Loe raamatut: «Der Clan vom Berg»

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Vorwort

Als Kind habe ich meine vielen Tanten und Onkel als eigenwillig, etwas ruppig und manchmal auch als ziemlich direkt wahrgenommen. Obwohl sie an diversen Orten im Wallis, in der Waadt, in der Deutschschweiz und sogar in Amerika lebten, traf ich sie häufig in dem von der Familie betriebenen Weinkeller an, in welchem mein Vater Alfons als Kellermeister arbeitete. Dort tranken sie ein Glas Wein und diskutierten mit Kundinnen und Kunden oder mit Mitgliedern der grossen Familie, wobei der Lärmpegel zu vorgerückter Stunde anstieg und die Diskussionen angeregter wurden. An Familienfesten sassen die Geschwister zusammen, gönnten sich ein paar Flaschen Wein und fingen ohne grosse Worte an zu lachen. Laut, ansteckend, salvenartig und nicht enden wollend. Etwas Unausgesprochenes verband sie miteinander, das wir Nachkommen nicht wirklich nachvollziehen konnten und weswegen wir uns etwas ausgeschlossen fühlten.

Ich möchte in diesem Buch den Ursachen dieser geschwisterlichen Verbundenheit auf den Grund gehen. Erzählt wird die Familiengeschichte meiner Grosseltern Oktavia Bayard-Marty und Jeremias Bayard und ihrer elf Kinder in den ersten 70 Jahren des letzten Jahrhunderts in Varen im Oberwallis. Als unabhängige Selbstversorger praktizierten sie das jahrhundertealte System der Stufenwirtschaft, wurden aber zunehmend mit den Auswirkungen von Industrialisierung und Modernisierung konfrontiert. Anhand der Kindheits- und Jugenderinnerungen meiner Tanten und Onkel soll die Alltags- und Sozialgeschichte des damaligen bäuerlichen Lebens wiedergegeben werden, wohlwissend, dass viele Walliser Familien zu jener Zeit unter ähnlichen Bedingungen lebten. In einem langsam erodierenden System von Agrarwirtschaft, Katholizismus und Clanwesen gingen die grossen gesellschaftlichen Veränderungen im Wallis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Erleichterungen im Arbeitsalltag, mit neuen Handlungsfreiheiten, aber auch mit veränderten Verantwortlichkeiten einher. Oktavia, Jeremias und die elf Kinder sind mit diesen Entwicklungen auf unterschiedliche Art und Weise umgegangen, wobei auch Faktoren wie Geschwisterreihenfolge oder Geschlecht eine Rolle spielten.

Grundlage dieses Buchs sind Gespräche, die ich in den letzten Jahren mit meinem Vater und seinen Geschwistern geführt habe. Da meine Tante Silvie leider schon verstorben ist, sprach ich stattdessen mit einem ihrer Söhne. Näheres zu Theodor, dem Bruder von Jeremias, erzählte mir dessen Tochter Steffi Dutli-Bayard. Falls nicht anderweitig erwähnt und zitiert, basieren alle Ausführungen auf diesen Interviews. Aus inhaltlichen Gründen ist die Reihenfolge der Kapitel nicht strikt chronologisch nach dem Geburtsjahr der Kinder. Die in den USA oder in der Westschweiz lebenden Geschwister wechselten während der Gespräche häufig zwischen dem Englischen beziehungsweise dem Französischen und dem Walliserdeutschen hin und her, was sich mittels eingefügter Begriffe in den entsprechenden Texten widerspiegelt. Auch wiedergegeben wird an gewissen Stellen eine sprachliche Eigenheit des Varner Dialekts, das Zusammenfallen von Akkusativ und Dativ bei Personalpronomen («Das war für mir wichtig»). Immer wieder werde ich von den Geschwistern direkt angesprochen. Darin spiegelt sich die Gesprächssituation, in der die Interviews stattgefunden haben. Einblicke in Oktavias Alltag boten zwei Haushaltsbüchlein, die sie vor beziehungsweise nach ihrer Hochzeit minutiös geführt hat. Die eingefügten Fotografien wurden häufig von den nach Amerika ausgewanderten Familienmitgliedern oder deren Nachkommen aufgenommen und zeigen eine externe Sichtweise. Auch Norberts Gotte, die Ordensschwester Paula, nahm bei ihren Besuchen in Varen und in der Weid, der Voralpe in der Nähe von Leukerbad, viele idyllische Bilder der Kinder vor Bergkulisse auf. Hierfür wurde meist das beste Sonntagsgewand hervorgeholt.

All diese Quellen sollen helfen, ein möglichst genaues Bild des Lebens in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts zu zeichnen. Zum besseren Verständnis der damaligen Situation im Wallis stütze ich mich zudem in einzelnen Kapiteln auf die Fachliteratur. Trotzdem ist das Buch nicht ein Spiegel der damaligen Realität. Im Mittelpunkt steht die subjektive Sicht der elf Geschwister auf ihre Kindheit und Jugend. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, die weit entfernt scheint, obwohl sie noch gar nicht so lange vergangen ist.

Inhalt

Prolog

An der Schwelle zur Moderne

Das Wallis im Wandel

Familiengründung

Oktavia zieht es in die Welt hinaus

Jeremias führt die Tradition fort

Ein eigenes Haus und viele Kinder

Familienleben

Hedy, *1927

Marie, *1929

Das Stufensystem – Varen, Bodmen, Weid, Varneralp

Blutküchlein mit Äpfeln und die beste Polenta der Welt

Franz, *1932

René, *1933

Silvie, 1934–2009, aus der Sicht eines Sohnes

Politik – die Schwarzen und die Gelben

Dauerbelastungen und ein Zusammenbruch

Arnold, *1943

Norbert, *1943

Alfons, *1941

«Du weisst nicht, wie das Fegefeuer ist»

Kein unbeschwerter Ruhestand

Anny, *1936

Markus, *1938

Erich, *1939

Blick in die Gegenwart

Epilog

Nachwort

Dank

Anmerkungen

Bildnachweis und Quellenangaben

Autorin

Prolog

Kurz vor ihrer Hochzeit mit Jeremias Bayard im Herbst 1926 begleitete Oktavia Marty ihre Schwägerin Josephine im Zug nach Le Havre an die nordfranzösische Küste. Josephine war die Frau von Oktavias Bruder Ignaz. Mit ihren vier Töchtern, die zwischen drei und zehn Jahre alt waren, wollte sie mit dem Schiff nach New York auswandern, wie Tausende von Walliserinnen und Wallisern in den Jahrzehnten zuvor.1 Ignaz hatte das Wallis bereits vor einem Jahr Richtung Amerika verlassen und holte nun die Familie nach. Ganz freiwillig war er damals nicht gegangen. Ignaz war draufgängerisch, ganz anders als seine Schwester Oktavia, ein Luftibus mit unzähligen Ideen, der vieles ausprobierte und das Abenteuer liebte. Die Martys, so hiess es im Oberwalliser Dorf Varen, seien gescheite und unternehmungslustige Leute. Bevor er auswanderte, arbeitete Ignaz als Schreiner und führte drei Bäckereien in Varen, Leuk und Leukerbad. Die Räder seiner Mühlen baute er selbst. Das Mühlenrad im Nachbardorf Salgesch diente ihm dafür als Modell. Er war auch der Erste in Varen, der ein Auto besass. Misswirtschaft sei es gewesen, die zu Schulden im Umfang von 10 000 Franken und zum Bankrott geführt haben soll. Deshalb wanderte er 1925 in die USA aus, liess sich auf Long Island bei New York nieder und fand eine Anstellung als Schreiner. Er konnte sich schnell etablieren und erhielt als erster Zahltag einen Dollar in Gold. Mit den Jahren baute er sich auf Long Island ein Schreinerunternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitenden auf und war zeitlebens einer der Einzigen, der in New York Wendeltreppen bauen konnte. Nach einem Jahr war er bereits so gut situiert, dass er einen Teil seiner Schulden zurückzahlen und Frau und Kinder nach Amerika nachholen konnte. Josephine fühlte sich jedoch nie wohl in den USA, war sehr eifersüchtig und lernte nie Englisch. Sie starb früh, geistig verwirrt.

Die damals 29-jährige Oktavia begleitete die Familie auf ihrer Reise nach Le Havre, denn die aus dem Saastal stammende und in Susten aufgewachsene Josephine hatte wenig Reiseerfahrung. Ganz im Gegensatz zu Oktavia, die aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit im Gastgewerbe mit häufigen Stellenwechseln schweizweit schon ziemlich herumgekommen war. Wie im Haushaltsbüchlein vermerkt, in dem Oktavia ab 1915 auf den Rappen genau und mit präziser Datumsangabe ihre Ein- und Ausgaben festhielt und dessen erste Seite sie mit «Spare in der Zeit, so hast du in der Not» überschrieb, kostete die Fahrt nach Le Havre und zurück 100 Franken. Auch einen Handkoffer für 65 Franken schaffte sie sich für die Reise an. Als das Schiff mit Josephine und den vier Kindern an Bord den Hafen von Le Havre Richtung New York verliess, stieg Oktavia wieder in den Zug und kehrte in die Schweiz, nach Varen, zurück. Sie trat die Rückreise nicht ohne eine gewisse Wehmut an, denn am liebsten wäre sie nach Amerika mitgefahren. Sie fühlte sich jedoch Jeremias Bayard verpflichtet, dem sie die Hochzeit versprochen hatte. Oktavias weiterer Lebensweg wäre wohl anders verlaufen, hätte sie sich zusammen mit ihrer Schwägerin auf den Weg über den Atlantik gemacht. Doch sie kehrte ins Wallis zurück, wurde Mutter von elf Kindern und führte zusammen mit ihrem Mann Jeremias ein Leben als Selbstversorger.

An der Schwelle zur Moderne

Das Wallis im Wandel

Varen befindet sich nahe der Sprachgrenze zwischen dem Ober- und dem Unterwallis, offiziell durch den Bach La Raspille getrennt, am Südhang des Tals auf 750 Metern über Meer. Ein Bergsturz in prähistorischer Zeit am rechten Rhoneufer formte den fast kahlen Hang mit steppenartiger Vegetation.2 Die Gegend ist geprägt durch ein südliches Klima mit sehr geringen Niederschlagsmengen. Das Dorf thront auf einer Terrasse oberhalb des Pfynwalds, einer der grössten zusammenhängenden Föhrenwälder der Alpen. Dort sucht sich die Rhone, umgangssprachlich auch «der Rotten» genannt, ihren Weg frei durch den Talboden. Die Kirche Maria Sieben Schmerzen befindet sich, abgesetzt vom Dorfkern, am südlichsten Punkt auf einem Felsvorsprung, von welchem der Hang rund 200 Höhenmeter gegen das Bahngeleise und den Rotten im Talgrund abfällt. Das 500-Seelen-Dorf3 war Anfang des letzten Jahrhunderts von Westen her über Salgesch erreichbar, wobei sich die Landstrasse durch Wiesen, Nussbäume und Weinberge den Hang hochschlängelte und die Sicht über die sanften Hügel des Mittelwallis bis ins Unterwallis freigab. Von Osten her führte der Weg von Susten im Talgrund über das oberhalb gelegene mittelalterliche Städtchen Leuk hinunter zur Dalabrücke mit dem Dalaturm aus dem 13. Jahrhundert. Die imposante Dalaschlucht im Rücken, stieg der Weg auf der anderen Seite zuerst steil, dann abflachend durch Wiesen und Weinberge hoch nach Varen.

Das Oberwallis war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein geografisch und sprachlich isoliertes Randgebiet. Im ausgesprochenen Agrarland mit als Selbstversorger lebenden Kleinbauern arbeiteten im Jahr 1888 79 Prozent (schweizerischer Durchschnitt: 40%) und im Jahr 1910 noch 61 Prozent der Bevölkerung (schweizerischer Durchschnitt: 29%) hauptberuflich in Landwirtschaft, Minen und Wald.4 Dabei verteilten sich die Landwirtschaftsbetriebe auf mehrere Talstufen und waren aufgrund der erbrechtlichen Realteilung, das heisst der gleichmässigen Aufteilung des Erbes auf die Kinder, in zahlreiche Parzellen aufgesplittet. So war ein Hektar Walliser Rebland im Jahr 1916 durchschnittlich in 38 Parzellen aufgeteilt.5 Die Industrialisierung fand im Vergleich zu anderen Schweizer Regionen relativ spät statt und war vor allem auf die Entsumpfung der Rhoneebene durch die erste Rhonekorrektion (1863–1894) und die Verbreitung der Eisenbahn zurückzuführen. Dabei war die Entwicklung in den Jahren nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Sitten – Brig (1878) zunächst eher zögerlich.6 Dies änderte sich in den 1890er-Jahren, als die Nutzung der Elektrizität der Industrie ungeahnte Energiequellen eröffnete und neue Investitionen in bisher eher peripheren Gebieten zur Folge hatte. So wurde im Jahr 1908 die Aluminiumhütte der Aluminium Industrie AG (AIAG, auch Alusuisse genannt) in Chippis bei Siders eröffnet. Im selben Jahr nahm das Chemiewerk Lonza in Visp seine Produktion auf. Obwohl eine zunehmende Anzahl Personen im Oberwallis in der Folge in den Fabriken arbeitete, gaben sie ihr bäuerliches Leben nicht auf. Als sogenannte Arbeiterbauern führten sie mit der Hilfe der Familienmitglieder den familiären Landwirtschaftsbetrieb fort, was für die Unternehmer den Vorteil hatte, dass die Löhne tief gehalten werden konnten.7 Das mit der Eröffnung des Simplontunnels (1906) und der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke Frutigen – Brig (1913) weiter vorstossende Eisenbahnnetz, das langsame Aufkommen des motorisierten Verkehrs und die besseren Strassenverbindungen – hier hinkte das Oberwallis bis zum Ersten Weltkrieg dem Unterwallis hinterher – führten weiter dazu, dass sich der seit Mitte der 1850er-Jahre aufkommende Fremdenverkehr deutlich verstärkte. Dies zeigte sich in einer Ausweitung des Angebots an Betten auch in den Seitentälern des Wallis. Bis weit ins 20. Jahrhundert waren Bauernkultur und Tourismus im Oberwallis jedoch zwei verschiedene Welten, die kaum miteinander in Kontakt kamen.8

Wie andere ländliche Gegenden der Schweiz war auch das Wallis stark vom Katholizismus geprägt. Auf nationaler Ebene war jedoch die Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorwiegend protestantisch-liberal dominiert und durch Technik und Industrie bestimmt.9 Die ländlichen, katholisch-konservativen Gebiete, die gesamtschweizerisch eine Minderheit darstellten, waren wirtschaftlich weitgehend von den durch Liberalismus und Protestantismus geprägten, dynamischen Industriezentren des Mittellands abhängig. So arbeiteten zum Beispiel viele Dienstboten und Mägde für das reformierte Stadtbürgertum. Es gab jedoch auch stärker industrialisierte katholisch-konservative Gebiete wie der Kanton Solothurn, der 1847 im Sonderbundskrieg eindeutig aufseiten der Liberalen stand.10 Auch der Kanton St. Gallen, wo sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Stickereiindustrie etablierte, war konfessionell gespalten.11 Da der liberale Staat 1848 gegen den Widerstand der katholisch-konservativen Minderheit gegründet worden war, betrachteten die liberalen Kreise die Katholiken aus den ländlichen Regionen als rückständige Vertreter des Christentums und als unzuverlässige Patrioten. Die Katholisch-Konservativen auf der anderen Seite fühlten sich im modernen Staat nicht wohl. Sie kapselten sich gegen aussen ab, sahen ihre Identität bedroht und standen dem industriellen Fortschritt und den mittelländischen Zentren misstrauisch gegenüber. Den sozialen Wandel, den die moderne Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auslöste, empfanden die Katholisch-Konservativen in den ländlichen Gebieten als fremdbestimmt. Auch gegenüber der liberalen Bildung verhielt sich ein Grossteil der katholischen Bevölkerung zurückhaltend. Die Bauern und Arbeiter hatten Angst, dass Bildung ihre Söhne und Töchter intellektuell und sozial den gewohnten Verhältnissen der Familie und des Dorfs entfremden würde.

Die katholischen Kirchenkreise reagierten defensiv auf die moderne Entwicklung, betonten die religiösen und ethischen Werte des eigenen Weltbilds und beschworen die vormodernen Gesellschaftsverhältnisse.12 Die Konfession erhielt damit einen wichtigen Stellenwert im Kampf gegen die andersdenkende Mehrheit. So versuchte die katholische Führung, ihre Gläubigen von den Bedrohungen der modernen Zeit so weit als möglich abzugrenzen und die kulturelle Identität des Katholizismus zu erhalten. Nach aussen wurden die Gläubigen in einem engmaschigen Netz von Kongregationen, Freizeitclubs und Vereinen abgeschirmt. Der gute Katholik besuchte katholische Schulen, nahm katholische Spitäler in Anspruch, war Mitglied katholischer Krankenversicherungen und katholischer Sparkassen und las katholische Tageszeitungen. Diese Abschottung hatte zur Folge, dass innerkatholische Unterschiede ausgeebnet und Spannungen zwischen den sozialen Schichten vermieden wurden. Sie verhinderte zum Beispiel die Abspaltung der katholisch organisierten linken Arbeiter und Angestellten in den industrialisierten Gebieten und kettete sie an den angestammten Bauern- und Gewerbeflügel in den ländlich geprägten Stammgebieten. Gegenüber den anderen beiden grossen politischen Subkulturen, dem Freisinn und der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden Sozialdemokratie, wurden die Interessen der Kirche durch den kirchen- und papsttreuen Flügel des Schweizer Katholizismus mit katholischen Volksorganisationen, Parteien und Vereinen vertreten. Die Katholisch-Konservative Partei nahm innerhalb des katholischen Organisationswesens die wichtigste Rolle ein, um die Leitvorstellungen der katholischen Weltanschauung in der Gesellschaft zu verbreiten. Dies gab den im Modernisierungsprozess zu kurz gekommenen Menschen und den wirtschaftlich zurückgebliebenen, katholisch geprägten Landregionen eine Stimme und führte sie an die Politik heran.13

Unter Einbezug der modernen Kommunikations- und der Transportmittel, die ihrerseits den sozialen Wandel vorantrieben, schuf der Katholizismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine organisierte katholische Massenreligiosität.14 Es entstanden neue Kultformen wie Andachten und Prozessionen, Wallfahrten und Heiligenfeste. Der Marienkult erlebte einen Aufschwung. Jegliches Verhalten gegen die geltenden Sitten wurde auf Fehlkonstruktionen der modernen Gesellschaft zurückgeführt.15 Die Geistlichen hielten die Gläubigen mit einem Moralismus, der mit Schuld, Fegefeuer, Hölle und Verdammnis drohte, in Schuldgefühlen gefangen. Sie intensivierten den Aufruf an die Familien und Schulen, die Heranwachsenden vor den sittlichen Gefahren der modernen Gesellschaft zu beschützen. So beinhalten die bischöflichen Hirtenbriefe der Schweiz, die in der Familie die erste und wichtigste Erziehungsinstitution sahen, zu jener Zeit vermehrt Gebote zu Enthaltsamkeit, sittlicher Kleidung, adäquater Lektüre und Gebet, was die Sorge vor weltlichen Vergnügen und dem zunehmenden Freizeitangebot der modernen Arbeitswelt zum Ausdruck brachte.16 Die Eltern sollten alles unternehmen, um die Kinder schon früh mit gutem Beispiel und durch Förderung der religiösen Erziehung im Glauben zu stärken. Die Bischöfe forderten vor allem die Mütter in vielen Schreiben auf, auf eine zurückhaltende Kleidung der Kinder zu achten und auch sich selbst ehrbar zu kleiden. So druckte der Walliser Bote im September 1930 das Mahnwort der Schweizer Bischöfe zum Bettag ab: «Die moderne Frauenmode entspricht dem christlichen Geiste vielfach nicht. Das Frauengewand soll reichen bis zum Hals, über die Knie und die Ellbogen. Durchsichtige Stoffe sind zu meiden. Diese Forderungen gelten allgemein. – Katholische Frauen, machet euch nicht zu Sklavinnen einer Mode, die nicht aus christlich gesinnten Kreisen stammt. Bedenkt die Verantwortung vor dem ewigen Richter, wenn ihr Ärgernisse ausstreut. ‹Wehe der Welt um der Ärgernisse willen›.»17 Bischof Bieler von Sitten konnte auch vielen Freizeitvergnügen wie Tanzen, Kino- und Theaterbesuchen nur Negatives abgewinnen, da diese die Gläubigen von der Sonntagsheiligung abhielten. «Wie viele Sünden», fragte er, «werden bei solchen nächtlichen Belustigungen begangen, wie manche Unschuld wird da zu Grabe getragen? [Man muss] die Beschlagnahme des Samstagabends […] geradezu teuflisch nennen.»18

Damit sich die katholischen Laien im öffentlichen Leben vermehrt in den Dienst der Kirche stellten, vereinigte Papst Pius XI. in den 1920er- und 1930er-Jahren alle katholischen Laienbewegungen unter dem Dach der «Katholischen Aktion». Damit wollte er ein Gegengewicht zu den damals sehr starken säkularen Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung schaffen. Wichtige Elemente der Laienbewegungen waren neben dem Kampf gegen die Kommunisten und die «Gottlosen» die Thematisierung von Fragen wie Keuschheit, negativer Einfluss der Filmindustrie und «Auswüchse» der Frauenmode.19 Auch im Ober- und Unterwallis wurden Zellen der «Katholischen Aktion» mit dem Ziel geschaffen, die möglichen kommunistischen Aktivitäten zu überwachen. Obwohl es damals im Wallis keine offizielle Kommunistische Partei gab, sah Bischof Bieler in der Zerstrittenheit der katholisch-konservativen Parteien in seinem Kanton eine grosse Gefahr, die es den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen erlauben würde, die Aufmerksamkeit der Bauern und Arbeiter auf sich zu lenken.20

In alpinen Regionen wie dem Wallis verbündete sich die katholische Kirche mit den Gemeinden als politischen Hauptakteuren, denn wesentliche Tätigkeiten der Landwirtschaft und der Viehzucht waren bis weit ins 20. Jahrhundert kollektiv organisiert und durch die Gemeinden kontrolliert.21 Dabei war die kirchliche Struktur in den Gemeinden meist nicht eindeutig von der politischen zu unterscheiden. Die Ausgaben für die Besoldung der Priester, den Unterhalt des Pfarrhauses oder für religiöse Feste gehörten zu den wichtigsten kommunalen Aufwendungen. Die katholischen Rituale sollten auch dazu dienen, Krankheiten oder Missernten fernzuhalten und den geregelten Ablauf der Jahreszeiten zu begleiten. Durch die Verbundenheit mit den autonomen Gemeinden, den Widerstand gegen die Reformbestrebungen der weltlichen Behörden und die Verhinderung der Bildung einer effektiven Zentralgewalt versuchte die katholische Kirche, ihre Macht und ihre Privilegien zu erhalten. Auf diese Weise trug sie dazu bei, erfolgreicher als anderswo die Grundstrukturen einer bäuerlichen und dezentralen, von den lokalen Organen kontrollierten Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

Der Rückstand der Katholiken und ihre Konzentrierung auf die ländlichen Gegenden änderten sich mit den Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs und dem enormen Wirtschaftsaufschwung der 1950er- und 1960er-Jahre. Das Wallis verzeichnete in den Jahren 1950 bis 1970 denn auch ein überdurchschnittliches industrielles Wachstum, während die Beschäftigung in der Landwirtschaft markant abnahm.22 Ein ausgesprochener Wohlstand breitete sich aus: Die meisten Schweizerinnen und Schweizer schafften sich bis in die 1970er-Jahre neben dem Auto ein Telefon und einen Fernsehapparat an.23 Dank Arbeitszeitverkürzungen verfügten die Menschen über immer mehr freie Zeit. Ferien wurden auch für die Arbeiter- und Angestelltenklasse erschwinglich. Der soziale Wohlfahrtsstaat wurde fortwährend ausgebaut. Nicht nur die öffentlichen Verkehrsmittel, sondern auch die private Motorisierung ermöglichten eine zunehmende Mobilität. Die aufkommende Freizeit- und Konsumgesellschaft führte dazu, dass der Sonntag vermehrt dazu genutzt wurde, Freizeitaktivitäten auszuüben und sich von der Arbeit zu erholen. Der Sonntag wurde verweltlicht und entglitt der Kontrolle der Kirche. Die Katholiken holten ihr wirtschaftliches Manko auf und gaben dabei grundlegende Werte der traditionellen katholischen Kultur auf. Die katholische Weltanschauung verlor ihren Absolutheitsanspruch. Die Modernisierung veränderte die hergebrachten Lebensweisen und die mit bäuerlichem Schaffen verbundenen Volksbräuche. Dabei kam es nicht plötzlich zu einer totalen Umkehrung der Werte, sondern zu einer Gleichzeitigkeit von Altem und Neuem. Während sich die technischen und wirtschaftlichen Lebensstrukturen rasch änderten, blieben die religiösen Volksbräuche eine Zeit lang weiterbestehen. So waren die Veränderungen der religiösen Praxis in den 1940er-Jahren zuerst unterschwellig, ab den 1960er-Jahren verliefen sie dann offensichtlich.