Loe raamatut: «Sperare Contra Spem», lehekülg 10

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2.3.2 Theologische Phänomenologie

Ein Grundsatz der Phänomenologie besagt, dass „nichts erscheint, ohne dass eine Form die Materie des Phänomens gestaltet.“424 Mit anderen Worten, ein Phänomen wird nur dann als Gestalt ansichtig, wenn und insofern es qua Denkform oder Begrifflichkeit der Vernunft zugänglich gemacht wird. In philosophischer Perspektive ist es das erkennende Subjekt, das eine solche Form, einer Intuition folgend, an das Objekt heranträgt. Hans Urs von Balthasar stellt nun heraus, dass im Unterschied zu allen weltlichen Phänomenen „die Offenbarung … nicht nur eine phänomenale Materie gibt, sondern ihr auch die sie begleitende Form und Bedeutung entspringt.“425 Wenn Balthasar davon spricht, Gott sei sein eigener Exeget426, so ist genau das gemeint. Die Form, mit der im Glauben die Materie gestaltet wird, kann nicht der menschlichen Intuition entspringen, „weil der Mensch kein Maßstab für Gott ist, und des Menschen Antwort kein Maßstab für das an ihn ergehende Wort.“427 Vielmehr werden Form und Maßstab der Selbstaussage Gottes von dem ergehenden Wort selbst mit hervorgebracht. „Für diese freie Selbstmitteilung haben wir das Wort Liebe. Dieses ist somit das einzige hermeneutische Prinzip für das Verständnis.“428 An dieser Stelle schon wird deutlich, dass Balthasar „dem Begriff Gestalt die letzte Ausweitung“429 zumutet, letztlich wiederum nur in analogem Sinn überhaupt von Gestalt sprechen kann.

Die Gestalt, die die vielfältigen Aspekte der göttlichen Selbstoffenbarung zu einer Sinntotalität zusammenschließt, ist nämlich die Gestalt des Lebenszeugnisses Jesu. Der Begriff der christlichen Gestalt meint also näherhin eine personale Gestalt, die es als solche zunächst einmal ähnlich wie eine menschliche Gestalt zu erfassen gilt. „Schon die Gesamtaussage eines rein menschlichen Lebens kann in keiner vereinzelten, noch so sorgfältigen und gewissenhaften Biographie erschöpfend dargestellt werden, sondern nur in der gegenseitigen Ergänzung verschiedener Perspektiven an die mehrdimensionale Lebensgestalt heran; umso mehr gilt dies … für den Fall der Lebensgestalt Jesu“430. Wie jede menschliche Gestalt, so erschließt sich auch die Gestalt Jesu nur mit Blick auf die wechselseitige Bezüglichkeit ihrer unterschiedlichen Dimensionen. Wird ein Moment isoliert gesehen, so gerät die Gestalt als solche aus dem Blick, und umgekehrt erschließt sich der Sinn jedes Aspekts ausschließlich von der Gesamtgestalt her. „Anspruch – Kreuz – Auferstehung sind ihre Artikulationen, die sich in einem strömenden Kreislauf gegenseitig fordern und beweisen.“431

Damit aber bricht in der Ähnlichkeit zugleich die wesentlich größere Unähnlichkeit auf. Jedes weltlich Seiende und somit auch jede menschliche Gestalt steht, so Balthasar, in der ontologischen Differenz und damit in der unaufhebbaren Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz. In der Anteilhabe am Sein selbst ist ihr grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, das eigene Dasein zu übersteigen und in den Dienst an einer höheren Gesamtidee zu stellen. Solches aber bedeutet notwendig immer eine Relativierung der eigenen Existenz. „Wir sahen große personale Gestalten sich so aufbauen, daß eine Existenz sich zum Moment einer übergeschichtlichen Inspiration hergab, dafür unterging und in der Polis der zu humanisierenden Welt ein zum Eschaton hin polarisierendes Zeichen aufrichtete. Ihr Zeichen bleibt tragisch“432.

In Jesus Christus nun ist diese Tragik erstmals, aber für alle Zeit, überwunden. Mit seinem Kreuzestod nimmt er die menschliche Tragik des Scheiterns an einer übergeordneten Idee in ihrer vollen Tragweite auf sich; aber er überwindet sie, „indem das absolute Zerbrechen aller innerweltlichen Erfüllung am Kreuz überholt wird durch die alles und gerade auch diese totale Tragik rechtfertigende Auferstehung aus den Toten.“433 Mit ihrer Auferweckung wird die tragische Person als identisch mit dem transzendenten Gesamtsinn ausgewiesen. Durch diese Bestätigung schließt sich die Figur Jesu zur absoluten und endgültigen Gestalt, die im Vergleich zu weltlichen Gestalten in keiner Weise durch andere begrenzt ist. Vielmehr ist „diese Gestalt … die überschwengliche Erfüllung aller früher umrissenen, die zu ihrer Gestaltwerdung ausdrücklich transzendente Bezugspunkte beanspruchten und bezogen“434. Jede jemals von Gott her ergangene Zusage und Offenbarung ebenso wie die vielfältigen Versuche menschlichen Zudenkens auf Gott hin konvergieren in diesem Einheitspunkt. „Um das unableitbare allerfreieste Faktum von Menschwerdung-Kreuz-Auferstehung des Sohnes ordnen sich konzentrisch nach theo-logischer Gesetzlichkeit alle Ereignisse der Heils- und Weltgeschichte“435. Das Lebenszeugnis Jesu Christi schließt diese Ereignisse zu einer Einheit zusammen und verleiht ihnen dergestalt Sinn. Mit anderen Worten: Er selbst ist die Offenbarungsgestalt.

Diese Gestalt mit den Augen des Glaubens wahrzunehmen und folgend theologisch zur Sprache zu bringen, ist nun das zentrale Anliegen balthasarscher Theologie. „Christus als Mittelpunkt und äußerster Horizont ist bei Balthasar ausdrückliches Programm, das sich durch sein gesamtes Werk vom Anfang bis zum Schluß durchzieht.“436 Ihre Umsetzung findet diese Kon-Zentration vor allem auf dem Weg einer methodologischen Christozentrik. In immer neuen, umkreisenden Denkbewegungen versucht Balthasar, sich der Gestalt Christi mehr und mehr anzunähern. „Wie wir eine Statue umschreiten und dabei unsern Standpunkt kontinuierlich wechseln, um sie ganz zu sehen, so umschreitet die Erkenntnis den Gegenstand in infinitesimal sich verschiebenden Erkenntnisphasen.“437

Nun ist aber die Gestalt Jesu Christi als Offenbarung des Wesens Gottes zugleich Offenbarung der Wahrheit alles weltlichen Seins. Deshalb sind von ihr her auch „die Hieroglyphen des Kosmos als Aussage Gottes zu deuten.“438 Nach Balthasar liegt in der Selbstaussage Gottes in der Gestalt Jesu Christi also die Erfüllung aller menschlich-inchoativen Antwortversuche auf die Grundfrage nach dem Sinn des Seins, in welchem geistigen Kontext und in welcher Formulierung sie auch immer zum Ausdruck kommen mögen. In seinem theologischen Entwurf entwickelt er daher eine Vorgehensweise, die er selbst als „Methode des Einfaltens“439 bezeichnet. In intensivster Auseinandersetzung mit der europäischen Geistesgeschichte ist er stets bemüht, möglichst viele Denktraditionen einzuholen und auf eine Einheit in Christus hin zu synthetisieren. Ziel ist also die Integration aller Wahrheitsmomente in ihrem durch Gott in freier Gnade ansichtig gemachten Konvergenzpunkt Jesus Christus.

2.3.3 Methode der Integration

Die Frage nach dem Sinn und also der Wahrheit des Seins, auf die der Mensch sich nach Balthasar unausweichlich verwiesen sieht, erhält ihre letzte, unüberbietbare Antwort in der Selbstaussage Gottes in Jesus Christus. Von diesem letzten Wort her, das in den drei Silben Leben, Tod und Auferstehung ergeht, wird das Sein Gottes als Liebe verstehbar.440 Gleichzeitig aber wird auch erkennbar, dass alles weltlich Seiende, indem es Anteil am Sein hat, zugleich auch an der Seinswahrheit partizipiert. Aus diesem Grund also, so von Balthasars logische Folgerung, ist davon auszugehen, dass im Bereich des Weltlichen echte Wahrheitsmomente liegen, die als solche der menschlichen Vernunft auch durchaus zugänglich sind. Die neben dem Christentum existierenden anderen weltanschaulichen Angebote sind dann aber zunächst einmal grundsätzlich im Sinne der altkirchlichen Lehre als logoi spermatikoi441 zu würdigen. Getreu der paulinischen Forderung: „Prüfet alles, das Gute behaltet“ (1 Tess 5,21) will Balthasar „die Berechtigung all dieser Ansprüche der Reihe nach prüfen und deren Anteil an Wahrheit als einen relativen anerkennen.“442 Kriterium ist dabei nicht zuletzt die Frage der Kompatibilität. Da die Wahrheit nur eine ist, können die Wahrheitsmomente untereinander schlechterdings nicht unvereinbar sein. Mehr noch: Es gilt jeweils aufzuweisen, dass und in welchem Sinne sie auf den Einheitspunkt hin konvergieren. „Es gibt keine fruchtbare Auseinandersetzung, die nicht irgendwo auch eine Ineinandersetzung wäre.“443

Dies gilt umso mehr, als jede weltliche Erkenntnis notwendig perspektivisch ist und bleibt. Wenngleich sich auch jede neue Untersuchung ihrer eigenen, unübersteigbaren Begrenztheit bewusst zu sein hat, so muss es nach Balthasar doch Ziel sein, möglichst viele Teilwahrheiten zusammenzufügen, um so eine immer umfassendere Sicht auf das Ganze zu bekommen. „Ein altes und beinah abgedroschenes Prinzip der Apologetik wird damit erneut aktualisiert: Recht hat, wer mehr sieht, mehr zu umgreifen vermag“444. Jede geistige Enge, jedes sich gegen andere Ansätze Abschotten lässt daher den Wahrheitsanspruch eines Denksystems in den Augen Balthasars fragwürdig erscheinen. „Gott führt in seiner Offenbarung eine Symphonie auf, von der man nicht sagen kann, was reicher ist: der einheitliche Einfall seiner Komposition oder das polyphone Orchester der Schöpfung, das er sich dafür bereitet hat“.445 Verständnis von Wahrheit ist daher nicht möglich, indem der Mensch versucht, einzelne Töne oder Instrumente heraus zu hören, sondern einzig im Lauschen auf das Zusammenspiel.446

„Gemäß dem auf Sein und Denken bezogenen Schriftwort: ‚Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes‘ [1 Kor 3,23], das als Leitmotiv des gesamten Denkens Balthasars anzusehen ist, besteht nun der Sendungsauftrag der christlichen Philosophie darin, alle Gedanken und philosophischen Entwürfe als Eigentum zu erkennen und in den Dienst Christi zu stellen.“447 In diesem Sinne entwickelt von Balthasar seine Theologie im ständigen Dialog mit den großen Gestalten der Theologie- und Geistesgeschichte. „Schriftsteller und Dichter, Philosophen und Mystiker, alte und moderne, Christen jeder Konfession: Er ruft sie alle, ihren Beitrag zu leisten, aus dem sich die katholische Symphonie zu einer immer leuchtenderen Verherrlichung Gottes aufbauen soll.“448 Er steht ebenso in regem Kontakt mit zeitgenössischen Denkern449, wie er das Studium der Geistesgeschichte betreibt.

Besondere Bedeutung kommt dabei der Theologie der Kirchenväter zu, die Balthasar auf heutige Fragen hin ganz neu fruchtbar zu machen sucht.450 Dabei geht es ihm keineswegs um die rein mechanische Übernahme von einmal Gedachtem. „Eine Wahrheit, die nur noch tradiert wird, ohne von Grund auf neu gedacht zu werden, hat ihre Lebenskraft eingebüßt.“451 Deshalb sieht er seine Aufgabe vor allem in der Transposition: „Altes bleibt nur jung, wenn es mit jüngster Kraft auf das noch Ältere, Immerzeitliche, die gegenwärtige Offenbarung Gottes bezogen wird.“452 Erklärtes Ziel dabei ist immer die Rückführung der Moderne in das Christliche.453 Was ihm dagegen nicht auf den von ihm erkannten Einheitspunkt hin in christliches Denken integrierbar erscheint, ist er auch bereit, in äußerster, oft polemischer Schärfe abzulehnen. Viele seiner Gesprächspartner dienen von Balthasar so als Kontrastfolie, vor der seine eigene Position sich umso klarer abhebt.

Um an dieser Stelle nun kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht Balthasar nie um den Entwurf eines in sich geschlossenen theologischen Systems. Ganz im Gegenteil, „ein Stachel gegen jedwedes Systemdenken durchzieht das ganze Werk Balthasars. Dieser Stachel gibt dem überaus geordneten und gegliederten Werk einen unsystematischen, ja einen antisystematischen Grundzug.“454 Theologie muss, so wurde schon mehrfach betont, Spiegel ihres Gegenstandes, der göttlichen Selbstoffenbarung sein. Balthasar wird nicht müde zu betonen, dass „der sich offenbarende Gott in all seinem Erscheinen souverän bleibt und der Herr seiner Erscheinung.“455 In der Gestalt Jesu Christi wird das Wesen Gottes als absolute Liebe ansichtig. Liebe aber ist notwendig ein Freiheits-Geschehen und als solches auf kein System und keinen Begriff rückführbar, wie sich mit Blick auf beide Wortteile gleichsam doppelt erweist. Zum einen entzieht sich Freiheit per definitionem der Festlegung; zum anderen aber ist die Ereignishaftigkeit der Liebe, ihr Tatcharakter nicht zu einem geschichtslosen System zu abstrahieren.456„Die ‚Gestalt‘ Jesu … ist (ergo) nicht anders fassbar, als indem man, auf das Fassen verzichtend, sie im Ungreifbaren des trinitarischen Mysteriums sich bergen läßt.“457 Jeder Versuch, dieses Mysteriums habhaft zu werden, ist nach Balthasar als Form besserwisserischen Bewältigungsdenkens zu verurteilen. Theologie kann dem gegenüber nie „etwas anderes sein als ein Verweis [im Verstehensversuch] auf das Eigentliche, das definitionsgemäß jeder begrifflichen Formulierung immer entgehen wird.“458

Der Einschub im Zitat weist bereits auf ein weiteres, wenn man so will gegenläufiges Missverständnis hin. Der Verzicht auf eine theologische Systematik bedeutet umgekehrt keineswegs, Balthasar erachte die christliche Offenbarung für irrational. „Dogmatik als ‚Logisierung‘ der Liebeskenosis Gottes“ gilt ihm durchaus als „möglich und für die Verkündigung sowie für die kirchliche kontemplative Reflexion notwendig, vorausgesetzt, daß das Liebesmysterium jene Mitte bleibt, auf die sie durch all ihre Begrifflichkeit verweist.“459 Es gibt nach balthasarscher Überzeugung also durchaus rationale theologische Erkenntnis, „aber ihr Gegenstand ist genau diese Liebe, die wesensgemäß, wenn sie erkannt wird, als das Übererkennbare erkannt wird“460. Die gnadenhaft gewährte Liebe ist auch nachträglich in keiner Weise von der Vernunft begreifbar, d. h. es lassen sich auch von der ergangenen Offenbarung her keine logischen Rückschlüsse auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit ziehen. „Si comprehenderis, non est Deus“, so Balthasars immer wieder mit den Worten des Augustinus formuliertes Credo.461

In diesem Sinne also, so kann man an dieser Stelle wohl zusammenfassend sagen, ist Hans Urs von Balthasar darum bemüht, „ein offenes und doch kohärentes Gesamtwerk zu entwerfen, in dem sich die Gesamtschau der Kultur mit einer solchen des christlichen Mysteriums verbindet.“462 Ich schließe mich daher Manfred Lochbrunner an, der vorschlägt, mit Blick auf die balthasarsche Theologie „von einer theologischen Summa zu sprechen. (…) Die Summa ist eine Synthese, aber kein geschlossenes, sich verabsolutierendes System.“463 Damit ist m. E. gleichermaßen das zentrale Anliegen Balthasars gewürdigt wie sein Werk zutreffend charakterisiert.

In den bisherigen Ausführungen ging es einstweilen nur darum, das theologische Programm Hans Urs von Balthasars in groben Linien zu umreißen. Dies geschah mit einem dreifachen Ziel. Erstens erscheint eine solche Einführung in die Spezifika seiner Denkgestalt gleichermaßen hilfreich für das Verständnis wie für die Einordnung seiner inhaltlichen Aussagen. Zweitens dient sie auch der Begründung für Aufbau und methodisches Vorgehen der vorliegenden Untersuchung. So dürfte deutlich geworden sein, dass eine Annäherung an Balthasars Perspektive auf die Frage der Hölle nicht in Form einer systematischen Analyse zu leisten sein wird. Der Weg wird vielmehr sein müssen, in seine umkreisenden Denkbewegungen einschwingend, die Kon-Zentrierungen nachzuvollziehen. Zuvor aber, und darin liegt die dritte Begründung für die vorhergehenden Darlegungen, gilt es, die Chancen und Grenzen, wie sie aus dem Theologieverständnis Hans Urs von Balthasars erwachsen, kritisch zu bedenken.

2.4 Reflexion

Hans Urs von Balthasar tritt wie gezeigt wurde an, das meta-physische Seinsdenken klassischer Theologie aus der Perspektive einer offenbarungstheologisch fundierten Meta-Anthropologie neu zu erschließen. Die zentrale Rückfrage an diese Konzeption wird sein müssen, ob überhaupt, und wenn ja in welchem Sinne, die Rekonstruktionen und Neuformulierungen klassischer philosophischer und theologischer Lehren geeignet sind, diese auf das heutige Denken hin zu öffnen und dergestalt anschlussfähig für den wissenschaftlichen Diskurs zu machen.

Gleichwohl steht in der Balthasar-Rezeption vielfach ein anderes Spezifikum seiner Theologie im Fokus des Interesses. Stein des Anstoßes ist häufig seine Grundüberzeugung von der Verwiesenheit der Theologie auf personale Gotteserfahrungen, zuhöchst auf mystische Sondererfahrungen, als Quelle der Erkenntnis. Vehement diskutiert, zum Teil sogar polemisch diskreditiert wurde und wird daher immer wieder seine Zusammenarbeit mit Adrienne von Speyr. Aus diesem Grund scheint es indiziert, der kritischen Auseinandersetzung der balthasarschen Denkform zunächst einige kurze Überlegungen zum Verhältnis von Genese und Geltung seiner theologischen Aussagen voranzustellen.

2.4.1 Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Mystik

„Balthasars Rekurs auf die mystischen Schriften Adrienne von Speyrs berührt ein Problem der theologischen Erkenntnislehre, das wohl noch keine zureichende Klärung gefunden hat.“464 Von Anfang an wurde die Zusammenarbeit beider von kirchlicher, aber auch von theologischer Seite als äußerst irritierend empfunden und mit Ratlosigkeit beobachtet, wenn nicht gar misstrauisch beargwöhnt. Der bis heute immer wieder erhobene Vorwurf lautet im Kern, Balthasar habe „zentrale Lehrstücke wie die Trinitätslehre und die Soteriologie auf der Basis von Privatoffenbarungen aufgebaut“465 und damit einer „neuen Erkenntnisquelle gegenüber den konstituierenden Erkenntnisquellen der klassischen Theologie den Vorrang“466 eingeräumt. Dabei sei festzustellen, dass in wesentlichen Fragen „die vorgeblichen Offenbarungen die Lehre der Kirche in ihr Gegenteil verkehren“467, weshalb „am Ende doch in zentralen Punkten seiner (= Balthasars; S. H.) Theologie, besonders jedoch in seiner Eschatologie, ein seltsames Missverhältnis zur Doktrin der katholischen Lehre besteht.“468 Vor allem traditionalistisch orientierte Autoren versuchen Balthasar dergestalt sein erkenntnistheortisches Fundament abzugraben und so einen ihrer Meinung nach „längst überfälligen Paradigmenwechsel in der Balthasarrezeption endlich ernsthaft anzugehen.“469 Balthasar gewogenere Theologen neigen dagegen vielfach dazu, in dem bereits zitierten Sinne470 eine künstliche Trennung zwischen den Werken Speyrs und Balthasars zu vollziehen, um sich dann scheinbar nur noch mit Balthasars eigener Theologie auseinander zu setzen.

Nun soll keineswegs geleugnet werden, dass Balthasar „mit der Aufnahme der Visionen von Adrienne als Quelle der Theologie … einen sehr problematischen Weg betreten“471 hat, wohl aber sei vor allzu starken Simplifizierungen in der Ablehnung der balthasarschen Theologie wie auch in Versuchen ihrer „Rettung“ gewarnt. Zunächst einmal gilt es, wie ich meine, klarzustellen, dass es sich bei Privatoffenbarungen nicht etwa um obskure Phänomene handelt, die im weitesten Sinne im Bereich des Psychologischen oder gar Pathologischen zu verorten wären. Die grundsätzliche Möglichkeit besonderer Offenbarungen ist vielmehr fester Bestandteil der christlichen Lehre. Eine grundsätzliche Absage an alles Mystische käme einer Leugnung der geschichtlichen Wirkmächtigkeit Gottes und damit des Charakters des Christentums als einer übernatürlichen geschichtlichen Offenbarungsreligion472 gleich. „Nach dem Zeugnis der Schrift ist jedenfalls soviel klar: Das Prophetische und Visionäre [im weitesten Sinn] ist aus der Geschichte des Christentums nicht wegzudenken.“473

Gleichwohl sind Privatoffenbarungen aber deutlich von der revelatio publica zu unterscheiden. „P. sind im Gegensatz zur allgemeinen, heilsnotwendigen und alle verpflichtenden … Offenbarung, die mit Christus und der Verkündigung der Apostel abgeschlossen ist …, an Einzelne ergehende übernatürliche göttliche Kundgebungen … und Mitteilungen verborgener Wahrheiten und Inhalte“474. Als solche sind sie weder Bestandteil des depositum fidei, noch sind sie als dessen Ergänzung oder Ausweitung zu begreifen.475 Daher besteht auch im Bezug auf eine kirchlich appobierte Privatoffenbarung keine Glaubenspflicht; sie ist nicht selber Glaubensgegenstand, sondern „eine Hilfe zum Glauben, und sie erweist sich als glaubwürdig gerade dadurch, dass sie mich auf die eine, öffentliche Offenbarung verweist.“476

Das heißt nun aber andersherum keineswegs, Privatoffenbarungen wären nur für diejenigen von Bedeutung, denen sie zuteil werden. „Der Begriff ‚privat‘ bedeutet in der Theologie nicht, daß etwas nur den Betroffenen angeht und alle anderen nicht. Es ist vielmehr ein Ausdruck für eine Rangstufe“477. Privatoffenbarungen sind der öffentlichen Offenbarung in dem Sinne untergeordnet, als sie im Dienst des immer tieferen Eindringens in die Fülle der in Jesus Christus erschlossenen Wahrheit stehen. Josef Ratzinger ordnet Privatoffenbarungen daher der theologischen Kategorie der Prophetie zu.478 „Dabei müssen wir bedenken, dass Prophetie im Sinn der Bibel nicht Wahrsagerei bedeutet, sondern Deutung von Gottes Willen für die Gegenwart, die auch den rechten Weg für die Zukunft zeigt.“479 Privatoffenbarungen kommt demnach primär die Rolle der Vergegenwärtigung der göttlichen Selbstaussage zu. Durch mystische Erfahrungen spricht nach diesem Verständnis Gott in eine konkrete zeitliche Situation hinein. Bedeutsam ist nicht die subjektive Erfahrung als solche, sondern ihr objektiver Gehalt in seiner intersubjektiven, kirchlichen Dimension.

Folgt man diesem Verständnis, so ist Theologie in ihrer Aufgabe, die göttliche Offenbarung für die jeweilige Zeit rational zu erschließen, unmittelbar auf die prophetische Mystik verwiesen. Ratzinger jedenfalls ist der Überzeugung, „man könnte bei allen wirklich großen theologischen Gestalten zeigen, daß neue theologische Aufbrüche nur dann ermöglicht werden, wenn zuerst ein prophetischer Durchbruch da ist. Solange man nur rational weiterarbeitet, kommt nichts wesentlich Neues.“480 Als ein Beispiel nennt er ausdrücklich den Einfluss der Einsichten Adrienne von Speyrs auf die Theologie Hans Urs von Balthasars.

Damit sind wir wieder vor die Frage gestellt, ob das balthasarsche Bekenntnis, wonach vieles in seinem Werk „im wesentlichen theologische Transkription des von ihr (= von Speyr; S. H.) unmittelbar Erkannten“481 ist, seine theologischen Einsichten per se in ein fragwürdiges Licht rücken. Dies ist, wie ich mit Blick auf den zumindest grob markierten theologischen Ort von Privatoffenbarungen meine, zu verneinen. Balthasar, wie auch Speyr selbst, begreifen ihre Doppelsendung ganz im Sinne der christlichen Mystik ausdrücklich als Dienst an der göttlichen Offenbarung für die kirchliche Gemeinschaft. Beide wissen sich einer „apriopi einstehenden Bereitschaft … (verpflichtet), deren Inhalt zunächst Indifferenz, sodann Gehorsam und völlige Durchlässigkeit für die christliche Botschaft des Wortes ist“482. Die subjektiven Erfahrungen von Speyrs stehen dabei wie Werkzeuge im Dienst der Durchgabe des objektiven Gehaltes, den von Balthasar als von Gott ganz neu eröffneten Zugang zu seiner Selbstaussage begreift und theologisch auszuwerten versucht.

Das bedeutet nun aber andersherum keineswegs eine Immunität der Theologie Balthasars. Dies zum einen deshalb nicht, weil, wie gesagt, keinerlei Glaubenspflicht mystischen Erfahrungen gegenüber besteht, und zum anderen, weil an jeden theologischen Entwurf ungeachtet seiner Genese dieselben wissenschaftlichen Maßstäbe anzulegen sind. Wie jede andere Theologie so ist auch die Balthasars daraufhin zu untersuchen, ob sie erstens dem Zeugnis der Schrift und zweitens den Regeln der Vernunft gemäß ist. Für die vorliegende Untersuchung heißt das, es gilt zu prüfen, ob seine Annäherungen an die Frage der Hölle und die ihm daraus erwachsende Perspektive einer universalen Hoffnung als theologisch-rational ausgewiesen werden können. Gelingt der Nachweis innerer Stringenz und Schlüssigkeit, so ist damit der Frage nach der ursprünglichen Intuition zu den Gedanken m. E. zumindest der Stachel genommen; die theologischen Aussagen hätten dann auch unabhängig von ihrer Wurzel im mystischen Erleben Bedeutung und Bestand.

Bevor aber endgültig der Einstieg in die inhaltlichen Fragestellungen zur Höllenthematik genommen werden kann, ist es unerlässlich, noch einmal auf die balthasarsche Denkform zurückzukommen, und sie einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Nicht zuletzt auch im Hinblick auf das im Schlussteil dieser Arbeit zumindest anvisierte interdisziplinäre Gespräch gilt es dabei insbesondere zu fragen, ob sie mit Notwendigkeit zu einer Gestalt führt, von der her der Anspruch eines theologischen Apriori vor jeder anderen Wissenschaft zu formulieren ist, oder ob sie nicht vielmehr Wege eröffnet, die der Theologie ein wesentlich anderes Selbstverständnis nahelegen.

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