Loe raamatut: «Küss mich, Libussa»

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Sophie Strohmeier: Küss mich, Libussa

Erster Teil
1

Auf dem dunklen Holztisch vor mir dampfte bereits der dritte Kaffee in Folge. Alle Geräusche in dem Prager Studentenkaffeehaus kamen mir viel zu laut vor. Als hätten die Ausflugsschiffe die Moldau verlassen, um mit ihren riesigen Dieselmotoren in meinen Ohren zu rattern.

»Wir wollten doch zu dir gehen«, sagte ein Mädchen am Nebentisch zu einem jungen Mann.

Sie flüsterte, aber für mich klang es wie liebevolles Gebrüll.

»Ich habe dich doch angerufen, aber dein Telefon war ausgeschaltet«, hörte ich den jungen Mann antworten.

»Ein Bier, bitte«, sagte jemand, und es hörte sich für mich wie »Ich liebe dich« an.

Ich konnte nicht aufhören, einmal das linke über das rechte, dann wieder das rechte über das linke Bein zu schlagen. Meine Kniekehlen brannten, als wäre ich in Hotpants durch ein Brennnesselfeld gelaufen. Immer wieder wurde mir schwarz vor Augen. Die Menschen um mich kamen mir wie unruhige Schatten vor, laut und verschwommen. Ich hatte Durst, mein Mund war trocken, meine Kehle brannte, aber ich trank dennoch nur Kaffee, um mich mit seinem Koffein zu beleben, weil ich Angst vor einer Ohnmacht hatte.

An der Wand über mir hing ein Bild, das eine brünette Frau in grüner Bluse zeigte. Zwischen ihren grellroten Lippen leuchteten die weißen Zähne wie poliertes Porzellan. Ihre schlanken Finger hatten schon gut ein Drittel der Blusenknöpfe geöffnet.

Mir wurde heiß. Ein Schweißausbruch klebte mir das Hemd an die Haut. Ich zog mir den Rollkragenpullover aus und fuhr mir mit den kalten Handflächen über die Schlüsselbeine. In der Öffentlichkeit traute ich mich nicht, mit den Fingern bis zu den Brüsten zu wandern. Meine Brustwarzen waren hart und drückten gegen den Stoff meines Hemds, der mir jetzt viel rauer vorkam als zuvor. Der Kellner musste meinen Zustand erkannt haben und brachte mir unaufgefordert ein Glas Wasser. Seine Hände sahen ungemein weich aus, wie die eines Prinzen. Seine Arme waren muskulös und hoben sich mit ihren kantig geschnittenen Muskeln schön vom dunklen Hintergrund ab. Sein Nacken leuchtete hell unter dem schwarzen Haar, das denselben Glanz hatte wie das gepflegte Haar von Miloš. Auf Miloš wartete ich hier seit Stunden, weil ich vor Ungeduld viel zu früh zum vereinbarten Treffpunkt gekommen war. Ich war einfach zu verliebt.

Miloš war Assistent am Prager Institut für Tschechische Literatur, an dem ich mein Auslandsstudienjahr verbrachte. Während der vormittäglichen Vorlesung über die Romantik hatte er der Professorin kopierte Skripten vorbeigebracht. Ich hätte am liebsten sofort mit ihm gesprochen. Er hatte mir zugelächelt. Nach der Vorlesung hatte er gerade nur so viel Zeit, um mit mir unser Treffen zu vereinbaren, dann musste er zu seiner eigenen Lehrveranstaltung.

Ich war mit meiner Sehnsucht für drei Stunden alleingelassen. Also wollte ich zuerst an der Moldau spazieren gehen und die schneeweißen Möwen beobachten, die schreiend von Eisscholle zu Eisscholle flogen, aber mir war zu kalt. Ich fühlte mich zu einsam und musste mich unter Menschen aufwärmen. In einem überfüllten Café würde auch niemandem die Unruhe auffallen, in der mein Herz das Geheimnis meiner Liebe in die Welt hinausschrie, dachte ich. Das kleine Studentencafé hatte ich schon in den ersten Tagen meines Aufenthalts in Prag kennengelernt. Es befand sich gleich um die Ecke von meiner Fakultät, es war meist überfüllt, das Bier war leicht und schmeckte kräftig, und die Kellner sparten nicht mit Leitungswasser. Mir war sofort klar gewesen, dass dieses Kaffeehaus mein Basislager werden würde.

2

Milošs Augen waren schwarz wie ein Waldsee, in dessen Mitte eine Nymphe auf einer Insel unter einem blühenden Obstbaum ihr langes, feurig rotes Haar kämmt. Seine Brauen waren dunkel und dicht. Sein Gesichtsausdruck war hart und zärtlich zugleich. Wenn er lachte, bildeten sich unter seinem Bart kaum erkennbare Grübchen auf den Wangen. Sein Nacken war stark und breit, seine Schultern wie die Krone einer alten, rauschenden Linde, deren Grün aus der Ferne über weite, wogende Felder flackert. Immer trug er alte, dunkle Anzüge, denen erst sein Auftreten und seine Figur eine besondere Eleganz verliehen.

Die Tür des Cafés öffnete sich. Miloš trat mit Zigarette im Mundwinkel ein. Er lachte, als er mich sah, und bestellte zwei Bier. Dann ergriff er meine verschwitzte Hand und gab mir einen Kuss auf die heiße Wange. »Ahoj, liebe Marie«, grüßte er, »du trinkst Kaffee, obwohl es schon Nachmittag ist? Der Kaffee ist zwar dunkel wie der Abend. Aber man muss sich die Abende mit dem Gold des hellen Biers zu sonnenerleuchteten Tagen machen.«

Sein Lachen beruhigte mich und steckte mich gleichzeitig an. Ich erstrahlte, sobald ich ihn sah, und konnte nicht anders, als seinen Gedanken über Tag und Nacht weiterzuspinnen. »Die Nacht lässt mich träumen. Am liebsten träume ich ewig und bei vollem Bewusstsein«, sagte ich. »Deshalb der Kaffee.«

»Mit Bier träumt man schöner. Und entspannter.«

Wir stießen an. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie heftig mein Durst geworden war. Ich setzte den Krug an, ein Schluck folgte dem anderen, und mein Bier war in einem langen Zug zur Hälfte geleert.

»Hast du dich schon von unserem Eishockeyspiel erholt?«, fragte Miloš.

Ich nickte, obwohl sich bei seiner Frage in meinem rechten Knie ein Stechen ausbreitete. Ondra, Feri und Milošs übrige Freunde, deren Namen ich mir nicht gemerkt hatte, waren raue Gesellen und hatten gar nicht daran gedacht, zurückzustecken, nur weil ein Mädchen mit ihnen spielte. Aber ich hatte jetzt ein wichtigeres Anliegen und wollte nicht darauf zu sprechen kommen, dass ich mir zum Studieren ausgerechnet ein Land ausgesucht hatte, in dem selbst die intellektuellen Männer jeden Winter auf zugefrorenen Teichen ohne Schutz Eishockey spielen, und dann noch unschuldige österreichische Studentinnen wie mich zum Mitmachen zwingen.

»Wie war die Vorlesung bei der Königin?«, fragte Miloš weiter und grinste. »War es so interessant, dass es dir die Sprache verschlägt?«

Ich hatte tatsächlich etwas wie einen verknoteten Frosch im Hals und beobachtete lieber wortlos Milošs Hände, die langsam die Zigarette im schmutzigen Aschenbecher ausdämpften. Erst nach einer Weile stotterte es aus mir heraus. »Ich … konnte mich nicht … gut konzentrieren«, sagte ich.

»Wie sollen sich junge Frauen auch konzentrieren, wenn sie Ewigkeiten lang stillsitzen müssen, anstatt draußen ihren Instinkten und Trieben nachzugehen?«

»Ich wollte ja nachher einen Spaziergang machen«, sagte ich, »aber du hattest keine Zeit, und überhaupt war es nicht möglich. Die Instinkte und Triebe waren zu stark.«

Er nickte. »Wassermann?«, fragte er dann.

»Ja, sie hat mit uns die Ballade über den Wassermann durchgenommen.«

»Was hast du dir gemerkt?«, fragte er wie ein echter Professor, obwohl er nur Assistent war.

»Karel Jaromír Erben hat das geschrieben.«

»Das ist schon ein guter Anfang«, sagte er und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Ich war froh, dass ich statt über meine Gefühle über Literatur sprechen konnte, und mein Stottern ließ nach. »Der Wassermann ist so etwas wie eine dunkle Macht und ein böser Ehemann gleichzeitig«, sagte ich. »Die junge Frau wird von ihm gefangen, bekommt ein Kind von ihm. Aber sie hat Sehnsucht nach ihrer alten Mutter. Der Wassermann erlaubt ihr, sie zu besuchen, nur lässt die Mutter sie nicht wieder gehen. Der Wassermann tötet das Kind.«

»Was bedeutet das?«

»Das Kind … ist tot?«

Er schüttelte den Kopf. »Die Mutter hat ihre Tochter ins Unglück gestürzt, weil sie sie nur für sich haben wollte«, erklärte er. »Hätte sie die Tochter wieder zurück in den See zu ihrem Ehemann gehen lassen, wäre dem Kind nichts zugestoßen. So ist jetzt auch die Bindung zwischen Mutter und Tochter zerstört.«

»Ich kann mich zumindest noch erinnern, dass am Ende das Kind in zwei Hälften geschnitten ist.«

»Wenigstens etwas. Das ist auch ein Bild für die Zerrissenheit der Tochter, zwischen der Liebe zu ihrem Kind und der zu ihrer Mutter. Natürlich sieht man daran auch, wie gefährlich der Mutter die Trennung von ihrer Tochter erscheint. Die Tochter ist weg bei irgendeinem Ehemann, noch dazu bei einem Wassermann unten am Grund des Sees, und niemand kann ahnen, wie es ihr dort geht.«

»Ich habe schon gesagt, dass ich mich nicht gut konzentrieren konnte.«

»Schade«, sagte er, »über diese Ballade spricht die Königin am liebsten.«

Die Professorin hieß in Wirklichkeit Libuše Herzová. Aufgrund des Respekts, den sie allen einflößte, und aufgrund ihrer Vornamensgleichheit mit einer mythischen, matriarchalischen Herrscherin nannten sie am Institut einige Leute »Fürstin«, andere »Königin«. Ich hatte sie wegen ihrer weißen Haut und ihrer kühlen Schönheit auf »Schneekönigin« umgetauft.

Miloš wollte offenbar mehr über Jaromír Erbens Balladen erzählen, aber ich konnte mich nicht mehr halten. Ich musste endlich aussprechen, was in mir seit Semesteranfang wütete und was mir alles andere nebensächlich erscheinen ließ. Zu diesem Zweck hatte ich ja das Treffen mit Miloš vereinbart. »Ich bin verliebt«, sagte ich.

Miloš schluckte. »Sehr gut«, antwortete er unbestimmt.

»Ich konnte es nicht erwarten, es dir zu sagen. Wem könnte ich es auch sonst sagen, wenn nicht dir? Ich bin schon ganz wahnsinnig vor Sehnsucht. Mein Körper macht, was er will, ich kann mich selbst nicht mehr beherrschen, so stark ist es. Meine Liebe ist so stark! Das kannte ich noch nicht, bisher.«

Miloš war erstarrt und sah ein bisschen aus wie der David von Michelangelo. Er kratzte sich elegant aber kompliziert an der Schulter. Es stand ihm gut. So verdutzt hatte ich ihn noch nie erlebt.

»Ich liebe die Schneekönigin«, sagte ich.

3

Nachdem Miloš mein Liebesgeständnis vernommen hatte, sagte er zunächst nichts und starrte mich an. Dann lachte er laut auf, nahm einen großen Schluck Bier und schüttete dabei sein Sakko an. »Ich dachte schon, deine Liebe gilt mir. Ich brauche einen Schnaps«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab.

»Was soll ich tun?«, fragte ich, weil ich mir von ihm ernsthaften Rat erhoffte.

»Langsam, langsam«, bremste mich Miloš, »zuerst musst du mir etwas erklären. Du bist also lesbisch?«

»Ich denke schon. Ein wenig. Offensichtlich.«

»Ein wenig oder wirklich?«

»Ein wenig wirklich. Scheint so. Würde ich sagen.«

Miloš brummte etwas vor sich hin, hielt die Augen gesenkt und spielte mit den Gläsern auf dem Tisch. Er sah enttäuscht aus. Immer noch mit gesenktem Blick fragte er nach: »Du meinst, du bist so wirklich, wirklich stark in die Königin verliebt?«

»Unbeschreiblich wirklich!«, rief ich. »Schon seit Semesterbeginn.«

Endlich hob er seinen Blick, das Weiß seiner Augen glänzte, das Schwarz war durchdringend dunkel. »Naja«, seufzte er, »dann weiß ich zumindest, was Sache ist.«

Ich war sprachlos. Wollte denn er das Objekt meiner Begierde sein? Ich wusste nicht, ob ich ihn jetzt trösten sollte. Es war mir peinlich, deswegen schwieg ich lieber und wartete ab.

Nachdem Miloš, der Assistent meiner Angebeteten, sich für kurze Zeit entschuldigt hatte und bald mit zwei weiteren Bier und zwei Zwetschgenschnäpsen zurückgekommen war, fasste er sich. »Trinken wir! Du, Marie, erkläre mir genau, wie es zu deiner Liebe gekommen ist.«

Wir blieben bis nach Mitternacht im Kaffeehaus sitzen, und ich berichtete ihm im Detail, wie ich die Schneekönigin zum ersten Mal bei meiner ersten Vorlesung im großen Hörsaal zu Gesicht bekommen hatte, wie ich mich vor ihr zuerst gefürchtet hatte, als sie in ihrem grauen Kostüm hinter ihrem Pult stehengeblieben war, den Bücherstapel auf die Platte gelegt und alle Studenten mit ihren eisblauen Augen gemustert hatte.

Es war damals vollkommen still im Hörsaal gewesen. Ich bildete mir höchstens ein, das ängstliche Schlucken mancher meiner Kollegen zu vernehmen. Von der Schneekönigin ging etwas wie eine tödliche Strahlung aus, die allen Anwesenden Freude und Wärme zu entziehen drohte. Mich fröstelte, und ich musste meine Hände aneinander reiben, um sie aufzuwärmen. Zum Glück saß ich ganz oben im Hörsaal, in der letzten Reihe, wo noch etwas warme Luft war. Denn unten, um das Lesepult, war das Raumklima von einem arktischen Seewind geprägt. Eine glasklare, eisige Aura umgab die Professorin, als wäre sie das Zentrum eines Bergkristalls. So zumindest kam es mir vor.

Als die Schneekönigin die Skripten zur Hand nahm, um sie einer Studentin in der ersten Reihe zum Verteilen zu reichen, fiel mir auf, wie elegant sie in jeder ihrer Bewegungen war. Ihre Schritte waren leicht, sie hielt den Kopf aufrecht, als entstammte sie dem höchsten Adelsgeschlecht, die Schultern trug sie wie eine Tänzerin oder Eiskunstläuferin. Ihre Handgelenke bewegte sie geschmeidig und locker, und ich musste unwillkürlich an den Flügelschlag von Raben denken. Das schwarze Gefieder der Raben glänzt bläulich, dachte ich, bläulich wie ein glatter, gefrorener See. Wie schimmerndes Eis, so hell, so geheimnisvoll schienen mir ihre zarten, weißen Handgelenke zu sein.

Unerwartet stieg in mir eine quälende Eifersucht gegen die Studentin in der ersten Reihe auf, die den Papierstoß entgegengenommen hatte. Während der Vorlesung war ich wie versteinert und hörte einzig der Sprachmelodie der Professorin zu. Ich war wie ein Grabstein, auf den sich eine Nachtigall gesetzt hat und der gerne in ihren Gesang einstimmen würde, der aber keine Lunge hat, um dafür Luft zu holen.

In der nächsten Woche kam ich fast eine Stunde vor Vorlesungsbeginn, um mir einen Platz ganz vorne, dem Lesepult genau gegenüber zu sichern. Es passierte etwas Wunderbares. Im Vortrag über poetische Vergleiche brach die Stimme der Professorin mitten im Wort ab. Ihr Blick hatte den meinen gefunden. Einen ewigen Moment lang hatten wir Augenkontakt. Völlige Stille. Die ganze Welt hielt inne, es herrschte absoluter Stillstand. Ihre blauen Augen leuchteten mich an, wie zum Stehen gekommene Gletscher. Da löste sich etwas in ihr, als würden die tieferen Schichten schmelzen und als würden sich die Eismassen mit einem gewaltigen Dröhnen ein kleines Stück talwärts bewegen. Die Schneekönigin lächelte.

4

Nach Sperrstunde spazierten Miloš und ich noch eine Weile flussaufwärts an der Moldau entlang. Es schneite. Die großen Flocken glänzten golden in der gelben Prager Straßenbeleuchtung. Wir setzten unsere Füße in die tiefe Neuschneedecke und fühlten uns wie die ersten Menschen. Für mich galt das besonders, weil ich nach Wochen endlich von meinem Geheimnis befreit war, das schwer auf mir gelastet hatte. Eine Nachtstraßenbahn fuhr lautlos an uns vorbei, als wären die Schienen aus Watte.

Bei der Galerie Mánes, deren Wasserkraftwerk leise rauschte, verließen wir die Straße und gingen hinunter zum Fluß auf die Náplavka, die ehemalige Holzschwemme. Unter der Jiráskův-most-Brücke blieben wir stehen und hörten längere Zeit den Eisschollen zu, die an den Brückenpfeilern brachen. Zwei Schwäne glitten silbern über den schwarzen Strom der Moldau. Wir schauten hinaus auf den Fluss und schwiegen.

Etwas später bestellte Miloš mir ein Taxi. Er selbst wohnte im schönen Viertel Vinohrady, das sich auf einem Bergkamm befindet, an dessen Hängen früher die königlichen Weinberge lagen. Mein Studentenwohnheim hingegen lag in Jižní město, der Südstadt, wo sich weithin sichtbare Plattenbauten mit gut versteckten Villenansammlungen abwechselten. Ich hatte mich zu spät um eine Unterkunft gekümmert und nur noch einen Platz im riesigen Plattenbau der Studenten der Hochschule für Chemie und Technologie ergattert. Ich wohnte nun also wirklich nicht gerade am hübschesten Ende von Prag. Miloš drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, bevor er die Tür des Taxis hinter mir schloss. »Bis dann, Marie.«

Das Taxi schlich über die vom frischen Schnee bedeckte Autobahn, die auf einer langen, ewig hohen Brücke über das Stadtviertel Nusle führte. Zu meiner Rechten erahnte ich die zweite, ältere Burg von Prag, den Vyšehrad, der in der Barockzeit zu einer gewaltigen Festungsanlage umgebaut worden war. Vyšehrad war der Sitz der mythischen Fürstin Libuše gewesen, zu Deutsch: Libussa. Sie war eine große Seherin gewesen, die unter anderem von den Zinnen ihrer Burg aus die Gründung von Prag prophezeit haben soll. Libuše hieß auch meine Professorin. Ich wurde trübsinnig. Der Taxifahrer bot mir eine Zigarette an. Ich machte es mir im Sitz bequem, kurbelte das Fenster herunter und ließ mir den kalten Wind über die Stirn streichen.

Ich dachte darüber nach, wie es wohl wäre, mit einer Frau zu schlafen. Ich kannte diese Erfahrung noch nicht, obwohl ich Miloš gegenüber behauptet hatte, lesbisch zu sein. Zwar konnte ich mir schon vorstellen, dass sich Lesben gegenseitig lecken und streicheln, aber was man als Frau mit einer Frau sonst noch tun kann, wusste ich nicht so genau. Irgendwie wollte ich es mir gar nicht ausmalen.

In Wien hatte ich ein eher braves Leben geführt. Meine Eltern hatten mir die Wohnung gezahlt, ich hatte sie ab und zu zum Mittagessen getroffen. Der einzige Akt der Revolte meinerseits bestand darin, dass ich Tschechisch zu studieren begann anstatt Rechtswissenschaften oder Medizin, wie es sich mein Vater gewünscht hätte. Er hielt Tschechisch für sinnlos, ebenso wie ich es am Anfang meines Erwachsenwerdens für unwichtig hielt, viel auszugehen und die Geheimnisse der Liebe zu erforschen. Natürlich war ich hin und wieder mit Freundinnen abends unterwegs gewesen und hatte bei diesen und anderen Gelegenheiten Männer kennengelernt und Sex gehabt. Einen festen Freund hatte ich aber nie gehabt. Mir hatte bei Männern immer etwas gefehlt. Ich hatte mir darüber nie ernsthafte Gedanken gemacht, sondern war davon ausgegangen, dass der Richtige schon früher oder später kommen würde.

Während der Taxifahrt stellte ich mir immerfort vor, mit der Schneekönigin Libuše Herzová zu verschmelzen. Ihre größeren Brüste an meinen kleinen. Ihr glattes blondes Haar, das sich mit meinen braunen Locken vermischte. Meine Hand in der ihren. Die Beine verflochten wie Scheren in den festen Zöpfen duftender Mädchen.

Um zwei Uhr morgens stieg ich aus dem Taxi. Die Bäume vor dem Wohnheim Sázava starrten unter der funkelnden Schneelast. Der scheppernde Aufzug brachte mich ins siebente Stockwerk. Auf Zehenspitzen schlich ich ins Zimmer, um meine Mitbewohnerin Daphne nicht aufzuwecken.

Nach einer schlaflosen Weile bemerkte ich, dass auch Daphne noch wach war. Ich konnte in der nächtlichen Stille keinen schweren Atem ausmachen, wie er für Schlafende typisch war. Nur der Radiator gab Geräusche von sich, als würde trockenes Reisig brechen.

Hielt Daphne so wie ich ihren Atem an und gab sie so wie ich den Schlaf nur vor?

Ich war ungeduldig und wollte mir ihres Schlafs unbedingt sicher sein. Langsam und möglichst geräuschlos fuhr ich mir unters Hemd. Ich konnte es nicht erwarten, an mir herumzuspielen. Die Wärme meiner bebenden Handfläche auf meinem rasenden Herzen machte meine Unrast nicht besser. Ich presste meine Augenlider zusammen, ich zwickte meine linke Brustwarze zwischen Ring- und Mittelfinger ein und atmete vorsichtig durch die Nase, um ja keine unkontrollierten Laute auszustoßen. Die andere Hand lag wie ein Brett an meiner Seite. Ich hatte ihr streng verboten, sich meiner Scham zu nähern, solange ich mir nicht sicher war, dass Daphne schlief.

Vielleicht dachte meine Mitbewohnerin dasselbe wie ich? Wartete auch sie auf meinen Schlaf, um es sich in Ruhe selbst zu machen? Hatte ich sie mit meiner Ankunft vielleicht sogar dabei unterbrochen?