Loe raamatut: «Eine schräge Geschichte, die böse endet»

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Stefan G. Wolf

Eine schräge Geschichte, die böse endet

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein Wort vorab

Lieber ein Anfang mit Schrecken

Dreh dich nicht um in Lasolita

Taleesha auf Coke

Jetzt ist er weg

Es ist noch Kartoffelsalat da

Im Auge des Tornados

Ein Wiedersehen in Holiday City

New York! New York!

Liebe Mama!

Unter Schmugglern

Märchenstunde

Der Himmel auf Erden

Genoveva und der Koch

Ein Geschenk zum Verlieben

Eine Verschwörung

Wandertag im Dschungel

Fluss ohne Wiederkehr

Wie man Freunde gewinnt

Das Haus in Montevideo

Ein Kapitel mit vielen Büchern

Nadel und Heuhaufen

Ein Brief kommt an

Von Luzern auf Weggis zu

Getanzte Leidenschaft

Ein Stern geht auf

Amerigo weiß was

Gotthold, böser Hund!

Im kleinen Horrorladen

Auf dem Friedhof von Piñeta

Die wundersame Welt der Greta Rivera

Es gibt viel zu tun

Ein Rendezvous

Ein heißer Ritt

Fly me to the Moon!

Unterwegs mit einem Klugscheißer

Leuchtspur im antarktischen Himmel

Nichts wie weg (mal wieder)

Im Namen der Königin

Ein Geheimnis wird gelüftet

Überraschende Wendung

Zauber der Manege

Das böse Ende kommt auf mich zu

Und vom selben Autor – überall wo es Bücher gibt

Impressum neobooks

Ein Wort vorab

So, so, eine schräge Geschichte also, die böse endet. Nun ja, ich hätte dem Roman auch einen anderen Titel geben können, und wenn es nach meinem Lektor gegangen wäre, dann hätte er auch einen anderen bekommen. Erstens, so meinte er, seien die Erwartungen der Leser, was schräge Geschichten betrifft, heute sehr hoch, andererseits nehme der Titel ja schon den Ausgang vorweg, und das sei ja wie … und dann wedelte er mit der Rechten, die den roten Stift hielt, ziellos durch die Luft, ohne einen passenden Vergleich zu finden, so dass ich ihm aushalf: Das ist wie Tod eines Handlungsreisenden, sagte ich. Genau, zum Beispiel, stimmte er mir ohne Begeisterung zu. Nun denke ich mir, dass ein Buch, dem man, sagen wir mal, Anna Karenina auf den Umschlag gedruckt hat (oder Im Namen der Rose oder gar Hundert Jahre Einsamkeit), dass ein solches Buch überhaupt niemanden zum Lesen reizt, jedenfalls nicht, wenn es bloß vom Titel abhängen sollte. Ich aber spiele von Anfang an mit offenen Karten: Die Geschichte ist irgendwie schräg und sie endet wirklich böse. Immerhin gibt es darin noch so verrückte Sachen wie die menschlichen Echsen, so überraschende wie das Mädchen, das vom Tornado herbeigeweht wird, und so spannende wie ein brennender Fesselballon in der Antarktis. Und da ich schon einmal dabei bin: Alles, was ich erzähle, hat sich in jedem Detail genau so zugetragen, also zum Beispiel das mit den Knöpfen an Taleeshas Bluse oder Tante Mabels Kartoffelsalat oder meine starken Empfindungen, als Mette sich im Kino in Oslo auf meinen Schoß gesetzt hat, das stimmt alles, nur das große Ganze, die Geschichte selbst, die, das gebe ich gerne zu, ist frei erfunden.

Lieber ein Anfang mit Schrecken

Opas Fallschirm öffnete sich nicht, wehte nur wie ein fadenscheiniges Fähnchen hinter ihm her. »Das war’s«, dachte ich laut, aber wenigstens hatte ich noch Funkkontakt.

»Was ist nun mit dem Wohnwagen?«, brüllte ich gegen den Wind an, der seit Tagen von Norden hereinblies.

»Kannste haben«, rauschte es aus dem Funkgerät, und Opas Stimme klang wie die eines Stummfilmschauspielers, der zum ersten Mal Gedichte über den Volksempfänger verbreitet.

»Und der Zapaca-Rum?«

»Kannste haben.« Die Flasche war genau so alt wie Opa, und wenn das hier so weiterging, dann würde sie morgen erstmals älter sein als er.

»Und Taleesha?«, schrie ich völlig panisch ins Mikrofon, denn jetzt konnte ich schon die angstvollen Fürze hören, die der alte Mann auf dem Weg nach unten fliegen ließ.

»Kannste«, war das letzte bedeutungsschwere Wort, das mein Opa von sich gab. In diesem Augenblick erfasste ihn eine Bö, und er wurde noch einmal in die Höhe gerissen. »Juhuu«, jubelte er, während ihn der kalte Morgenwind über die Grenze nach La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios trieb.

Ich kannte den Ort, hatte mich dort vor der Kirche gleichen Namens ein paar Tage zuvor ausgekotzt, und alle Einwohner hatten mir dabei zugesehen. Das ist der einzige Ort auf der Welt, der weniger Einwohner hat als Buchstaben im Ortsnamen, behaupte ich jetzt mal so. Ich hätte Opa dieselbe Aufmerksamkeit für seinen Touch-down gewünscht, aber da war nur ein Tohono O’Odham-Indianer, der sich gerade zur Entleerung seines Darms hinter einen Chaparralbusch zurückgezogen hatte, während ihm Opa vor die Füße fiel. Mir wäre es lieber, ich könnte einfach sagen, er sei ein Navajo gewesen oder ein Hopi, weil ich mir die Namen besser merken kann, aber ich will ja bei der Wahrheit bleiben, gerade in den Details. Ich musste still in mich hineinlachen, weil ich schon den ganzen Morgen Angst gehabt hatte, dass er beim Landen auf einem dieser Säulenkaktusse niederkommt (kann man das so sagen: dass er auf einem Säulenkaktus niederkommt?), aber wenigstens das hatte er ja vermeiden können. Ich drehte mich einmal um mich selbst, um sicherzustellen, dass ihn niemand sonst bei seinem Sturzflug beobachtet hatte, aber es war einsam hier unten, Arizona ist so verdammt leer, und der Indianer, der sich eine gute Meile entfernt die Hose hochzog, ohne Opa dabei aus den Augen zu lassen, zählte nicht, denn da, wo er war, war schon Mexiko.

Das Flugzeug, aus dem der alte Herr ausgestiegen war, hatte sich längst laut schnurrend entfernt und war nur noch ein Punkt mit Kondensationsschweif über den Ajo Mountains. Ozzy Montero und seine altersschwache Piper waren auf dem Weg zurück nach Why, wo Taleesha im Wohnwagen auf uns wartete. Hoffentlich wurde es ihr nicht zu langweilig, dann übertrieb sie es nämlich gern, und wenn sie zu viel geraucht hatte, konnte sie unberechenbar werden, auch schon am frühen Morgen. Opa kannte sie noch nicht lange, die beiden waren so was von verrückt aufeinander, das war schon manchmal peinlich - ich meine, er war 62 und sie, ich weiß nicht genau: fünfunddreißig? dreißig?

Die Sonne stand inzwischen über den Ajo Mountains und ihr Licht kroch die Bergflanken gegenüber hinunter ins Tal. Außer mir und dem Indianer hatte niemand Opas letzte Kapriole miterlebt, ich dachte nach, was ich tun konnte, um dem Ganzen einen versöhnlichen Schluss zu geben. Von hier bis dorthin, wo er jetzt lag, hatte ich freien Blick, aber keine freie Fahrt, denn das war sehr ungemütliches Gelände hier am Anfang der Sonora-Wüste. Man musste verdammt aufpassen, sobald man die schmale unbefestigte Straße nach Lukeville verlassen hatte, und dann standen auch noch überall diese Kakteen und trockenen Büsche rum. Aber, was soll ich sagen: Er war mein Opa, er war der Mann, der mir beigebracht hat, wie man Mundharmonika spielt, wie man sich durchsetzt, wenn es um eine Handvoll Kronenscheine geht, der mir gezeigt hat, warum es sich nicht lohnt, Angst zu haben. Wie hat er immer gesagt? Du brauchst nur ein Prozent mehr Mut als Angst, dann kann dir alles gelingen. Und das mit der Prozentrechnung hat er mir auch beigebracht. Also habe ich mich in den himmelblauen Travelette gesetzt, den Opa zusammen mit dem Wohnwagen in Iowa gekauft hatte, und bin losgebrettert Richtung Süden.

Der Kothaufen des Indianers dampfte noch in der kühlen Morgenluft, aber Opa begann schon kalt zu werden. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er gleich die Augen öffnen und auf die Füße springen würde. ›Buhuu! Hast du dir etwa Sorgen gemacht? Nun nimm mir doch endlich den verdammten Fallschirmsack vom Rücken, das verfluchte Ding hatte seine eigenen Pläne.‹ Ich blieb ein paar Minuten bei ihm stehen, weil ich immer noch darauf wartete, dass er sich etwas für mich einfallen lassen würde. Aber nein, von seiner Seite kam nichts mehr. Also holte ich den Klappspaten von der Ladefläche und stieß ihn in den trocknen Boden.

* 11. November 1899 zu Nikolaiken (Masuren), † 16. August 1961 zu La Buena Vista de los Ángeles de la Madre de Dios. Das passt auf keinen Grabstein, dachte ich, während ich mich abmühte, ein Loch in die Wüste zu graben, von dem, was der Steinmetz allein für die Inschrift berechnet hätte, ganz zu schweigen.

Als ich schließlich mit meiner Arbeit zu einem erfolgreichen Ende kam – six feet deep, six feet long, aber für die Tiefe konnte ich nicht garantieren – hatte der Schweiß mein Hemd auf dem Rücken festgeklebt. Ich warf den Spaten über den Rand des Lochs und für eine halbe Sekunde stand das Spatenblatt so, dass es die Sonne auffing und den Strahl auf mein Gesicht lenkte. »Schon klar, Opa«, sagte ich, »für dich immer«. Ich zog mich hoch und krabbelte aus dem Loch. Da standen sie, siebzehn Männer, Frauen und Kinder, bereit, meinem Opa die letzte Ehre zu erweisen. Ein alter Mann mit einem prächtigen Pigalle-Sombrero trat vor, schüttelte mir die Hand und sagte etwas auf Spanisch, was ich nicht verstand. Vielleicht war es ja auch – wie heißt das? – Tohono O’Odhamisch, wer weiß das schon. Dann gab der mit dem Sombrero zwei Männern einen Wink, die packten den Körper und trugen ihn zum Grab. »¡Momento!« rief ich dazwischen.

Sie setzten ihn wieder ab, seinen Rücken gegen die Beine eines der beiden gelehnt – he, dachte ich, da sitzt du und schaust bei deiner eigenen Beerdigung zu. Ich nahm seine Brieftasche aus der Jacke, seine Zigarren und die kleine Echo Harp von Hohner, die ich ihm mal zum Geburtstag geschenkt hatte, die hatte er immer bei sich. Und dann war da noch dieser Zettel, ein Ausriss von einem Briefumschlag, noch die Briefmarken in einer Ecke, da stand was von Hand Geschriebenes, aber das konnte ich so schnell nicht entziffern, also habe ich den Zettel in seine Brieftasche gesteckt und alles zusammen in meinen Rucksack. Inzwischen hatten die beiden Trauergäste Opa in sein Grab gerollt, und ich brach ein paar der gelben Blüten von dem Chaparralstrauch, neben dem er gelandet war, um sie auf ihn zu verstreuen. Später habe ich gelesen, dass die Indianer die Blätter als Heilmittel verwenden bei Lebererkrankung, Harnröhrenentzündung, Magenbeschwerden, Hämorrhoiden und Bluthochdruck – passt ja, dachte ich.

Als das Loch wieder gefüllt war, legten die Jungs ein paar schwere Steine auf den Erdhaufen, ich weiß nicht, ob es die Kojoten vom Buddeln abhalten sollte oder ein alter indianischer Brauch war, ähnlich wie die Juden Steine auf die Gräber legen oder die Tibetaner auf den Bergpässen im Himalaja kleine Steinhügel aufschichten. Ich gab jedem Einwohner von La Buena Vista-und-so-weiter die Hand, stieg in den Pick-up und ließ Opa zurück. Er hatte übrigens Johann Friedrich Wuttke von Trettow geheißen, was ja für sich schon zu lang ist für eine Grabinschrift.

Dreh dich nicht um in Lasolita

Ich nahm die Straße, denn ich wollte nicht noch mal durch die Wüste rumpeln, und außerdem befürchtete ich, dass ich die Schotterpiste, die durch das Kaktustal führt, nicht wiederfinden würde. Also machte ich mich auf nach La Solita, ein Kaff direkt an der Grenze, das fast übergangslos zu Lasolita auf der amerikanischen Seite wird. Die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten war damals nichts, was einen beunruhigen musste, es sei denn, die Arizona Diamondbacks hatten mal wieder ein Match verloren oder die Frau vom Patrouillenchef war unpässlich, dann ließen sie es einen schon mal spüren. Heute war offensichtlich so ein Tag, und darum hielten mich die Grenzer an. Einer postierte sich vor dem Kühler, die Hand am Revolver, der andere kam breitbeinig auf meine Seite.

»Motor aus und die Hände dahin, wo ich sie sehen kann!«, sagte er betont ruhig. Ich drehte den Schlüssel um und legte die Hände auf das Steuerrad. »Wo geht’s denn hin Chicano?« Ich brachte das jetzt gerade nicht zusammen: seine Frage und die Situation, ich, er. Ich war wahrscheinlich so ziemlich der blondeste und blauäugigste Chicano, auf den die Sonne Arizonas jemals niederbrannte, während über seinem Mund ein dicker schwarzer Bigote die Frage nach dem Stammbaum stellte.

»Wohin?«, bellte er, und ich antwortete: »Nach Why.« Wenn es nicht so ein kurzer Ortsname gewesen wäre, hätte ich ihn gewiss gestammelt, aber so kam er einigermaßen am Stück heraus.

»Why?«, fragte er, und ich sagte: »Na, weil da mein Wohnwagen steht.« Also, der ganze Dialog funktioniert ja eigentlich nur auf Englisch, wegen Why – Warum, deswegen überspringe ich das jetzt mal.

Ob auf Englisch oder Deutsch, jedenfalls endete das Gespräch damit, dass der Officer mir befahl auszusteigen, aber schön langsam, »eine falsche Bewegung und ich kann meinem Kumpel nicht verdenken, wenn er nervös wird«, warnte er mich. Im Rücken der zwei Grenzpolizisten fuhr gerade ein unverschämt langes und unverschämt breites Kabriolett von Norden nach Süden, vollbesetzt mit einer unverschämt jungen und unverschämt lauten Gesellschaft beiderlei Geschlechts, und ich hielt die Luft an, um nicht von den süßen Schwaden des mildtätigen Krauts, die herüberwehten, high zu werden. Doch die beiden Grenzer hielten die Aufmerksamkeit hoch, die sie mir widmeten, da war kein Platz für nichts anderes, da hätte die gesamte mexikanische Armee in Arizona einmarschieren können: Ich war jetzt der gefährlichste Mann der westlichen Hemisphäre. Der Officer, der neben der Fahrertür stand, war ins Schwitzen gekommen und schnaufte bedenklich, als er mich – Beine breit, Hände aufs Autodach – am ganzen Körper abtastete. Dann zog er doch noch seine Waffe, um mich mit ihrer Hilfe zu dem kleinen Postenhäuschen am Straßenrand zu dirigieren, auf dessen Dach das Sternenbanner schlappgemacht hatte.

Als ich das Innere betrat – genau genommen wurde ich hineingestoßen –, also, wie soll ich sagen: Ich bin ziemlich bewandert in Filmen wie Todesmeilen nach Las Cruces, Ein Mann ohne Furcht, Wer tötet Riley Quinn?, das war ja auch der Grund, warum ich unbedingt mit Opa mal hierher wollte, aber jetzt … Ich sah mich unwillkürlich nach der Kamera um: Dreh dich nicht um in Lasolita, Klappe die Erste, oder so ähnlich. Denn hinter einem schweren Schreibtisch aus dunkler Eiche saß ein Kerl mit so etwas wie einem Sheriffstern, seinen Stuhl hatte er nach hinten gekippt und die Füße (samt Buckaroo-Stiefeln!) auf die Tischplatte gelegt. Ich trau mich gar nicht, dass hier hinzuschreiben, aber er bewegte doch tatsächlich ein Streichholz von einem Mundwinkel zum anderen und zurück. Vor dem Schreibtisch teilte eine hölzerne Barriere den Raum, in der Ecke stand ein alter Schrank, der überquoll von Papieren, daneben zwei Wanted-Plakate mit Fotos von Leuten, die aussahen, als hätten sie dafür stundenlang in der Maske gesessen. Auf einem Sideboard hinter dem Stiefel-Mann stand eine Kanne Kaffee auf der Wärmeplatte und über ihm drehte sich ein Deckenventilator, der bei jeder Umdrehung einmal gequält quietschte. Weniger amüsant fand ich allerdings das, was ich an der Rückwand des Raumes entdeckte. Dort gab es eine Türöffnung, die ließ den Blick frei auf ein winziges fensterloses Kabuff, dessen einzige Einrichtung eine hölzerne Bank war. Die Tür bestand aus Gitterstäben. Bitte nicht dort hinein, bitte nicht! war alles, was ich mir in diesem Augenblick wünschte.

»Wie?«, fragte ich fahrig, denn ich hatte verpasst, was der Mann hinterm Schreibtisch zu mir gesagt hatte, so sehr rasten jetzt meine Gedanken und suchten einen Ausweg aus dem Schlamassel. Wenn meine Erklärungen den Verdächtigungen der Officers zu sehr widersprachen, würden sie mich in den Raum dort hinten sperren, bis – wie heißt das?: die Angelegenheit geklärt war; wenn ich ihnen einen Schritt zu weit entgegenkam, würden sie das als Eingeständnis meiner fiesen Absichten einordnen und mich erst recht hierbehalten. Einer der beiden, die mich aus dem Auto geholt hatten, gab mir einen Stoß in den Rücken.

»Ich habe dich gefragt, was wohl ein Chicano in einem Pick-up mit Kennzeichen aus Iowa vorhat, wenn er unberechtigt die Grenze überschreitet.«

»Unberechtigt?«, entfuhr es mir, was mir einen weiteren Rempler von hinten einbrachte.

»Du und deine Leute«, sagte der Boss und schnippte ein Stäubchen von seinem linken Stiefel. »Böse, böse. Sehr böse Leute. Und ihr werdet immer raffinierter. Aber nicht raffiniert genug. Du meinst, weil du blond bist und blaue Augen hast, könntest du uns täuschen.« Dann lachte er auf und sagte zu seinen Untergebenen: »Meint ihr, er kann mich täuschen?«

»Nein, Boss!«, kam es wie aus einem Mund, und zur Bekräftigung gab es wieder einen Stoß in den Rücken.

»Also, mach es uns allen hier leichter: Wem gehört das Auto?«

Ich dachte noch: Die Wahrheit ist der gerade Weg in die Hölle, aber da hatte ich schon geantwortet: »meinem Opa.«

»Und wo ist dieser Opa?«, fragte der Stiefelmann höhnisch. Darauf konnte ich kaum wahrheitsgemäß antworten: Vor drei Tagen angekommen in Why, aufgefahren in den Himmel, herabgefallen auf die Erde, begraben in der Wüste, irgendwo hinter La Buena Vista-und-so-weiter.

In diesem Augenblick zog eine Mariachi-Band in rot-grünen Uniformen mit aberwitzig großen weißen Sombreros vorbei, die spielten ¡Viva México! ¡Viva América!, und ihnen folgte eine bunte Schar schräger Vögel in Fantasiekostümen, zwei Elefanten, drei Vicuñas, ein Mädchen mit Prinzessinnenkrönchen, das einen Tanzbär am Nasenring führte, und ein junger Mann, der mit brennenden Fackeln jonglierte und einen kleinwüchsigen Clown auf seinen Schultern sitzen hatte, der ihm ständig den Schweiß von der Stirn wischte. Den Abschluss machte eine Frau, die etwa zwei Köpfe größer war als ich und ein Kreuz wie ein Wrestler hatte. Ihre Attraktion aber waren die drei Brüste, die sich unter ihrem leuchtendgrünen Crêpe de Chine-Kleid abzeichneten. Ich starrte wie gebannt auf diese Szenerie, die ich durch das Fenster hinter dem Stiefelmann wie auf einer Guckkastenbühne beobachten konnte, doch keiner der Anwesenden folgte meinem Blick, geschweige denn unterband jemand den Grenzübertritt der verrückten Truppe.

»Schweigen hilft dir nicht, Amigo«, sagte der Stiefelmann, der sich eine Zigarre aus der Brusttasche gezogen hatte und ein Streichholz an der Stiefelsohle anriss.

»Mein Name ist Laurens Baltruscheit Iversen und ich habe einen dänischen Pass«, kotzte ich ihm meine Identität vor die bestiefelten Füße.

»Einen dämlichen däppischen dänischen Pass«, äffte der Boss. »Was soll das sein: ein dänischer Pass? Habt ihr schon mal was von einem Land gehört, das Dänien heißt?«

»Nein, Boss«, bestätigten ihm die beiden den Erfolg ihrer Schulbildung, und der Boss fuhr fort: »Dänien, gleich neben Hernien und südlich von Spermien«, und alle schütteten sich aus vor Lachen.

In diesem Augenblick erschien die Rettung in Gestalt eines kleinen schwarzhaarigen Jungen, der auf den schmutzigsten nackten Füßen, die ich je gesehen habe, hereinspazierte und »¡A comer!« rief, »¡A comer! ¡A comer!«, gar nicht mehr aufhörte mit seinem Geschrei und dann in Packpapier gewickelte Burritos, Tortillas, Enchiladas, Fajitas oder was auch immer auf der hölzernen Barriere ausbreitete. »Ah, ah«, ließ sich der Boss vernehmen, »oh, ah«, riefen die beiden hinter mir aus und schoben mich zur Seite, »¡qué bueno!« rief der eine, »na endlich!« der andere, beide zückten je einen Dollarschein aus ihren Uniformtaschen und legten sie ebenfalls auf die Barriere, wo sie der Junge aufsammelte und – »¡provecho!« – verschwand.

Und ich mit ihm. Ich ging so gemächlich nach draußen, wie es mir angesichts der Situation möglich war, stieg langsam in meinen Pick-up, schloss leise die Tür, ließ ihn ein wenig nach rückwärts aus dem Blickfeld rollen, startete den Motor und verschwand über die Grenze.

Kurz danach machte die Straße einen Knick nach Westen. Nachdem ich etwa zwanzig Minuten weitergefahren war, bemerkte ich, dass ich wieder auf der mexikanischen Seite der Grenze war, wenn ich so weiterfahren würde, käme ich in einer halben Stunde nach Los Vidrios, einen Ort mit einer sehr nachtragenden Bewohnerschaft. Ich wollte mich in diesem Kaff nicht mehr sehen lassen, das hätte mir heute noch gefehlt. Vielleicht ist der Ort ja so zu seinem Namen gekommen: »¡Paga los vidrios rotos!«, hatte der Kneipenwirt gerufen und meinen Nacken mit seiner Pranke wie in einer Schraubzwinge gehalten, »bezahl die zerbrochenen Fenster!«, obwohl ich kein einziges seiner dreckstarrenden Fenster auch nur berührt hatte. Später lernte ich, dass das nur im übertragenen Sinn gemeint war, so ähnlich wie wenn wir vom Kerbholz sprechen oder der Hutschnur, einfach nur eine Redensart. Tatsächlich meinte er die Flasche Tequila, die mein Nachbar an der Bar geleert hatte, bevor er davonstolperte ohne zu bezahlen, und für die ich jetzt die Pesos auf die Theke legen sollte, was aber ein abgekartetes Spiel war (noch so eine Redensart), denn das machten die wohl hier immer so mit Fremden, die nichts begriffen von zerbrochenen Fenstern. Daher, so denke ich, heißt der Ort von alters her Los Vidrios, die Fenster, wahrscheinlich, kann doch sein, oder?

Ich drehte also um und fuhr zurück, und um nicht noch einmal Bekanntschaft mit dem Filmcast an der Grenze zu machen, bog ich nach links auf eine Piste ab, die schnurgerade nach Norden führte. Ich war noch nicht weit gefahren, da sah ich vor mir einen großen Menschenauflauf. Als ich näherkam, erkannte ich die bunte Zirkustruppe. Sie hatten sich malerisch zwischen den Kakteen verteilt, während zwei Vicuñas mitten auf der Straße ihre Gefühle auslebten. Die jungfräuliche Prinzessin mit dem Tanzbären senkte ihren Blick beschämt zu Boden, während andere dabeistanden und applaudierten. »¡Hay! ¡Hay! ¡Hay!« riefen sie und »¡Esto marcha!« und die Mariachiband spielte Los ojos de mi chamaca. Kaum war ich ausgestiegen, kam die große Frau in Grün auf mich zu und versprach, mir ihre Anatomie zu zeigen, wenn ich nur fünf Dollar aufbringen könnte. Auf mein Kopfschütteln korrigierte sie ihr Angebot: einmal anfassen für zwei Dollar. Am Ende ließ ich mir aus der Hand lesen, das war mir den Dollar wert, den sie in ihrem Ausschnitt verschwinden ließ, und ich hatte ganz kurz die Vorstellung von einem Hütchenspieler – wo ist der Dollar: zwischen Brust eins und zwei oder zwischen Brust zwei und drei oder …?

Nachdem ich alles erfahren hatte über die kleine Blonde, vor der ich mich in Acht nehmen sollte, über den Geldsegen, der mich erwartete, und das große Haus mit dem Rosengarten, in dem ich mein Glück finden würde, ging ich dorthin, wo die Männer kleine rote Würstchen auf Saguarodornen gespießt hatten und über den Fackeln des Jongleurs brieten. Sie luden mich ein, ein Spießchen zu nehmen und mich zu ihnen zu setzen. Als ich mich auf eine dieser bunten Decken fallen ließ, merkte ich, wie müde ich war. Zwei Wurstspießchen und drei Corona-Bier später war ich eingeschlafen, und während ich davonflog, um mit Opa hoch über den Orgelpfeifen des Kakteenwaldes zu kreisen, merkte ich nur noch, dass mir jemand einen Hut übers Gesicht legte. »Johann!«, rief ich meinem Opa zu, der gerade einen vollendeten gehechteten Delfinsalto in das unfassbare Blau des südlichen Himmels schrieb, »Johann! Ich kann nichts mehr sehen, ich glaube, ich bin blind!«

Als ich erwachte, kroch das letzte Licht der untergehenden Sonne die Hänge der Ajo Mountains hinauf. Was war das bloß für ein seltsamer Traum, in dem sich Schwielensohler paarten, eine dreibrüstige Frau mir aus der Hand las und Mariachis Würstchen grillten? Im Kakteental war es schon ziemlich duster, doch nicht duster genug, um die Bierfläschchen, die hier und da zwischen den Büschen herumlagen, zu übersehen. Und wo kam der Sombrero her, der mich vor einem Sonnenbrand gerettet hatte, und die bunte Decke mit einer Spur von Erbrochenem an einer Ecke? Ich war ein klein wenig orientierungslos und zitterig.

Als ich mich auf den Fahrersitz von Opas Travelette gewuchtet hatte, stellte ich fest, dass der Schlüssel noch im Zündschloss steckte, beste Voraussetzungen für die Rückfahrt nach Why.