, doch es ist zu spät – die Mutter kommt mit starken Schritten anmarschiert, die Hände in den Rocktaschen: „Abmarsch, Kinder, heut ist nix mehr mit Spielen!“

Enttäuscht verzieht Rosa die Lippen zu einem Strich.

„Warum?“, will sie greinend wissen.

„Genau!“, echot Maria mit der bassigen Stimme, die ihr eigen ist.

„Warum?“, fragen die Mädchen dann noch einmal im Chor.

Theresia seufzt und wischt sich die Hände, die noch ein wenig schmutzig vom Teig sind, an ihrem rot-weiß karierten Rock ab.

„Gäste gibt’s!“, erklärt sie lapidar.

Mit einem Stöhnen hüpft Rosa, gefolgt von der verträumt an den Großvater denkenden Maria, vom Heuballen und hastet hinter der Mutter her. Maria muss nicht hasten, ihre Beine sind fast so lang wie die der Mutter. Beeilen tut sie sich dennoch, aber bloß innerlich. Gäste – sie weiß, was das heißt! Denn ein neues Phänomen beginnt gerade im Ridnauntal Fuß zu fassen: der Fremdenverkehr.

Ausschlaggebend war die Eröffnung der Bahnlinie Bozen–Innsbruck. Maria hat sie schon einmal gesehen, und großen Respekt hat sie vor dem Schnarren und Rauschen des Zuges, dem Singen der Maschinen! Angeblich liegt es an diesem Monster, dieser Bahn, dass immer mehr Leute ins Tal kommen. Der Ausbau der Straße von Sterzing nach Mareit, die weiter nach Ridnaun führt, sowie die Eröffnung einer Gendarmeriestation und andere Neuerungen machen es den Besuchern leicht. Der Schwarm an Touristen bleibt nicht aus. Rundherum floriert es. Der Deutsche und der Österreichische Alpenverein organisieren in diesen Tagen durch die Errichtung von Schutzhütten und Wanderpfaden die Erschließung der Berge für die Gäste.

Immer wieder kehren Wandernde auch bei ihnen am Hof ein, kaufen Käse oder Milch, trinken etwas oder lassen sich von der Mutter bekochen. Dann helfen die beiden Töchter freilich stets brav aus. Vor allem Maria. Nie schimpft sie. Die Milchkannen, die Äpfel, das Laub. Wieder und wieder packen ihre Arme zu. Bereits jetzt schon, in frühen Jahren.

 

„Arbeiten kann die Moidl!“, sagt die Mutter dementsprechend anerkennend, kaum dass sie heimgekehrt sind, Kartoffeln zu schälen, um einen der Gäste zu bekochen. Maria lächelt, ihr Blick kippt beim Schneiden ein wenig nach innen, während die Mutter Öl in die Pfanne gießt.

Maria träumt von dem starken Großvater und ein wenig von der Sanftheit des Kätzchens. So ist auch dieser Sommertag ein guter Tag.

4. Die erste Schuld

So wächst es heran, dieses besondere Mädchen. Und zugegeben: Maria wächst schneller als die anderen. Im ersten Schuljahr ist Maria so groß wie die Kinder beim Ausschulen. Und manchmal macht ihre laute Stimme den Kindern richtig Angst.

Natürlich kennen alle im Dorf Maria, sie, der es so leichtfällt, auf Heuballen zu klettern, und die im Laufen alle mit Gelassenheit besiegt. Und die die Musik liebt, von Kindertagen an. Während die kecke Schwester Rosa des Nachmittags backt oder kocht, spielt Maria gern mit der Ziehharmonika, und manchmal summt sie dazu, sanft wie eine Hummel. Dann ist Maria wie verändert.

Wie ihr Haar im Wind fliegt, wie der Wind ihr über die Stirn streicht, wenn sie da am Hof sitzt! Ganz bei sich ist Maria da! Sie kostet den Wind. Den Wind, der sie mit seinen Lippen streift, der sie leckt, wieder und wieder.

Auch das sind die Sommer im Hof in den ersten Jahren, süßlich weiß, und die Steppe hinterm Haus flattert und flirrt nur so von Insekten. Ein Bild jagt das andere, die Welt stürzt in Maria hinein. In sie, das Riesenkind. Vor den flüchtigen Schatten der Bäume, die sich im Wind wiegen, zerrinnt die Welt. So gefällt es ihr.

Leer und friedlich ist es hier, nur Ebene und Boden, von dem Rauch aufsteigt. Allein der Sonnenaufgang macht die Welt bunt, übergießt sie mit einer orangenen, vor Schönheit fremden Glut.

Und diese Luft! Maria trinkt so gern die Luft. Wie voll sie ist, erfüllt von sich! Der Tag, an dem man nicht arbeitet, scheint dann unendlich lang, die Stunden des Sommers bröckeln nur so dahin in der Hitze, und Musik ist das Einzige, das gegen die Langeweile hilft. Aber die Langeweile macht Maria keine Angst. Denn alles scheint aufgehoben zu sein in sich selbst. Und Maria kann beobachten, was sie will. Kann lange Zeit still halten. Wie ein Baum steht sie manchmal einfach bloß da in der sirrenden Landschaft, sieht die Dichtigkeit der Welt an, die sie umgibt. Da schläft ein Gänslein im Schatten des Baumes. Da sitzt eine Fliege, reglos. So, als würde sie einfach nur auf ihren Tod warten. Oder? Maria lernt die Ruhe von der Fliege.

„Träumst schon wieder?“, meint da die Rosa, die gerade mit wackerem Schritt in den Hof kommt.

Maria lächelt still.

„Lass uns eine Mutprobe machen“, sagt die Schwester und führt ihre Lippen ganz nah an Marias großes Ohr heran: „Wir schauen, wer es schafft, beim Greißler eine Salzgurke zu stehlen. In Ordnung?“

Maria zögert. Sie bewundert Rosa, doch sie ist fromm – und man soll nicht begehren eines Fremden Gut, das hat sie doch gelernt! Ein Gebot soll das sein, vor dem großen Gott!

„Stehlen darf man nicht!“, sagt Maria deshalb zweifelnd, denn sie weiß, dass so eine Salzgurke was Besonderes ist.

„Sei kein Angsthase, Moidl! Bist du nur groß oder bist du auch mutig? Sag!“

Da seufzt Maria – und ohne ein weiteres Wort folgt sie der Schwester nach, die sich wuselnd wie ein Eichhörnchen in Bewegung setzt, den Feldweg entlang.

Im Tal also das Kaufhaus. Sie betreten es mit zögerlichen Schritten, und während Rosa über die Mutter zu plappern beginnt und damit Hanna Bacher, die dicke Verkäuferin mit den dünnen Strichlippen, in ein Gespräch verwickelt, geht Maria an das Fass mit den Salzgurken heran. Ein riesengroßer Schlund ist es. Ein Bauch, aus dem Maria mit ihren Händen vorsichtig zwei Gurken fischt.

Maria kann gut beobachten. Sie sieht aus den Augenwinkeln, wie geschickt Rosa Hanna Bacher ablenkt – und schiebt die triefenden Dinger tief in ihr Schürzentäschchen hinein. Aber: Langsam und bedacht ist sie dabei. Denn sie weiß: Jede ruckartige Bewegung zieht nur Aufmerksamkeit auf sich. Und die will Maria nicht. Auch sonst nicht. Weil sie doch eh so groß ist, da schauen die Leute ohnehin schon genug! In solchen Momenten hat Maria gelernt, sich unsichtbar zu machen – und das tut sie auch jetzt, um Rosa ihre Stärke zu beweisen.

„Danke also!“, sagt die Schwester da mit einem Mal laut, greift nach dem Apfelsaft, den sie von Hanna Bacher erstanden hat, und geht rasch auf Maria zu, um sie aus dem Laden zu schieben. Die krümmt sich im Verabschieden, macht sich so klein, wie es nur geht.

„Ich gäb’ euch ja gern einen Krapfen gratis mit“, seufzt Hanna Bacher, „aber so schnell schießen die Preußen nicht!“

„Die Preise heißt das doch!“, entgegnet Rosa altklug, die im Schulunterricht brav zugehört hat und immer wach ist wie ein Schwamm. Dass die Preußen nämlich ein Volk sind und mit dem Verkaufen nichts zu tun haben, so viel hat sie gelernt!

Anna Bacher aber ignoriert ihre Aussage. Von Bildung hat sie wenig Ahnung. Ihre Arbeit ist eine mit den Händen. Decken falten, Kuchen und Brot backen, dem Vieh die Wolle scheren. Das ist alles. Ihr Blick folgt den beiden Mädchen nach.

„Du wirst auch immer größer!“, ruft sie Maria hinterher.

Diese schaut sich nur kurz um und lächelt schief.

„Geschafft!“, meint Rosa, als sie wieder auf dem Feldweg sind, und drückt ein wenig gegen Marias Backe. „Du bist meine Heldin! Groß und stark wie unser Ahnherr!“

Ahnherr! Wieder fällt Maria auf, was die Schwester für Worte weiß – und das, obwohl sie doch jünger ist als sie! Sie nickt, doch mit einem Mal fällt ihr das Schlucken schwer. Auch später, als sie die Salzgurke essen sollte. Beide Gurken wird Rosa bekommen.

Als es zu dämmern beginnt, kriecht die Schuld noch tiefer in Maria hinein. Das Bauernhaus ist abends stets eine Schattenwelt, manchmal dumpf und friedlich, ja gemütlich, manchmal aber auch erschreckend. So auch an diesem Abend, nach Marias erstem Verbrechen. Zitternd starrt Maria aus dem Fenster und erwartet das Nachtmahl. Hinterm Haus nichts als rotverbrannte Ebene. Die Sonne ist ein Schlag ins Gesicht, das Gras säuselt, knistert und knackt unterm Gewicht des Windes.

Auch jetzt kann Maria nicht essen.

„Iss, du brauchst es!“, meint die Mutter, ihr noch einen zweiten Knödel auf den Teller schiebend.

Maria schüttelt den Kopf.

Theresia Faßnauer will ihr über die Schulter streichen, doch Maria zuckt zurück. Der Körper der Mutter erscheint ihr mit einem Mal zu weich, zu rund und perfekt, Maria kann ihn nicht ertragen. Sie selbst kommt sich unförmig und klobig vor. Egal wie viele Gurken sie auch stiehlt, denkt Maria mit einem Mal, nie wird sie dazugehören. Nie so sein wie Rosa oder Theresia.

„Ach, lass sie!“, meint der Vater gütig lächelnd.

In dem Moment will sie am liebsten sein wie der Vater Josef, der Rote, der da am Tisch sitzt und kaut. Anders ist er als die Frauen. Er plappert nicht, leiert keine Rosenkränze, er schweigt meistens, und wenn er etwas sagt, ist es ehrlich.

„Hast keinen Appetit?“, will Theresia besorgt wissen und befühlt Marias Stirn.

Maria schüttelt den Kopf. „Ich glaub, ich geh’ schlafen“, murmelt sie.

„Ist gut, Kind“, sagt Theresia ein wenig besorgt und drückt sie an sich.

Aber es fühlt sich nicht gut an. Der wogende Busen schnürt Maria den Atem ab. Macht ihre Schuld noch größer. Sie giert nach dem Vater. Dass sie sein will wie ein Mann, ein richtiger, starker Ahnherr, ein Kämpfer!, denkt Maria. So wartet sie auf Josefs Blick – doch der bleibt aus.

Schnell schläft Maria ein an diesem Abend. Doch mitten in der Nacht erwacht sie aus schrecklichen, brauenden Träumen. Kurz geht sie auf und ab, kauert sich auf den Flur, das lichtlose Knarren der Tür ist zu hören. Maria lauscht ein wenig und beginnt dann wieder einzunicken. Doch plötzlich schreckt sie erneut aus dem Schlaf hoch. Was ist das? Ein Donnern und Dröhnen ertönt, dass ihr ganz bang wird! Mit pochendem Herzen eilt Maria zurück in ihre Kammer, öffnet das Fenster und blickt hinaus. Da, ein Blitz! Er durchzuckt hell und drohend das Firmament. Gottes Hand greift als Leuchtader vom Himmel herab und wischt den Restschlaf aus ihrem Blick. Gott bestraft mich!, denkt Maria, und ihr wird das Herz schwer.

Regen sprüht sich aus, nasse Rinnsale entstehen auf dem Pflaster des Hofes, das vor ihr liegt. Da muss Maria aufstehen. Und sie hastet mit raschen Beinen zu dem heiligen Ort: der Kapelle. Der Regen klebt ihr das Haar an den Schläfen fest, aber das ist egal. Maria läuft und läuft, atmet schwer, immer wieder zucken die Blitze. Töt’ mich doch, Gott!, denkt das Riesenmädchen, während es zitternd vor der Kapelle zum Knien kommt. Schlammig ist das Gras, es drückt sich in ihre bloßen Füße hinein. Unter ihr schwappt und zischelt es.

„Verzeih mir, Maria“, flüstert sie. „Ich weiß schon, das soll man nicht tun. Und ich trag’ deinen Namen!“

Keine Antwort tönt von der Kapelle.

„Ab jetzt“, wispert Maria in den Regen hinein, „ab jetzt werd’ ich brav sein! Ehrlich!“

Und mit einem Mal ist eine Stille in ihr.

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