Loe raamatut: «Gott die Ehre»

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»Kluge Liebe nimmt die Realität ehrlich und wertschätzend wahr, mit Nähe und mit Distanz. Sie bleibt frei und achtsam. Sie urteilt, aber abwägend und respektvoll. Sie entscheidet mit Leidenschaft, aber ebenso mit Vernunft und Klarheit. Sie gibt etwas von sich und sich selbst für andere. Wer klug liebt, nimmt sich barmherzig an und lässt Erlösung geschehen.«

STEFAN KIECHLE

Stefan Kiechle

Gott die Ehre

Stefan Kiechle

Gott die Ehre

Kurze Theologie

der ignatianischen Exerzitien



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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05667-4

978-3-429-05182-2 (PDF)

978-3-429-06545-4 (ePub)

Inhalt

Zum Beginn

Theologie

Ignatianische Exerzitien

Theologie der Exerzitien

Gott die Ehre

Weise des Vorangehens

Gefahren einer Theologie der Exerzitien

I.Geschaffen

1.Einzeln und gemeinsam

Die Seele

Der Leib

Gaben von oben

Ziel der Schöpfung

Individuell und sozial

2.Gottunmittelbar

Schöpfer und Herr

Der Schöpfer unmittelbar mit dem Geschöpf

Das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn

Übungen geben

Freund oder Herr?

Wie eine Waage

3.Die Dinge der Welt

Nutzen zum Ziel

In allem Gott

Ambivalent

Indifferent/frei

4.Sehnsucht nach Gott

Deseo/Sehnsucht

Die Sehnsucht ordnen

Sehnsucht Gottes

Großmut und Freigebigkeit

5.Immer vorangehen

Geschichtlichkeit

Pädagogik

Üben

II.Geheilt

6.Täter und Opfer

Sünde

Täter werden

Verdammt?

Opfer werden

Zugleich Opfer und Täter

7.Schuld und Scham

Was ist Schuld?

Scham

Schuldgefühle

Missbrauch und Schuld

8.Gott vergibt – Gott heilt

Der Täter lässt sich vergeben

Das Opfer lässt sich heilen

Gratis

Der Gekreuzigte

Bußübungen

9.Die Geister unterscheiden I

Regungen

Geister

Geister in der Seele

Ungeordnet/geordnet

Taktiken

10.Geliebter Sünder

Das Gewissen erforschen

Weitere Übungen

Für Christus getan/für Christus tun

Sündig und geliebt

III.Gesandt

11.Wie ein Ritter

Der König ruft

Zwei Banner

Jerusalem-Theologie

Kreuzzugstheologie?

Demütig

12.Gott wird Mensch

Sorgende Dreifaltigkeit

Warum die Inkarnation?

Weihnachtstheologie

Mehr lieben und ihm nachfolgen

13.Leben Jesu

Geheimnisse des Lebens Jesu Christi

Welche Szenen?

Die Schrift betrachten

Theologisches

Christologie

14.Vom Wählen

Warum „Wahl“?

Was wählen?

Drei Weisen

Wie wählen?

Wille Gottes/Wille des Menschen

Gottes- und Menschenbild

15.Die Geister unterscheiden II

Wie die Geister unterscheiden?

Trost

Trostlosigkeit

Vom Umgang mit Trost und Trostlosigkeit

Trost ohne Ursache

16.Gesandt zum Dienst

Welt gestalten

Führen und Macht ausüben

Helfend dienen

Aktiv/passiv

Individuell/gemeinschaftlich

IV.Gerettet

17.Der Leidende

Passionsbetrachtungen

Jesu Weg

Nachfolge ins Leiden

18.Kreuzesnachfolge

Theodizee?

Ausleiden

Füreinander

Etappen der Kreuzesnachfolge

19.Vom Sterben und vom Tod

Exerzitien als Weg des Sterbens

Martyrium

Missbrauch des Kreuzes?

V. Geliebt

20.Auferweckt

Osterbetrachtungen

Maria

Das Amt zu trösten

Gottheit und Menschheit

21.Dreifaltiger Gott

Warum Maria?

Wo aber ist der Geist?

In den Exerzitien

Cardoner/La Storta

Das geistliche Tagebuch

22.In Gemeinschaft

Streitend und hierarchisch, mütterlich und bräutlich

In allen Gliedern derselbe Geist

Schwarz und weiß

Freunde im Herrn

Unterscheidung in Gemeinschaft

23.In der Liebe wachsen

Was ist Liebe?

Betrachtung, um Liebe zu erlangen

Magis

An Spannungen wachsen

Discreta charidad

Amor reverencial

Gott die Ehre

Zum Schluss

Literatur (Auswahl)

Zum Beginn

Theologie. Wer sich über Gott (griech. theos) ein Wort, einen Begriff, einen Gedanken, eine Theorie (logos) bildet, betreibt Theologie. Theologie ist eine Arbeit des Denkens, der Vernunft. Theologie ist nicht zuerst kritischer Zugriff von außen auf den Glauben, sondern sie erwächst aus dem Glauben, indem dieser die Vernunft befragt.1 Quelle der Theologie ist Gottes Offenbarung, die von jener vernünftig ausgelegt wird. Da Gott sich nicht nur in Schrift und Tradition offenbart, sondern auch in individueller und gemeinschaftlicher geistlicher Erfahrung, wird in der spirituellen Theologie auch diese immer subjektive Erfahrung zur Quelle und zum Ort der Theologie. Theologie befriedigt zum Ersten das urmenschliche Bedürfnis nach rationaler Selbstvergewisserung in einem existentiellen Vollzug, dem des Glaubens; zum Zweiten hilft sie, den Glaubensvollzug auf den einen, wahren, in Jesus Christus offenbaren Gott hin auszurichten und ihn zugleich vor Irrwegen zu bewahren; zum Dritten ermöglicht sie ein vor dem Forum der Vernunft verantwortetes Bezeugen des Glaubens für Nichtgläubige, ein Anliegen nicht nur des ignatianischen Charismas. Das theologische Reflektieren gehört damit wesentlich – und wiederum ganz ignatianisch – zum Vollzug der Unterscheidung der Geister und damit zu den Exerzitien selbst. Theologische Reflexion ist immer gebunden an die Kultur und an den Kontext ihrer Zeit – das ist ihre Grenze und zugleich ihre Stärke. Theologie ist immer unzureichend, denn ihr Thema, Gott selbst, bleibt menschlichem Tun und Denken entzogen – begrifflich wird keine Theologie Gott wirklich fassen. Theologie ist ein Sprechen auf etwas hin; sie orientiert sich auf Ziele, geht tastend auf diese zu, erreicht sie nur näherungsweise; immer ist sie ärmlich und fragmentarisch, immer auch ausgestreckt auf Neues und durch Neues überbietbar.

Ignatianische Exerzitien. Ignatius von Loyola (1491–1556),2 der Gründer des Jesuitenordens, schrieb das Buch der Exerzitien, im Original Ejercicios espirituales (span.), also „Geistliche Übungen“. In das Buch hinein flossen seine persönliche geistliche Erfahrung, außerdem alte spirituelle Traditionen der Kirche und seine philosophisch-theologische Bildung. „Exerzitien“ meint im weiten Sinn, dass man, um im spirituellen Leben Fortschritte zu machen, regelmäßig üben muss. Ignatius vergleicht die geistlichen Übungen mit körperlichen: Wie der Körper regelmäßig trainiert, um sich zu kräftigen, so muss die Seele regelmäßig üben, um in der Gottesbeziehung zu wachsen und aus ihr zu leben (1).3 Im engeren Sinn bezeichnet „Exerzitien“ die konkreten Übungen, die Ignatius in seinem Buch dem Gott suchenden Menschen vorschlägt. Exerzitien verbinden Aszese (von griech. askein, üben), ein durchaus mühevolles und loslassendes Üben, und Mystik, die Erfahrung der Gegenwart Gottes: Sie sind aktives Tun der Übenden und zugleich Tun Gottes, das die Übenden erfahren.

Theologie der Exerzitien. Das Exerzitienbuch richtet sich ganz auf spirituelle Praxis und ist kein theologisches Werk. Dennoch enthält es theologische Aussagen und regt theologisches Denken an. Theologisches Nachdenken mag helfen, den spirituellen Weg der Exerzitien besser zu verstehen. Dabei ergibt sich aus dem übenden Vollzug eine Sicht und ein Verständnis Gottes, und umgekehrt ergeben sich aus dem reflektierenden Verstehen Gottes Hinweise zum übenden Vollzug. Spirituelle Theologie will Spiritualitäten mit ihren Sprachen, mit ihren Menschen- und Gottesbildern, mit ihren Pädagogiken, mit ihren sozialen, kulturellen und kirchlichen Prägungen auf Aussagen über Gott hin ausleuchten und ausdeuten. Die ignatianische Spiritualität ist theologisch ungewöhnlich ergiebig – das kann hier nur angedeutet werden und muss sich in der Durchführung erweisen.4

Gott die Ehre. Über Gott selbst kann und darf Theologie nicht viel sagen. Daher geht der Fokus dieses Buches mehr darauf, wie Gott im Menschen und mit dem Menschen wirkt. Im Blick auf das Geschehen in Exerzitien versucht es aufzuzeigen, wer der Mensch vor Gott ist, was er von Gott erfährt und was Gott an ihm getan hat und weiter tut. Die fünf Abschnitte des Buches entsprechen den fünf Phasen des Exerzitienwegs: Von Gott wird der Mensch geschaffen, geheilt, gesandt, gerettet und geliebt. Der Blick geht also von Gott zum Menschen – und zugleich vom Menschen zurück zu Gott: Allein seinem Gott gibt der Mensch die Ehre, im Gebet, im guten Leben und – das ist der ignatianische Akzent – in seiner Lebenshingabe und im Dienst. Vom Menschen her betrachtet – denn nur von ihm her können Menschen schauen – sind die Bewegungen die des Empfangens und die des Gebens, die der empfangenen Gnade und die der zurückgebenden Tat. Die beiden Bewegungen werden zur Doppelbewegung der ehrfürchtigen Liebe, die am Ende die ignatianische Theologie zusammenfassen wird.

Weise des Vorangehens. Diese kurze Theologie der Exerzitien gibt keinen historischen, pastoralen oder theologischen Kommentar zum Text des Exerzitienbuchs – dafür gibt es genügend Literatur.5 Sie versucht vielmehr, gleichsam essayistisch entfaltend, direkt in theologisches Nachdenken einzutreten, wobei selbstverständlich der Aufbau, die Begrifflichkeit und die Themen dem Exerzitienweg entstammen. Sie ist eine heutige Theologie, mit heutigen Fragestellungen und Denkweisen – die hermeneutische Brücke über fast 500 Jahre Distanz wird sie respektvoll zu schlagen versuchen. Diese Theologie ist maßvoll subjektiv: Der Theologe betreibt sie in der individuellen Perspektive seiner Geschichte, seiner Kultur und – selbstverständlich – seiner geistlichen Erfahrung. Und sie ist in Maßen selektiv: Aus der Fülle der Anregungen des Exerzitienbuchs wählt sie aus, was dem Theologen für heutiges Glauben und Denken relevant und anregend erscheint, und sie relativiert oder lässt beiseite, was ihm weniger relevant oder gar irreführend erscheint. Von der Fülle der Sekundärliteratur lässt sie sich anregen, aber sie setzt sich nicht direkt mit ihr auseinander und zitiert sie nur gelegentlich. Von Ignatius zitiert sie vor allem den Originaltext des Exerzitienbuchs; gelegentlich nimmt sie auch auf andere Texte von ihm und auf seine Biographie Bezug.6

Gefahren einer Theologie der Exerzitien. Dass man Elemente der Exerzitien, die allzu zeitbedingt sind, schnell ablehnt und damit unüberlegt das Ganze der Exerzitien verwirft. Dass man umgekehrt im Transfer für heute – hermeneutisch nachlässig – die schwierigen Elemente vereinfacht oder mit der guten Absicht, sie zu „retten“ (vgl. 22), glattbügelt. Dass man den Text der Exerzitien überkanonisiert und so überexegetisiert, dass jedes Wort für heute bedeutsam sei. Dass man umgekehrt die historisch bedingten Exerzitien mit heutigen theologischen Fragestellungen heillos überfordert. Dass man in der gegenwärtigen rationalen und funktionalen Lebensweise der Versuchung erliegt, das Verstehen der Exerzitien schon für die Erfahrung zu halten oder es an die Stelle der Erfahrung treten zu lassen. Dass man aus dem Verstehen eines vielleicht intellektuell konstruierten oder spirituell idealisierten „Prozesses“ vorschnell Maximen oder auch konkrete Entscheidungen für die Exerzitien-Praxis ableitet. Dass man generell die Theologie über- und die Erfahrung unterschätzt – oder umgekehrt.

Gott gibt zu denken – darum betreibt der Mensch Theologie. Spirituelle Theologie nimmt geistliche Erfahrung als Quelle theologischen Denkens ernst. Diese kurze Theologie der Exerzitien legt die von Ignatius von Loyola begründete spirituelle Praxis für heutiges Fragen theologisch aus. Ihr Blick geht auf Gottes Wirken an dem, der Exerzitien macht, auf seine Beziehung zu Gott und auf sein Tun für ihn.

1Nach dem klassischen lat. Diktum fides quaerens intellectum (Glaube, die Vernunft befragend).

2Als Einführung zu Ignatius und zum Exerzitienbuch: Stefan Kiechle (32020).

3Das Exerzitienbuch wird nach dem „Autographen“ zitiert, der ältesten, spanisch abgefassten Handschrift. Im vorl. Buch verweist eine eingeklammerte Zahl im Text immer auf die Randnummer des Exerzitienbuches. Übersetzung nach Peter Knauer, gelegentlich vom Verfasser verändert.

4Karl Rahner sagt in seinem Aufsatz „Die ignatianische Logik der existentiellen Erkenntnis bei Ignatius von Loyola“ von 1956, „die eigentliche Theologie der Exerzitien sei noch immer ein Desideratum“ (SW 10, 368 f.). Seither wurden dafür Bausteine zusammengetragen – auch dieses kurze Buch sei ein Baustein.

5Siehe das Literaturverzeichnis; auf Spanisch, Französisch und Englisch gibt es mehr Literatur als im Deutschen.

6Um die Kompliziertheit gendergerechter Sprache zu vermeiden, wechselt diese Theologie immer wieder zwischen weiblichen und männlichen Beispielen.

I.Geschaffen

Die erste Bewegung Gottes zum Menschen ist, dass er ihn erschaffen hat und ständig weiter erschafft. Ignatius beginnt den inhaltlichen Teil seines Buches ganz direkt: „Der Mensch ist geschaffen dazuhin …“ (23). Er beginnt also nicht wie die klassische Theologie mit einer Gotteserkenntnis oder -lehre, sondern er setzt beim Menschen an – deutet sich hier die anthropologische Wende der beginnenden Neuzeit an, nach welcher der Mensch Gott als Zentrum des Kosmos verdrängt? Im Text schließt sich an: „und die übrigen Dinge auf dem Angesicht der Erde …“: Eingebunden ist der Mensch in einen gewaltigen Kosmos, der „für ihn geschaffen“ (ebd.) ist. Dieser erste Abschnitt der Theologie der Exerzitien behandelt das „Prinzip und Fundament“ und einige Fragen zum Ganzen und zur Methode der Exerzitien.

1.Einzeln und gemeinsam

Die Seele. Ignatius spricht oft von „Seele“ (span. ánima) und meint mit diesem Wort zum einen den ganzen Menschen, zum anderen auch spezifischer und im Gegenüber zu „Leib“ den Menschen in seiner Innerlichkeit, Subjektivität, Persönlichkeit, Verantwortung.7 Die menschliche Seele ist offen für Gott, sie ist Gottes fähig: „… dass der Schöpfer und Herr selbst sich seiner frommen Seele mitteilt, indem er sie zu seiner Liebe und zu seinem Lobpreis umarmt (abrazándola) und sie auf den Weg einstellt, auf dem sie ihm fortan besser dienen kann“ (15). Hierbei ist immer Gott der Aktive, er stellt die – allerdings übende – Seele ein, seine Mitteilung zu empfangen. Dafür hilft der Seele, sich vom Alltag abzusondern: „Je mehr sich unsere Seele allein und abgesondert findet, umso geeigneter wird sie, sich ihrem Schöpfer und Herrn zu nähern und zu ihm zu kommen; und je mehr sie ihm so nahekommt, desto mehr stellt sie sich darauf ein, Gnaden und Gaben von seiner göttlichen und höchsten Güte zu empfangen“ (20). Mit der Tradition kennt Ignatius drei „Seelenkräfte“: Gedächtnis, Verstand und Willen8 – sie alle werden beim geistlichen Üben eingesetzt (z. B. 50; 264).9 Die Gottesbeziehung ist also nicht einseitig emotional oder umgekehrt rational bestimmt, sondern sie fordert den ganzen inneren Menschen in seiner Erkenntnis- und Liebesfähigkeit.

Der Leib. Entgegen dem Klischee, die Exerzitienspiritualität sei verkopft,10 zeigt der Text doch klar die leiblichen11 Anteile des Übens: Geistliches und leibliches Üben werden parallel gesetzt (1). Die Körperhaltung ist wichtig und frei wählbar (76). Immer wieder soll man „die Sinne anwenden“ (121 ff. u. a.). Überhaupt spielt sentir (in etwa „sinnlich spüren“) eine große Rolle, es meint eine Art leibliche Einsicht und Weisheit.12 Essen und Fasten, Licht und leibliche Bußübungen (79 ff., 210 ff. u. a.) werden reflektiert und aktiv eingesetzt.13 Zu Beginn jeder Übung soll man den Schauplatz aufbauen, das heißt mit den inneren Sinnen sich die Szene vorstellen und sie „spüren“ (91 u. a.). In der Unterscheidung der Geister haben die „Regungen“ einen eminent leiblichen Anteil (314 ff.).14

Im Tod wird die Seele vom Leib getrennt; nach der Auferstehung erscheint Christus wieder „in Leib und in Seele“ (219). Der Leib wird also wertgeschätzt und aktiv in das geistliche Üben einbezogen. Der Leib ist ein gleichsam geistliches Mittel, das hilft, den Menschen zu Gott zu führen. Die innige Verbindung und Einheit von Leib und Seele gehören wesentlich zur ignatianischen Schöpfungslehre und Anthropologie.

Gaben von oben. Der Mensch empfängt von Gott Gaben (dones). Mehrfach nennt Ignatius die Gaben zusammen mit Gnaden oder mit Gunsterweisen (gracias, mercedes15: 20, 74, 87, 275). Am Ende der Exerzitien lässt er die Exerzitantin betrachten (234), welche Wohltaten (beneficios) sie empfing: Schöpfung (creación), Erlösung (redención) und besondere Gaben (dones particulares). Mit dieser Aufzählung blickt sie nochmals dankend auf den Weg der Exerzitien zurück, in ihr entdeckt sie eine Steigerung, und ihre Gaben sind insofern „besondere“, als sie wie jeder Mensch individuell Begabungen, Talente, Erfahrungen, Chancen erhielt – mit „Gaben“ meint Ignatius wohl immer diese besonderen Gaben: jene gnadenhaft, also umsonst erhaltenen „Dinge“ (cosas, 23), die die Exerzitantin schätzen, genießen und in der Wahl ihres Lebensstandes für einen Dienst einsetzen soll. Schließlich soll sie ausdrücklich „schauen, wie alle Güter und Gaben von oben (de arríba) herabsteigen“ (237). Das „Von oben“ aller „besonderen Gaben“ ist das anthropologische Fundament für jene oft so bezeichnete ignatianische Mystik der Entscheidung und des Dienstes.16

Ziel der Schöpfung. Über das Warum und Wie des Erschaffens, auch des Menschen, schweigt Ignatius; es scheint ihm selbstverständlicher Ausfluss des Gutseins Gottes zu sein – immer wieder nennt er ihn direkt „Güte“ (bondad: 20, 52, 98, 151, 157 u. a.). Über das Woraufhin oder Wozu der Erschaffung des Menschen äußert er sich allerdings deutlich: „um Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Ehrfurcht zu erweisen und zu dienen und mittels dessen seine Seele zu retten“ (23).

# „Loben“ (alabar) meint, dass der Exerzitant ausdrücklich die Größe und Güte Gottes anerkennt und preist: mit Worten, in schweigender Anbetung, durch sein tätiges Leben.

# „Ehrfurcht“ (reverencia) meint die Erfahrung von etwas Größerem, dem der Mensch sowohl in staunender Nähe wie in scheuem Zurückweichen begegnet. Sie ist eine starke Präsenzerfahrung des Selbst und zugleich eine Transzendenzerfahrung: ein Überstieg auf den Anderen hin. Ehrfurcht zu Gott gibt Gott Ehre, also Respekt und Wertschätzung, ist aber auch Furcht, nicht als Angst vor Bedrohung, sondern eher als Scheu und Scham, ja Demut, also Anerkennen des Geringseins vor dem gewaltig Numinosen.17 „Ehrfurcht machen“ (so wörtlich: hacer) setzt den Menschen in die rechte Beziehung zu Gott, der größer ist als er, der vor ihm war und ihn geschaffen hat, der ihn stützt und führt und der ihn richtend-rettend zu sich holen wird.18

# „Die Seele retten“ (salvar su ánima) klingt nach Höllenangst: Nach dem Tod des Leibes müsse die jedenfalls sündige Seele, damit Gott sie nicht mit ewigen Qualen bestraft, irgendwie gerettet werden. Bei Ignatius mag zeitbedingt diese Vorstellung mitschwingen, und heute darf man getrost einiges von ihr beiseitelegen. Dennoch: Ohne göttliche Hilfe ist der Mensch von einem Tod bedroht, der irdisch endgültig ist. Jetzt in Gott geborgen zu sein gibt dem Menschen Trost und Zuversicht für dieses Leben und außerdem die Gewissheit, dass über den Tod hinaus sein Leben in Gott Vollendung finden wird – beides in einer, eben kontinuierlichen Bewegung. Ohne Jenseitszusage wäre irdisches Leben verzweifelt. Allerdings wird der Mensch sich nicht durch gute Taten selbst retten, sondern er wird sich „mittels“ (mediante esto) des Lobens Gottes und der Ehrfurcht ihm gegenüber so in die rechte Beziehung zu ihm hineinführen lassen, dass er diese als vor jeglichem Unheil rettend und als unverbrüchlich, damit als über den Tod hinaus beständig und in diesem Sinn als ewig erfährt.19

Individuell und sozial. Die Exerzitien sind zuerst auf den Einzelnen konzentriert: „Der Mensch …“, so beginnt der Text fast feierlich. Schweigend, also allein mit ihrem Gott, macht die Exerzitantin individuell angepasste Übungen. Für genau ihre, keine andere Sünde erbittet sie Vergebung. Sie will Christus lieben und ihm nachfolgen, sie lässt sich dazu persönlich rufen. Sie sucht in der Wahl ihre individuelle Gestalt der Berufung. Sie schaut auf den Gekreuzigten, der für sie gelitten hat, und auf den Auferstandenen, der ihr begegnet. Sie will in allem mehr lieben und dienen lernen. – Dieser ignatianische Individualismus springt sofort ins Auge. Jahrhundertelang wurde er fleißig gepflegt, auch zum Klischee ironisiert – ist er schon alles? Vermutlich ist die soziale Verwobenheit des Geschöpfes Mensch heute mehr bewusst als im 16. Jahrhundert, als das Individuum gerade entdeckt und daher wohl umso mehr betont wurde. Doch auch die Exerzitien haben viele soziale Anklänge: Sünden sind in hohem Maß soziale Sünden. Sakramente werden in der Kirche empfangen und von ihr gespendet. In die Nachfolge sind „Jünger“ – in der Mehrzahl, in Gemeinschaft – gerufen. Die Wahl zielt auf einen Dienst – an anderen. Sie ist eine kirchliche Wahl, mit eigenen Regeln und mit Verbindlichkeit. Am Ende steht die Übung, „um Liebe zu erlangen“ (230 ff.)20 – der für das Soziale sicher stärkste Text des Exerzitienbuchs: Liebe ist „Austausch (comunicación) von beiden Seiten her“ (231), also ein Geben und Empfangen, selbstverständlich in Beziehung, als gegenseitige Hilfe, mit Verantwortung. Als soziales Wesen, mit einem individuellen Weg, aber immer lebend in und aus Gemeinschaft, hingestreckt auf den anderen und sich einsetzend für den anderen, ist „der Mensch“ geschaffen und macht er Exerzitien.

Gott erschafft den Menschen, mit Seele und Leib, individuell und als soziales Wesen. Der Mensch soll sich Gott ehrfürchtig nähern und so in eine Beziehung zu ihm eintreten, die ihn trägt und rettet, auch über den Tod hinaus. Dazu empfängt er von Gott Gaben und Gnaden, die er genießen und aktiv für den Dienst nutzen soll. Im Austausch der Gaben wird er ein liebender Mensch.

7Vgl. DEI 121.

8„Wille“ (volundad) ist im klassischen Sprachgebrauch nicht wie heute die vor allem rationale Kraft, etwas anzustreben und durchzusetzen, sondern eher die emotionale, affektive Energie der Seele.

9Ausführlicher dazu Kiechle (1996) 352–355. Gegenüber dem rationaleren Thomismus erkennt Ignatius mit der augustinisch-franziskanischen Tradition eine gewisse Dominanz des Willens.

10Das war sie in ihrer jahrhundertelangen Praxis durchaus; ihr Leibbezug wird seit einigen Jahrzehnten wiederentdeckt.

11Das Spanische kennt für „Leib“ und „Körper“ nur ein Wort: cuerpo – hier mit „Leib“ übersetzt, denn gemeint ist nicht der biologische, gleichsam materielle Körper, sondern der lebendige, geistig offene Leib.

12Der italienische Philosoph Mario Perniola (2017) schreibt in seiner Studie zum katholischen Fühlen (ital. sentire), dass Ignatius, als im 16. Jh. die Kirche moralisch-spirituell heruntergekommen war, mit anderen das Fühlen oder Spüren wieder betonte: nicht eines der eigenen Innerlichkeit, sondern jenes der Welt – allerdings in Differenz zu ihr. So geschehe Unterscheidung der Geister. Dies sei katholisch, gegen alle spätere Rationalisierung und gegen allen Dogmatismus.

13Auch wenn hierbei manches zeitbedingt und nach heutigem Maß „leibfeindlich“ erscheint.

14Dass die „Seele in diesem verderblichen Leib eingekerkert“ sei (47), sind Reste einer alten, den Leib abwertenden Philosophie, die die christliche Spiritualität jahrhundertelang bestimmte. Bei Ignatius fließt sie teilweise noch ein, ist aber in anderen Texten und im Ganzen überwunden – diese Inkohärenzen spiegeln wohl den langen Redaktionsprozess des Exerzitienbuchs wider. Am Ende hat Ignatius wohl nicht alles, was er durch Erfahrung und Studium als überholt erkannt hatte, redaktionell eliminiert.

15Mercedes hat einen Zusammenhang zu Barmherzigkeit und erinnert an die „Gunsterweise“, die im Feudalismus ein hoher Herr seinen Untertanen gewährt: von oben nach unten und gratis.

16In den Briefen des Ignatius kommt das Motiv immer wieder; etwa schreibt er an Franz von Borja: „Wenn meine Gebete irgendeine Gunst erreichen, wird sie ganz von oben sein und von seiner göttlichen Güte herabsteigen“ (BU 104).

17Nach Charlotte Pauli (2016); die Autorin setzt die Ehrfurcht psychologisch in Bezug zum Narzissmus, wobei ein gesunder Narzissmus die Ehrfurcht fördert, ein krankhafter Narzissmus jedoch im Gegensatz zur Ehrfurcht steht und sie verhindert.

18Erasmus von Rotterdam ermahnt in seinem Enchiridion militis christiani – von Ignatius in seiner Studienzeit gelesen – den Ritter, seinen Ehrgeiz zu bekämpfen und allein Gott die Ehre zu geben; vgl. Erasmus (2015) 178–180.

19Span. salvación meint (irdische) Gesundheit und Heilung, aber auch (ewiges) Heil; salvar meint sowohl heilen als auch retten – zum sowohl irdischen als auch himmlischen Wohlergehen; vgl. Rainer Carls, Der Mensch als Geschöpf Gottes im Denken des Ignatius von Loyola, in: Gertler et al. (2006), 50–67, hier 62 f.

20Vgl. Kap. 23.

€13,99
Vanusepiirang:
0+
Objętość:
155 lk 9 illustratsiooni
ISBN:
9783429065454
Kustija:
Õiguste omanik:
Bookwire
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Selle raamatuga loetakse