Das verschleierte Tor

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Das verschleierte Tor
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Stefan Krauß

Das verschleierte Tor

Die Drachenflüsterer von Narull - Band 2

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Gedicht

Prolog

Namensgebung

Narull

Die Bibliothek

Der Befehl

Das verschleierte Tor

Die Tochter des Primus

Die Brut des Drachen

Der Verrat des Gelehrten

Der Drachenspiegel

Schtaraks Rache

Die Chronik der Drachen

Die Hüterin der Zukunft

Der Erfinder des Drachenkämpfers

Die Tochter des Königs

Der Drachenfelsen

Der Drachentöter

Die Geburt

Epilog

Impressum neobooks

Gedicht

Erde, darin brüte ich

Erde, darin lebe ich

Erde, die belausche ich

Erde, diese leitet mich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Feuer, darauf warte ich

Feuer, daraus schlüpfe ich

Feuer, heiß wie ein Vulkan

Feuer, damit kämpfe ich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Wasser, meine Glut entfacht

Wasser, löscht mein Feuer nicht

Wasser, das löscht meinen Durst

Wasser, zeigt mich fürchterlich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Kalten Stein, den hasse ich

Kalter Stein, der bindet mich

Kalter Stein, er schützet dich

Kalter Stein, drin tragt ihr mich

Erde, Feuer, Wasser, Stein,

Hanrek wird mein Schicksal sein.

Hüpfspiel für Kinder im Königreich

Prolog

Mit schnellen Schritten folgte Lucek dem Weg, der sich als dunkles Band zwischen den weiß verschneiten Bäumen im Park entlang schlängelte. Der Mond war schon aufgegangen und spendete dank des hellen Schnees so viel Licht, dass er keine Lampe brauchte. Sein Stock klickte bei jedem Auftreffen auf dem gefrorenen Boden des Weges. Obwohl es schon spät war und die Sonne schon untergegangen war, empfand er heute die Kälte als nicht so schlimm wie sonst. Es war heute für die Jahreszeit ein warmer Tag gewesen. Aber auch an so einem vergleichsweise milden Tag öffnete Lucek kaum ein Mal den Mantel. Die Narull gingen an so einem Tag ganz ohne Mantel aus dem Haus, aber Lucek, als jemand, der im Königreich geboren und aufgewachsen war, konnte darauf nicht verzichten.

Im Laufe der Zeit hatte Lucek die Bräuche und Denkweise der Menschen in Narull verstehen gelernt und er hatte erkannt, dass sie sich nicht wesentlich von denen der Menschen im Königreich unterschieden. Der größte Unterschied wurde durch das Wetter und die Kälte hervorgerufen, die jeden Tag und alles beeinflusste. Wenn Lucek an die Kälte dachte, fröstelte ihn. So auch jetzt. Eine kühle Windböe blies durch die Bäume. Hatte er tatsächlich die Kälte heute als nicht so schlimm empfunden?

Lucek zog im Gehen den Mantel enger um sich und krümmte sich etwas, um dem Wind weniger Angriffsfläche zu bieten. Dass er dabei den Kopf senkte, rettete ihm das Leben. Etwas surrte an Luceks linkem Ohr vorbei und blieb mit einem unverkennbaren Geräusch hinter ihm in einem Baum stecken. Ein Pfeil.

Lucek ließ sich augenblicklich fallen und rollte sich über seine rechte Schulter ab. Auf allen Vieren kroch er, so schnell er konnte, vom Weg herunter und suchte Schutz hinter einem Busch. Atemlos spähte Lucek nach allen Seiten, konnte aber nichts erkennen. Der Schuss musste von vorne gekommen sein. Er überlegte, ob er um Hilfe rufen sollte, aber er tat es nicht. Noch war der Schütze wahrscheinlich in der Nähe und wartete auf eine zweite Chance. Durch Hilferufe würde Lucek dem Attentäter verraten, wo er sich genau befand, vielleicht waren es sogar mehrere, die ihm aufgelauert hatten. Statt zu rufen, entfernte er sich vorsichtig weiter vom Weg. Vielleicht gelang es ihm, an den Attentäter heranzukommen und ihn gar unschädlich zu machen. Er musste es versuchen, sonst würden die Attentate nie aufhören. Wenn er den Attentäter zu fassen bekäme, konnte er über ihn an die Auftraggeber herankommen. Lucek wollte ihnen zeigen, dass es gefährlich war, ihm aufzulauern.

Seit vier Jahren war er nun Botschafter in Narull. Die Aufgabe, die er hier übernommen hatte, war schwerer, als er gedacht hatte. Pioras Vater, der Primus von Narull, war zwar der gewählte Erste unter den Fürsten des Landes, aber die Fürsten wollten sich nicht immer unterordnen. Demzufolge gab es viele Strömungen im Land und die Machtverhältnisse wechselten ständig. Lucek musste sich mit vielen Fürsten auseinandersetzen und oft genug benötigte er sein ganzes diplomatisches Geschick, um nicht für fremde Zwecke missbraucht zu werden und am Ende unter die Räder zu geraten.

Piora war als Tochter des Primus eine der begehrtesten Heiratskandidatinnen in Narull und als Pioras Lebensgefährten wurden Lucek Achtung und Aufmerksamkeit entgegengebracht. Er hatte einige Privilegien, aber er war auch ein Angriffspunkt für Neid, und das wiederum brachte einige Unannehmlichkeiten mit sich. Außerdem gab es etwas sehr beängstigendes. Es wurden Anschläge auf ihn verübt. Erst waren es nur Attacken auf sein Eigentum gewesen, man hatte sein geliebtes Pferd getötet, sein Haus war in Brand gesteckt worden, und nachdem er ein neues Haus bezogen hatte, war dort eingebrochen und alles verwüstet worden. All das waren Warnungen, die ihn ängstigen und zurück ins Königreich verjagen sollten, da war er sicher. Als er sich nicht hatte verjagen lassen, hatten einige Zeit später die Anschläge auf sein Leben begonnen. Bis gestern hatte er zwei davon bereits erfolgreich und mit viel Glück überlebt.

Piora und ihr Vater hatten alles versucht um herauszufinden, wer hinter den Anschlägen auf sein Leben und sein Eigentum steckte, aber es gab zu viele mögliche Auftraggeber. Und da Lucek nicht mit einer Leibgarde herumlaufen wollte, musste er in Kauf nehmen, dass er gefährlich lebte.

Vorsichtig begann Lucek einen weiten Bogen durch den Wald zu schlagen, der ihn, wie er hoffte, in den Rücken des Schützen brachte. Er hatte erst die Hälfte des Bogens hinter sich gebracht, als er vor sich in der Nähe des Weges eindeutige Kampfgeräusche hörte.

Etwas schneller aber weiterhin vorsichtig näherte er sich der Stelle, von der er die Geräusche hörte. Und tatsächlich, dort kämpften zwei Männer einen Kampf auf Leben und Tod. Sie rangen miteinander, wälzten sich im Schnee und kämpften um das gleiche Messer. Lucek war verwirrt. Wer waren die Männer? Wahrscheinlich war einer der beiden der Attentäter, aber wer war der andere? Hatte der zweite Mann den Attentäter zufällig dabei ertappt, wie er auf Lucek geschossen hatte? Nur welcher der beiden war der Attentäter, er würde dem anderen gerne helfen, aber wenn er dem Falschen half, was dann?

Lucek blieb weiter versteckt. Er würde abwarten müssen und dann den Sieger angreifen.

Plötzlich brach, nicht weit von der Stelle an der Lucek versteckt war, ein weiterer Mann aus dem Gebüsch. Er stürzte sich, in der Hand eine riesige Keule, auf die beiden Kämpfenden und hieb mit ihr auf den Kopf des einen Kämpfenden ein. Es gab einen dumpfen Schlag und der Getroffene sank bewusstlos auf den Boden.

Jetzt wo sie sich nicht mehr im Schnee wälzten, sah Lucek, dass der bewusstlose Mann riesig war. Lucek hoffte, dass er nur ohnmächtig war. Der Kämpfer, der mit dem Riesen um das Messer gerungen hatte, hatte lockiges Haar und im Gesicht eine große Hakennase. Der andere, der ihm zu Hilfe geeilt war, hatte glattes langes Haar. Sein Gesicht war mit einem Schnurrbart geschmückt. Beide waren in helle Mäntel gehüllt, sodass man sie vor dem Hintergrund des Schnees fast nicht ausmachen konnte. Nervös sicherten sie nach allen Seiten. Offensichtlich rechneten sie mit einem weiteren Angriff. Lucek rührte sich nicht.

 

Ganz außer Atem und in abgehackten Sätzen sagte der Lockige.

„Mann, das war knapp. Ein paar Mal hat er mich beinahe erwischt. Der hat Kraft wie ein Exzard. Warum hat das so lange gedauert?“

„Ich musste vorher die Gegend nach einem zweiten Attentäter absuchen.

„Und?“

„Ich habe keinen gefunden.“

„Was ist mit Lucek? Hat er überlebt?“

„Ich weiß es nicht. Ich hoffe es für uns. Wenn nicht, verarbeitet Piora uns zu Exzardenfutter und verfüttert uns an ihren neuen Liebling.“

„Und wie bekommen wir den Koloss jetzt zu der Stelle, an der Lucek zu Boden gegangen ist. Ich denke, es ist keine gute Idee, ihn hier liegen zu lassen. Und trennen sollten wir uns besser auch nicht.“

„Du hast recht, jetzt wo wir endlich einen dieser Schweine erwischt haben, darf er uns auf keinen Fall wieder entkommen.“

Während er das sagte, verschnürte er mit Stricken und wenigen geübten Griffen den überwältigten Attentäter, der noch nicht wieder zu sich gekommen war. Als er fertig war, hievte er ihn hoch und wuchtete ihn sich auf die Schulter. Ächzend und stöhnend machte er sich auf den Weg zu der Stelle, an der Lucek beinahe angeschossen worden war.

„Vielleicht nehmt ihr mich besser mit.“, sagte Lucek und trat dabei aus seinem Versteck.

Die beiden Männer wirbelten herum. Der Mann, der den Attentäter auf den Schultern getragen hatte, ließ seine Last ohne viel Federlesens von seiner Schulter gleiten, sodass diese mit einem ungesunden Krachen auf dem Boden aufschlug. Einen Bruchteil später standen beide Männer Lucek mit gezogenem Schwert gegenüber.

Es dauerte eine Sekunde, in der sich Lucek fragte, ob er einen Fehler gemacht hatte, aber dann senkten die beiden ihre Schwerter.

„Also hat er es überlebt. Unversehrt?“

Dies war eine Frage an Lucek.

„Ja, ich hatte Glück.“

Lucek ging zu dem Attentäter, der jetzt stöhnend auf dem Boden lag. Wahrscheinlich hatte ihn der Sturz wieder zu sich gebracht. Lucek stieß ihn mit dem Fuß an.

„Wer ist der Kerl, und wie kommt ihr dazu, ihn zu überwältigen?“, und dann, um es ihnen leichter zu machen, fügte er hinzu, „Ihr habt mich beschattet.“

Die beiden Männer schauten sich verlegen an, dann antwortete einer der beiden.

„Ähm. Ja. Oder besser gesagt, wir haben den Auftrag, dich vor solchen Anschlägen zu beschützen.“

Und der andere ergänzte.

„Heimlich. Du durftest es nicht erfahren.“

„Und was den Kerl betrifft, jetzt haben wir eine Chance etwas aus ihm herauszubringen.“

„Und Piora hat euch dazu den Auftrag gegeben?“, fragte Lucek in beleidigtem Tonfall. „Ich dachte, ich hätte ihr klar gemacht, dass ich keine Leibgarde will.“

Die beiden aus der Leibgarde, wie Lucek sie genannt hatte, schauten sich an.

„Was glaubt ihr, wie viele Mordanschläge ihr noch überlebt?“

„Hm.“, Lucek merkte, dass er gerade sehr undankbar war.

„Ihr habt recht. Vielen Dank, dass ihr den hier erwischt habt. Ich denke, wir gehen trotzdem zu der Stelle, an der auf mich geschossen wurde. Wir sollten den Pfeil mitnehmen.“

Kurze Zeit später zog der Mann mit dem Schnurrbart den Pfeil aus dem Baum und betrachtete ihn eingehend. Überrascht zeigte er ihn seinem Kumpanen, bevor sie ihn an Lucek weitergaben. Lucek erkannte sofort, was die beiden Männer so überrascht hatte. Der Pfeil war für die guten Flugeigenschaften wie üblich mit einer Gänsefeder im Schaft gefertigt worden. Doch diese Gänsefeder war nicht weiß sondern sie war von tiefem Schwarz. Außerdem verliefen um den Schaft drei rot markierte Einkerbungen.

Der lockige Leibgardist ging zu dem Mordbuben, zückte sein Messer, schlitzte ihm den rechten Ärmel auf und streifte ihn hoch. Auf seinem Unterarm fand er drei blutrote Streifen, die sich in kurzem Abstand wie Armreife um den Arm wanden. Mit einem Brummen kniete er sich neben den Assassinen. Mit einem kräftigen Druck auf die Wangen presste er ihm den Kiefer auseinander und blickte ihm in den Mund. Der Mann war jetzt wieder wach und versuchte sich dem schmerzhaften Griff zu entwinden, aber er hatte keine Chance. Mit hasserfüllten Augen starrte er den Leibgardisten an.

„Dieser Mann wird uns gar nichts erzählen, denn er ist stumm.“

Er hatte es bereits vermutet, aber jetzt hatte er Gewissheit. Die Zunge des Attentäters war herausgeschnitten worden.

...

Seine Beine trugen den braun gelockten kleinen Jungen den Berg hinauf wie noch nie zuvor in seinem Leben, denn er war sich der Wichtigkeit seines Auftrags bewusst. Sein Atem ging schwer keuchend und die Seite schmerzte ihn. Endlich gelangte er an den Weinberg mit seinen vielen langen grünen Reihen, die sich malerisch den Berg entlang zogen. Trotz seiner Schmerzen zwang er sich dazu, weiter an der Stirnseite des Weinbergs entlang zu laufen und er spähte dabei in jede der Reihen hinein. Dann endlich hatte er gefunden, was er suchte, und er blieb stehen. Sein Vater hatte sich bereits nach ihm umgedreht und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Papa, Papa, du musst schnell nach Hause kommen, das Kind kommt. Schnell.“

Hanrek ließ die Hacke fallen, mit der er zwischen den Weinstöcken gearbeitet hatte.

„Was sagst du? Wer hat das gesagt, Franzisko?“

„Mama hat es gesagt.“

Achtlos ließ Hanrek die Hacke und seinen Rucksack liegen und lief seinem Sohn entgegen.

„Warum hat sie dich nicht zu Leria geschickt? Die ist bei der Geburt viel wichtiger als ich.“

„Sie hat Finella hingeschickt.“

„Gut. Komm her, Franzisko. Wenn es richtig losgeht, werden wir Männer zwar meistens aus dem Haus geschickt, aber jetzt wird deine Mutter uns sicher brauchen.“

Kurze Zeit später kamen sie den Berg hinunter geeilt. Das verschlafene kleine Dorf, in das Hanrek mit seinem Sohn auf den Schultern lief, hieß Vartel und lag im westlichen Gebirge oberhalb der kleinen Stadt Ventef. Es hatte ein mildes Klima und der Wein wuchs dort sehr gut. Das Dorf lag außerdem günstig in der Nähe der Nord-Süd Verbindung, die den kalten Norden mit dem warmen Süden verband.

Das Haus, das Hanrek jetzt eilig betrat, war im Stil der Häuser im Norden des Königreichs gebaut, auch wenn es dadurch nicht zu den anderen Häusern im Dorf passte. Hanrek hatte es selbst gebaut, aber natürlich hatten ihm seine Nachbarn kräftig dabei geholfen. Sie waren skeptisch gewesen ob des ungewöhnlichen Baustils, aber das war ihm egal gewesen. Vom mit Steinen ausgelegten Fußboden führte eine Holztreppe zu den Schlafkammern und mit seinen dreckigen Stiefeln und polternd eilte Hanrek diese jetzt hinauf.

Miria lief barfuß in ihrem weißen Nachtgewand vor dem Bett auf und ab, hielt sich mit einer Hand den Bauch und mit der anderen Hand stützte sie sich am Bett ab. Man merkte ihr an, dass sie froh war, dass Hanrek gekommen war.

Hanrek lächelte Miria an und schloss sie liebevoll und vorsichtig in seine Arme. Einen Moment genossen die beiden die Umarmung, dann führte Hanrek seine schwerfällige Frau vorsichtig die Treppe hinunter und hinaus ins Freie. Er wollte prüfen, wie es dem ungeborenen Leben im Bauch seiner Frau ging und nach einem kurzen Moment sagte er zufrieden.

„Ja, du hast recht. Es kommt und es geht ihm gut.“

Sie lächelten sich glücklich an. Unterdessen schaute Franzisko neugierig zu seinen Eltern hinauf. Geistesabwesend streichelten ihm Miria und Hanrek über seine braunen Locken.

Hanrek hatte die Gabe, eine außergewöhnliche Fähigkeit, die ihm ermöglichte, zu erspüren, wie es den Lebewesen in seiner Umgebung ging. Genau das hatte er gerade bei Miria getan, und er hatte gespürt, dass die Geburt unmittelbar bevorstand.

Der Steinboden im Haus verhinderte aber, dass Hanrek die Gabe fließen lassen konnte. Flüsterer so nannten die Drachenkrieger aus dem Norden die Menschen, die über diesen zusätzlichen Wahrnehmungssinn verfügten. Auf Stein war er jedoch selbst bei einem so starken Flüsterer, wie Hanrek einer war, völlig nutzlos.

Nachdem Hanrek jetzt beruhigt war, führte er Miria vorsichtig wieder die Treppen hinauf in die Schlafkammer und danach gab es für ihn kein Halten mehr. Er drehte sich um und stürmte die Holztreppe wieder hinunter. Es gab viel zu tun.

***

Bis die Hebamme kam, hatte Hanrek sich die Hände sauber geschrubbt, er hatte Wasser auf dem Ofen erhitzt und die feinen weißen Leinentücher bereitgelegt.

„Hm.“ brummte die Hebamme Leria zufrieden, als sie sah, dass bereits alles vorbereitet war. Finella, Hanreks Tochter und die Zwillingsschwester von Franzisko hing ihr am Rockzipfel. Sie lief nun zu ihrem Vater hinüber und Hanrek nahm sie auf den Arm.

„Gut gemacht, Finella.“, lobte er sie und zur Hebamme gewandt, „Ich gehe mit den Kindern hinaus, bleibe aber in Hörweite, falls ich gebraucht werde. Es müsste eine problemlose Geburt werden, der Kopf des Jungen ist nicht sehr groß und er liegt in der richtigen Position.“

Der Kopf der Hebamme zuckte hoch und sie starrte ihn verdattert an. In barschem Ton antwortete sie ihm.

„Wohl ein Hellseher, was?“

Dann brummte sie schimpfend und hörbar vor sich hin von überklugen Männern, die taten, als wären sie Hebammen. Und dann zornig wieder zu Hanrek gewandt sagte sie.

„Wir werden sehen, was es für ein Kind wird. Wenn es ein Mädchen wird, ist es auch in Ordnung und hoffen wir, dass es diesmal eine einfachere Geburt wird. Ich glaube nicht, dass es diesmal wieder Zwillinge werden.“

Hanrek wusste, dass es keine Zwillinge waren, aber er hielt sich zurück. Die Hebamme wusste nichts von seiner Gabe und dabei wollte es Hanrek belassen. Stattdessen schnappte er sich Finella und Franzisko und ging mit ihnen hinaus und weiter zum Nachbarhaus, in dem Dresson sein treuer Freund wohnte.

Das Warten zehrte an Hanreks Nerven. Nervös ging er in Dressons Haus auf und ab, während Dresson liebevoll mit Finella und Franzisko spielte. Hoffentlich ging alles gut. Die Geburt der Zwillinge war schwer gewesen und eine furchtbare Tortur für Miria. Auch jetzt hörte man sie immer wieder schreien. Hanrek wollte nicht hinhören, denn jeder Schrei tat ihm körperlich weh, doch stattdessen spitzt er die Ohren, um den einen leisen erlösenden Schrei hören zu können. Und dann endlich kam der dünne Protestschrei eines neugeborenen Kindes aus seinem Haus. Die Geburt seines Sohnes war gelungen und sein Freund Dresson war der erste der vielen Gratulanten, die ihn überschwänglich beglückwünschten.

...

Die junge Dame, die vor der Tür nervös hin und her ging, war ungewöhnlich gut gekleidet. Das dunkelblaue Seidenkleid, das sie trug, war extra für sie geschneidert worden und hatte ein Vermögen gekostet. Die dazu passenden weichen Schuhe hatten exakt die gleiche Farbe. Die junge Dame war aber nicht nur gut gekleidet, sie sah auch sehr gut aus. Ihre langen blonden Haare fielen ihr in Locken über die Schulter und sie rahmten ihr leicht gebräuntes makelloses Gesicht ein. Ihre blauen Augen leuchteten daraus hervor wie Edelsteine in einem kostbaren Ring. Und da sie außer ihrer Schönheit auch noch sehr aufgeweckt und intelligent war, war sie für jeden jungen Mann im Königreich die begehrteste Partie, die man sich vorstellen konnte.

Aber all das würde Pilroos nicht vor dem Zorn ihres Vaters schützen, der immer dann über sie herein brach, wenn sie wieder einmal etwas angestellt hatte. Und sie hatte etwas angestellt.

Das blaue Kleid war ein Geschenk ihres Vaters gewesen und sie hatte es extra für das bevorstehende Gespräch angezogen, da sie festgestellt hatte, dass ihr Vater nachsichtiger mit ihr war, wenn sie gut gekleidet war.

Am Abend vorher war sie nicht so gut angezogen gewesen. Pilroos war in unscheinbarer Arbeiterkleidung, ihr auffälliges Haar unter einer Mütze versteckt aus der Burg in die Stadt geschlichen. Sie hatte einfach raus gemusst. Sie kam sich oft so eingesperrt vor. Seit man sie vor fast acht Jahren entführt hatte, gab es für ihren Vater fast nur ein einziges Ziel. Er wollte seine Tochter nicht noch einmal verlieren und daher war alles darauf ausgerichtet, Pilroos zu schützen und zu behüten. Es schnürte ihr die Luft ab.

 

Pilroos ging weiter auf und ab und wartete darauf, dass sie in das Amtszimmer ihres Vaters gerufen wurde. Ihre weichen Schuhe machten dabei auf dem schönen Holzboden fast keine Geräusche. Sie musste sich langsam eine Taktik ausdenken, um ihrem Vater den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vielleicht sollte sie in Tränen ausbrechen und ihm versprechen, dass sie es nie wieder tun würde, aber ob er ihr das glauben würde. Sie war nicht so gut im Lügen.

Sie könnte ihm aber auch von dem schönen cremefarbenen Stoff erzählen, den sie gestern Abend auf dem Markt gesehen hatte. Vielleicht würde ihr Vater sich ablenken lassen, wenn sie ihm beschreiben würde, was man daraus für ein schönes Kleid machen könnte. Aber es war ihr gestern Abend nicht um einen schönen Stoff gegangen, deshalb war sie nicht ausgebüxt. Im Gegenteil, Pilroos wollte endlich einmal dem geordneten bequemen Leben in der Burg mit seinen schönen Kleidern und dem ganzen Zeremoniell entkommen. Sie hatte eine Fleischrolle aus der Hand gegessen und Wasser direkt aus dem Brunnen getrunken. Sie hatte endlich einmal eine Gelegenheit gehabt unter normale Menschen zu kommen, statt behütet wie eine Prinzessin in der Burg zu sitzen. In den Straßen von Kiroloom wurde niemand verhätschelt. Wenn man nicht aufpasste, dann geriet man schnell unter die Räder eines Ochsenkarrens, und auf seine Geldbörse musste man auch sorgfältig aufpassen.

Nein, von dem cremefarbenen Stoff würde sie nicht anfangen. Eine andere Möglichkeit wäre über die Behandlung von Malte zu jammern. Er hatte sie gestern, nachdem er sie in der Schenke gefunden hatte nicht gerade zart behandelt. Ihr Arm schmerzte ihr immer noch von seinem harten Griff. Aber wahrscheinlich würden sie dann beide Ärger bekommen, sie fürs Ausreißen und Malte für sein rohes ungehobeltes Verhalten.

Pilroos seufzte. Am besten würde sie einfach ertragen, was immer der Zorn ihres Vaters auch für sie bedeuten würde.

Bei ihrer Wanderung vor der Tür des Amtszimmers beobachtete Malte Pilroos aufmerksam. Seine Augen folgten ihr bei jedem Schritt und seine Augen blickten nicht freundlich. Sein Blick war nervtötend. Pilroos hatte den Verdacht, dass er sie bewachte, damit sie sich nicht davon stahl.

„Schönes Kleid.“

Pilroos drehte sich zu dem ihr zugewiesenen Beschützer um. Malte war nur etwas größer als sie, dafür war er um so breiter und muskulöser und er hatte einen riesigen Brustkorb. Pilroos verglich ihn gerne mit den Hunden, die die Wächter der Burg gerne für ihre Rundgänge benutzten. Diese Hunde waren eher klein aber sehr breit gebaut und außerdem hatten sie ein eingedrücktes Gesicht. Auch das war eine Gemeinsamkeit, die die Hunde mit Malte hatten. Nur das Sabbern der Hunde passte nicht zu Malte, denn im Allgemeinen hatte er sehr gute Manieren. Er war jetzt das erste Mal aus der Rolle gefallen, seit sie ihn kannte. Seit gestern Abend war er jedoch rücksichtslos und respektlos zu ihr. Wahrscheinlich hatte sie mit ihrer Flucht aus der Burg nicht nur ihren Vater getroffen.

Im Moment lehnte Malte an der Wand zwischen zwei Fensternischen, doch er war alles andere als entspannte. Der Zorn ihres Vaters war eines, aber etwas anderes war es, wenn Malte sie respektlos behandelte. Wenn das zur Gewohnheit wurde, dann konnte er ihr das Leben ganz schön schwer machen. Sie musste die Verhältnisse wieder gerade rücken, ihm etwas klar machen und den Respekt einfordern, der ihr zustand. Sie neigte den Kopf und betrachtete Malte von oben bis unten. Dann sagte sie mit der süßesten Stimme, die ihr möglich war.

„Schöne Uniform.“

Malte schaute verdutzt.

„Und dein Säbel. Schön blank und wirklich schön.“

„Was soll das jetzt?“

„Was soll was? Ich dachte, wir tauschen Komplimente aus.“

Malte sagte nichts.

„Hör zu. Ich werde meinem Vater nichts darüber erzählen, dass du seine Tochter ziemlich grob behandelt hast.“

„Pah.“ Malte schüttelte den Kopf.

„Ich denke, das wird mein kleinstes Problem sein. Meines und das der zehn anderen Wachen, die du mit deiner Flucht in Misskredit gebracht hast und die morgen unehrenhaft entlassen werden.“

Pilroos blieb der Mund offen stehen.

„Unehrenhaft entlassen?“, fragte sie kleinlaut.

Malte sagte nichts. Sein Gesicht war jetzt wie eine Maske.

Einen Moment lang starrte Pilroos den Mann noch an. Dann drehte sie sich um und nahm ihre Wanderung wieder auf.

Unehrenhafte Entlassung. Was hatte sie nur getan? Schuldgefühle stiegen in ihr auf. Alle ihre Beschützer sollten dafür bestraft werden, dass sie die Burg verlassen hatte. Da war der lustige Fridek und der bärbeißige Zanto und all die anderen, die jetzt auf die Straße gesetzt werden würden.

Das war ungerecht. Das war sehr ungerecht. Warum würden sie dafür bestraft werden, dass Pilroos in der Burg die Decke auf den Kopf gefallen war? Ihr Schritt wurde aggressiver. Warum durfte sie nicht tun und lassen, was sie wollte? Sie war schließlich die Tochter des Königs und sie durfte weniger als die Tochter des Bäckermeisters, der jeden Morgen die süßen Kuchen in die Burg lieferte. Es war so ungerecht. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Unehrenhafte Entlassung.

Ohne dass sie es sich bewusst vorgenommen hatte, hatten ihre Schritte sie direkt zur Tür geführt. Kurz entschlossen klopfte sie energisch an der schweren Holztür und drückte die eiserne Türklinke herunter. Die Tür schwang auf und gab den Weg frei ins Amtszimmer des Königs. Der König saß an seinem Schreibtisch und ihm gegenüber saß ein wichtig aussehender Mann. Sie hatten ihr die Köpfe zugedreht und überraschte neugierige Blicke empfingen sie. Pilroos schloss die Tür hinter sich und ging mit entschlossenem Schritt weiter in das Zimmer hinein.

„Vater. Ich muss dringend mit dir reden.“

...

Ein kalter Wind pfiff vom steilen Gipfel hinunter in die grüne fruchtbare Ebene. Das war nichts Ungewöhnliches im nördlichen Teil des Königreichs, auch wenn es Sommer war. Ungewöhnlich war jedoch die Ruhe, die über dem Gipfel lag. Kein Vogel zwitscherte, keine Grille zirpte. Es herrschte angespannte Ruhe, wie die Ruhe vor einem heftigen Sturm. Ein Sturm stand bevor, doch kein Sturm, wie ihn diese Berge normalerweise erlebten mit orkanartigen Böen, Regen, Schnee oder Hagel.

Es begann mit einem leichten Zittern, das fast so sanft war wie der leichte Schlag eines Schmetterlings. Doch es blieb nicht bei diesem Zittern. Aus dem leichten Zittern wurde ein starkes Vibrieren und einen kurzen Moment später brach sich eine Explosion aus der Erde Bahn und schleuderte Asche und glühende Lava hoch hinaus in die Luft. Wie befreit von einem Korken floss angetrieben durch angestauten Druck die rot glühende Lava aus den Tiefen des Berges und ergoss sich über die Hänge. Erst floss sie schnell, da sie glühend heiß war, doch allmählich kühlte sie ab und bremste ihre ungestüme Fahrt den Berg hinunter. Schließlich wälzte sie sich nur noch wie eine mit einer dreckig schwarzen Kruste überzogene Zunge Schritt um Schritt vorwärts. Stunde um Stunde schob sie sich weiter ins Tal und überdeckte alles mit neuem heißem Gestein.